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Das Buch zu Jamaika

„Wir können nicht allen helfen“: Boris Palmers Versuch, die Gutmeinenden auszunüchtern

Als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sein Buch „Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“ vor der Bundespressekonferenz vorstellte, gab es im wesentlichen zwei Reaktionen.

Ein Teil des Publikums – vermutlich seine Leser – interessierte sich für die Erfahrungen eines Kommunalpolitikers, der wie alle seine Kollegen im Herbst 2015 und später Asylbewerber unterzubringen und praktische Probleme zu lösen hatte, also die Beschaffung von Wohnraum, Kindergarten- und Schulplätzen, der Konflikte zwischen Neuankömmlingen und Bürgern beruhigen musste.

Dass Deutschland nicht allen, die das wünschen, mit einer Ansiedlung helfen kann, dass Ressourcen und Geduld nirgends unbegrenzt zur Verfügung stehen: wer wollte das ernsthaft bestreiten? Zum Beispiel die zweite Gruppe von Palmers Publikum, Funktionäre der Grünen, die vermutlich nicht mehr gelesen hatten als Buchtitel und Klappentext, aber sofort nach Erscheinen des Bandes wussten, dass Palmer irrt. Grünen-Chefin Simone Peter fand, ihr Parteifreund spiele „rechten Hetzern in die Hände“, ein Argument, was schon die SED gern verwendete („dem Feind keine Munition liefern“). Über Katrin Göring Eckardt hieß es, sie kritisiere „die Thesen“ von Palmers Buch. Das Buch des Tübinger Bürgermeisters enthält allerdings keine Thesen. Es gibt sich strikt deskriptiv. Zum einen schildert er, wie er nach Merkels Grenzöffnung versucht, so viel Asylbewerber wie möglich in Wohnungen unterzubringen, Bauland auszuweisen und dabei  an die Grenzen des rechtlich möglichen zu gehen: „Wenn man Zeit und Geld hat, kann man solche Probleme lösen. Zeit hatten wir keine, aber es half ja nichts. Wir mussten die Planung komplett umstellen.“

Zum anderen denkt Palmer auf etlichen der 256 Seiten darüber nach, wie sich der ungeordnete Massenzuzug von überwiegend jungen Männern ordnen, das heißt, deutlich bremsen lässt. Dabei nimmt er die Verfassung zur Hand, das Asylrecht, Artikel 16, dessen erster Satz bekanntlich lautet: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Der Grünen-Politiker schreibt: „Gerade wer sich auf das Grundgesetz beruft, kann aber verlangen, es in der geltenden Fassung anzuwenden. (…) Und heute gibt es nach dem zitierten Absatz 1 eben einen Absatz 2 im Artikel 16 a des Grundgesetzes: ‚Auf Absatz  1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Konvention zum Schutz der Menschenrechte sichergestellt ist’.“

Außerdem rechnet er vor, dass 2016 nur 2 120 Menschen tatsächlich Asyl nach Verfassungslage erhielten, der Rest vorübergehend Schutz durch die Flüchtlingskonvention bekam, und weitere 40 Prozent abgelehnt wurden (ohne allerdings das Land deswegen auch zu verlassen). Palmer kommt also zum gleichen Schluss wie der Verfassungsrechtler Udo di Fabio: eine Asylpolitik, die die Grenzen der Belastbarkeit nicht dehnen und sprengen würde, wäre eine Politik nach dem Maß des Grundgesetzes.  Genau das verwirft Angela Merkel seit 2015 als „einfache Lösung“, die es ihrer Meinung nach nicht geben kann.  Die „Zeit“ notierte mißgelaunt über das Palmer-Werk: „Lösungsvorschläge bleibt er schuldig.“

Das stimmt zwar nicht. Aber aus Sicht von Peter, Göring-Eckardt und der „Zeit“ sind es eben die falschen. Der Grüne versucht, ihren Migrationsrausch auszunüchtern. Das nimmt man übel.

Palmer ist ein Exot in der grünen Partei: er vertritt keinen Flügel, sondern eine Bürgerschaft. Er muss keine so genannten Papiere vorlegen, sondern eine Verwaltung organisieren. Der 1972 geborene Politiker studierte Mathematik, er gehört also zu den ganz wenigen in seiner Truppe, die systemisch denken können und wissen, dass sich Fakten nicht nach Belieben wegwünschen lassen.

Sollte eine Jamaika-Koalition zustandekommen, dann säße jemand wie Palmer nicht im Kabinett, sondern wahrscheinlich die ehemalige Tanzlehrerin, abgebrochene Theologin  und Kirchentagspräsidentin Göring-Eckardt, deren Sinnspruch zur Migrationskrise bekanntlich lautet: „Nächstenliebe kennt keine Grenzen.“

Bestünden die Grünen wenigstens zur Hälfte aus Leuten wie dem Tübinger Lokalmatador, dann wäre der Eifer Merkels mit Sicherheit geringer, die Partei um fast jeden Preis als Koalitionspartner zu gewinnen.

Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und Grenzen der Belastbarkeit. Siedler Verlag

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Kommentare anzeigen (3)

  • Auch bei den Grünen scheint es Ausnahmen zu geben, aber sie sind dort so selten, wie Steine an der Wasseroberfläche.
    Denn die können nur vorhanden sein, wenn eine Basis sie stützt.
    Die Masse der Grünen schwimmt auf Gasblasen, wovon die meisten noch nicht mal ein drittel des wertes von Sauerstoff haben.

  • Danke für den Artikel. Wäre schön, wenn ihn einige zur Kenntnis nehmen und Schlüsse daraus ziehen würden, leider fürchte ich, dass für die nominell mit dem Protagonisten Verwandten ( farbmäßig) dies keine Option darstellt.
    Denn die haben ihre Meinung (z.B. dass die Frauenkirche nicht von den Briten zerstört wurde - so eine Führungspersönlichkeit derselben) und die ist maßgeblich , ganz egal was in Wirklichkeit geschieht.

  • Göring-Eckardts Nächstenliebe dürfte zumindest dort eine Grenze kennen, wo im neuen Bundestag die Sitzplätze der AfD beginnen. Man muss keine Mathematik studiert haben, um den Irrsinn der Grünen und der Regierung zu verstehen. Es genügt, den Verstand nicht verloren zu haben.

    Palmers Leistung ist es, seinen Verstand nicht der Ideologie unterzuordnen, vor dem 'Mainstream' nicht zu kuschen. Zu dieser Eigenschaft dürfte weniger sein Studium, sondern sein Vater, der 'Rebell vom Remstal' beigetragen zu haben.