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Schleicht euch!

Der schreibende Schweißer Wolfram Ackner über seine Krise während der Regierungsbildung

Welch ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zehn Wochen sind seit der Bundestagswahl vergangen, und noch immer ist keine stabile Mehrheitskoalition in Sicht. Überall auf dem Globus fragt man sich bang, ob es der Führerin der freien Welt, Dr. Angela Merkel, endlich gelingt, im eigenen Land eine kraftvolle Regierung zu schmieden. Europas Wirtschaft zittert, dass seine kraftvolle teutonische Zugmaschine ins Schlingern geraten könnte.

Die Menschheit sorgt sich, dass der Meeresspiegel hochgehen könnte wie Peter Altmaiers Cholesterinspiegel nach einem 10-Eier-Frühstück, wenn Germanien durch endlose Sondierungswirren als Schrittmacher im Kampf gegen den Klimawandel ausfällt.

Was einem sächsischen Industriearbeiter wie mir an dieser progressiven Hybris der heimischen Presse sauer aufstößt, ist der Umstand, dass wieder einmal nur das ganz ganz große Ganze zählt und negative Auswirkungen dieser wochenlangen Hängepartie (man ist ja nach Studium der Presse fast schon geneigt, von ‘politischen Wirren’ zu sprechen) auf die eigene Bevölkerung nur am Rande wahrgenommen werden. Auch hier in Leipzig leiden unschuldige, kleine Leute unter den Folgen dieser Daily-Sondierungs-Soap. Meine Kinder zum Beispiel.

Normalerweise bin ich auf der heimischen TV-Couch der typisch gemütliche Kaffee-Sachse. Und nun wurde uns Medienkonsumenten wochenlang auf allen Kanälen diese endlos vor sich hinquackernde, minütlich aktualisierte Echtzeit-Suppe der Jamaika-Sondierungen serviert. Mit ihren Zutaten aus Vermutungen, Andeutungen, Durchstechereien, wechselseitige Nickligkeiten, Twitter-Statements, den endlosen Bildern des huldvoll vom herrschaftlichen Balkon herunterwinkenden Politik-Hochadels.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, liebe Leser. Selbstverständlich war ich erleichtert, dass die FDP nicht mehr für möglich gehaltene staatsmännische Verantwortung zeigte und diese grüne Politsekte von der Macht fern hielt. Aber natürlich hat dieses mehrwöchige rund-um-die-Uhr-Spektakel auch in meinem Nervenkostüm Spuren hinterlassen. Und da rede ich ganz bestimmt nicht von der Länge der Aufführung, sondern von seiner Lautstärke. Ich meine, die Niederlande sind gerade eben 7 Monate ohne Regierung zurechtgekommen und verzeichneten in dieser Zeit das höchste Wirtschaftswachstum seit der Einführung des Euros.

Spanien hatte vor zwei Jahren für 315 Tage keine Regierung. Der spanische Premier Rajoy führte sein Land in dieser Zeit geschäftsführend, ohne Initiativen oder Gesetze einzubringen – und es lief nicht schlechter als vorher oder nachher. Wie sollte es auch anders sein, schließlich sind ja alle wirklich wichtigen Fragen „alternativlos“ wie zum Beispiel die weitere Vertiefung der europäischen Integration, oder, dass die westlichen, liberalen Gesellschaften nach Trumps Amtsantritt noch ‘besser, mutiger, fleißiger, innovativer, freier, offener, schwuler, multikultureller werden’ müssen, wie es der Chefredakteur der Tageszeitung WELT ausdrückte. Und wenn diese uns Bürger betreffenden existenziellen Fragen einmal nicht in die Kategorie ‘Vorwärts immer, rückwärts nimmer’ fallen, dann sind es eben quasi Naturgewalten, gegen die man als Regierung nicht ankommt. Beispielsweise kann die Regierung Merkel ihr Hoheitsgebiet nicht schützen und kontrollieren, weil man „die Menschen im 21. Jahrhundert der Digitalisierung nicht am überschreiten von Grenzen hindern kann“. Schließlich weiß jeder, dass Menschen im 21. Jahrhundert der Digitalisierung nicht wie früher über physische Grenzen einreisen, die man offen halten oder eben auch schließen kann, sondern dass sie im 21. Jahrhundert der Digitalisierung als Nullen und Einsen über Datenkabel zu uns kommen, und wenn ein Internet-Knotenpunkt geschlossen wird, weichen sie einfach über den nächsten aus. Und genau deswegen ist die Bedrohung durch Terrorangriffe einfach ein „Teil des Lebens in einer Großstadt.“ (Londons Bürgermeister Sadiq Khan). Außer vielleicht im rückständigen Osteuropa, wo die Digitalisierung des 21. Jahrhunderts noch nicht angekommen scheint, und in deren Großstädten deswegen die wichtigste Grundlage für islamistischen Terror fehlt.

Aber zurück zur Begründung, warum auch unsere Kinder unter den Sondierungswirren zu leiden haben. Wie schon erwähnt, bin ich normalerweise auf der heimischen TV-Couch der typisch gemütliche Kaffeesachse. Aber als nach dem Ende der Jamaika-Sondierung und der vorsichtigen Wiederannäherung der ehemaligen Arbeiterpartei SPD an die ehemalige Volkspartei CDU dann plötzlich Arbeiterführer Martin Schulz vor die Kameras trat und nach der Glyphosat-Zustimmung von Agrarminister Schmidt und dem (falschen) Bericht der BILD-Zeitung über ein SPD-Ja zu Sondierungsgesprächen mit seiner schneidigen Stimme von ‘Enttäuschung und Verrat’ sprach –  da wurde mir unwiderruflich klar, dass jetzt keineswegs wieder Ruhe einkehrt. Sondern dass das Berliner Hoftheater einfach nur in den nächsten Wochen das Theaterstück ‘No Woman, No Cry’ durch die Schmierenkomödie ‘Schulz & Sühne“ ersetzt, und ich diese verschissene Fernbedienung nicht finden konnte, weil die Kinder sie mal wieder verschlonzt hatten. Da war es geschehen: Ich ließ einen Brüller los, der sie in Tränen ausbrechen ließ.

„If the government would shut doors and sneak away for three weeks we´d never miss them.“ sagte Ronald Reagan schon 1975 in der ‘Tonight Show’ mit Johnny Carson.

Liebe zukünftige Regierung Merkel in-welcher-Konstellation-auch-immer – wir wissen, dass dies die Wahrheit ist und wir vermutlich auch sehr viel länger als drei Wochen ohne Regierung auskommen würden, solange die Verwaltungsebenen darunter funktionieren. Angesichts der Ereignisse in Deutschland seit Beginn der Griechenlandrettung wäre dies für mich sogar die Lösung, die ich bevorzugen würde. Echt, das wäre total okay für sehr viele Menschen in Deutschland. Beruft euch auf Reagan, zieht heimlich die Tür hinter euch zu und schleicht euch davon.

Bitte beachtet aber, dass Reagan von „davonschleichen“ gesprochen hat. Nicht vom Davontösen.

 

Wolfram Ackner: Wolfram Ackner, 47, nahm 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil, lebte einige Zeit als Punk und baute sich später eine Radikalexistenz als Schweißer, Familienvater und Hausbesitzer am Stadtrand von Leipzig auf. Ackner ist regelmäßiger Autor auf www.achgut.com.

Kommentare anzeigen (3)

  • Mal ganz ohne Scherz: Warum eigentlich nur Wochen oder Monate - warum nicht eine ganze Legislaturperiode ohne neue Gesetze oder Gesetzesänderungen? (Auch die anderen - neben der Regierung - Gesetzesinitiativberechtigten könnten sich ja auch mal zurückhalten.) Im Grunde ist doch alles geregelt - vielleicht nicht alles zum Besten, aber es gibt durchaus Grund zu Zweifeln, dass sich daran durch neue Gesetzesaktivitäten wesentliches ändert. Und nach vier Jahren könnte man dann das regeln, was sich als wirklich dringlich herausgestellt hat - und danach weitere vier Jahre abwarten. Und so weiter und so fort.
    Ich bin überzeugt, dass eine Vielzahl von Gesetzesinitiativen nur in Gang kommt, weil die Initiatoren ihr politisches Existenzrecht beweisen (vortäuschen) müssen.

    • Das sehe ich ganz genauso !!! Aber Wünsche werden wohl nicht erfüllt....
      Es wäre doch schön, wenn es mal nach dem alten Grundsatz gehen würde: Wenn der Chef nicht da ist, bestimmt der Stellvertreter, wenn der auch nicht da ist, bestimmt der gesunde Menschenverstand !

      ....und schön wäre auch, wenn sich mal IRGENDJEMAND für das deutsche Volk interessieren würde !!
      Ja, ja, Wunschträume !

  • Ich kann leider nicht ganz zustimmen. In der heutigen Zeit gibt es viel zu wenig zu lachen. Umso dringender wird daher eine Regierung benötigt. Nachts den Strom aus Sonnenenergie gewinnen... und an ruhigen Nebeltagen aus Windenergie... Mehr Fachkräfte durch mehr Analphabeten... Bekämpfung des Terrorismus durch Umsiedelung von Menschen aus den Heimatländern der Terroristen hierher... In Europa: Vielfalt stärken durch mehr Vereinheitlichung... Vorteile maximieren durch noch größere Geldverschenkungen... Kinderreichtum fördern (Steuerzahler von morgen!) durch Einführung der Ehe für Homosexuelle... Unzählig sind doch die humorigen Ideen, die ohne Regierung niemals zustandegekommen wären. Da kann man auch mal verschmerzen, wenn die Regierung gelegentlich (selten) Entscheidungen getroffen hat, die einen völlig ernsthaften Eindruck machen... etwa Verringerung des Spülungswasserverbrauchs durch Einführung von Unisextoiletten.

    Und dann das Personal! Eine grandiosere Ansammlung von Komikern habe ich noch nicht gesehen. Dieter Hildebrandt ist tot, einen Comedy Kanal gibt es nicht im TV... wenn jetzt auch noch die Regierung dichtmacht, dann sieht es doch ganz duster aus!

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