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Alternative Säulen

Der ARD-Journalist Georg Restle kämpft gegen den „Neutralitätswahn“ im Journalismus. In seiner Sendung „Monitor“ kommt er schon einmal gut damit voran

In dem WDR-eigenen Magazin „Print“ erklärte der Chef des ARD-Magazins „Monitor“ Georg Restle kürzlich seinen Kollegen und im Prinzip der gesamten Branche, was er unter „werteorientiertem Journalismus“ versteht.

Journalisten sollten sich endlich von ihrem „Neutralitätswahn“ verabschieden und „aufhören, nur abbilden zu wollen, ‚was ist’“.

Nun hielt sich die Zahl von Zuschauern und Mitjournalisten, die im WDR den gefährlichen Neutralitätswahn wüten sehen, von jeher in Grenzen. Gegen das Durchblickenlassen politischer Neigungen im Journalismus gäbe es auch wenig zu sagen, solange die Konsumenten ihrerseits frei der Neigung folgen können, dafür zu bezahlen, oder eben auch nicht. Aber abgesehen von dem speziellen Fall des gebührenbezahlten öffentlich-rechtlichen Journalismus – in Restles Praxis bei Monitor geht es nicht nur um Meinungen. Sondern einen Umgang mit Zahlen, der bei ihm offenbar auch in die Rubrik „werteorientiert“ fällt.

In den letzten zwei Wochen verwendeten dutzende Journalisten und Politiker das Argument, eine Kontrolle der deutschen Grenzen nach eigentlich herrschender Gesetzeslage sei unnötig oder zumindest nicht dringend, weil mittlerweile kaum noch Asylbewerber nach Deutschland kämen. Um das zu illustrieren, trat Restle kürzlich vor eine Grafik an der Studiowand, die den Eingang der Asyl-Erstanträge beim Bamf von 2013 bis 2018 in Säulendiagrammen darstellt. Tatsächlich verringerte sich die Zahl der Anträge seit 2016 deutlich; damals waren es 722 370, im Jahr 2017 198 317, von Januar bis Mai 2018 gingen 68 368 neue Anträge ein.

Nun ergeben sich die Probleme sehr vieler Gemeinden in Deutschland mit der Aufnahme neuer Migranten ja gerade dadurch, dass 2015 und 2016 sehr viele kamen – Deutschland nahm in den beiden Jahren mehr Asylbewerber in ein Verfahren auf als alle anderen EU-Länder zusammen. Für Bürgermeister, die nicht mehr wissen, woher sie noch weitere Unterkünfte organisieren und Schulplätze für offiziell als minderjährig gemeldete Migranten schaffen sollen, stellt deshalb auch die geringere Zuwanderung noch ein gewaltiges Problem dar – zumal immer noch weit weniger abgelehnte Migranten abgeschoben werden, als neue kommen. Außerdem betrifft die von Horst Seehofer gewünschte Abweisung an der Grenze ohnehin eine Gruppe von Migranten, die unter keinen Umständen in Deutschland asylberechtigt sind. Aber das nur nebenbei; der eigentlich interessante Punkt besteht in Restles Säulendiagramm selbst.

Es soll dem Zuschauer zeigen: die Migrationszahlen fallen nicht nur seit 2016, sondern sie sind 2018 eigentlich nicht mehr der Rede wert. Erstens – und das entgeht möglicherweise schon etlichen im TV-Publikum – vergleicht die Grafik Ganzjahreszahlen von 2013 bis 2017 mit den Zahlen der ersten fünf Monate 2018. Für eine sachliche Darstellung hätte Monitor Quartalszahlen vergleichen können – dann wäre aber die Kurve, die sich über die Säulen ziehen lässt, nicht derart stark abgefallen. Bei gleichbleibenden Migration, auf das Jahr hochgerechnet und ohne Familiennachzug dürften es übrigens in diesem Jahr etwa 150 000 Einwanderungen werden – was immer noch einer größeren Stadt entspricht und angesichts der Bildungsferne und des Sozialverhaltens der allermeisten Jungmänner-Migranten ein erhebliches Problem darstellt. Aber nun zum eigentlich interessanten Punkt der Grafik: Sie ist praktischerweise im Hintergrund gerastert, und die Zahl bis Mai 2018 – rund 70 000 – entspricht genau einer Kästchenhöhe. Das heißt: die links daneben liegende Zahl für 2017 – 198 317 – dürfte etwas weniger als drei Kästchen hoch sein, wenn die Proportion stimmen sollte. Tatsächlich misst sie ziemlich genau sechs Kästchen. Ebenso beim Höchststand von 2016: der Balken für die 722 370 Migranten müsste maßstabgerecht zwischen 10 und 11 Kästchen hoch sein. Auf Restles Grafik sind es deutlich über zwanzig. Im Vergleich zu dem Balken für 2018, der ja ganz klein wirken soll, sind die anderen Balken also mehr als doppelt zu hoch – beziehungsweise die Markierung für 2018 proportional viel zu klein. Es handelt sich um eine extrem gestauchte grafische Darstellung, die den Abfall der Asylbewerber-Zahlen viel dramatischer aussehen lässt, als es die Daten hergeben. Von den wenigen Sekunden der Darstellung am Bildschirm bleibt bei den meisten Monitor-Sehern vermutlich genau dieser manipulierter Eindruck – die scheinbar objektive Aussage, der Migrantenstrom wäre fast versiegt.

Abgesehen davon geht die Darstellung vorsätzlich an der eigentlichen Problemlage vorbei. Denn von den Migranten der vergangenen Jahre blieb ja der allergrößte Teil, unabhänging von ihrer Berechtigung nach Asylartikel 16 und der Flüchtlingskonvention. Bei der Migration handelt es sich um einen kumulativen Prozess. Und der sollte sinnvollerweise mit Säulen dargestellt werden, die den Bestand an Migranten symbolisieren. Die jeweilige Neueinwanderung eines Jahres müsste dann als farblich extra markierter Balken obenauf gesetzt werden, so, wie üblicherweise auch Schuldenstand und Neuverschuldung grafisch gezeigt werden. Damit würde deutlich: die Gesamtzahl der Migranten, die in das deutsche Asylsystem gekommen sind, wächst zwar seit 2016 wieder langsamer– aber sie wächst eben. Wäre es anders, gäbe es die dramatische Ressourcenknappheit in vielen Gemeinden nicht. Eine interessante Zusatzinformation hätte darin bestanden, noch die Zahl der nach dem Asylartikel  des Grundgesetzes als politisch verfolgt anerkannten Bewerber zu zeigen. Dieser Anteil lag 2016 beispielsweise bei 0,8 Prozent.

„Aufhören, nur abzubilden, was ist“ – an diesem Diktum sollte Restle konsequenterweise das „nur“ streichen.

 

 

 

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Kommentare anzeigen (38)

  • Abgesehen von den Manipulationen, die Sie aufdecken, kranken diese Grafiken ja noch an einer anderen Sache: Ginge es beispielsweise um eine Statistik für Grippeerkrankungen, wäre ein solcher Rückgang ja tatsächlich erfreulich, denn wenn die Grippewelle nicht viele Tote gefordert hat, so sind die Grippekranken des Jahres 2016 oder 2017 im Jahre 2018 ja wieder gesund. Würde man also alle Grippekranken der Jahre 2015 bis 2018 zusammenfassen, wären es wohl nur die des Jahres 2018. Die Asylbewerber der vergangenen Jahre sind aber immer noch da! Würde man eine Summe bilden, so sähe das Ergebnis gar nicht so „beruhigend“ aus.
    Oder (diesen plastischen Vergleich habe ich gelesen): Ein Mensch nimmt im Jahr 2015 15 kg zu, im Jahr darauf 14 kg, im Folgejahr 13 kg, und im Jahr 2018 nur 1 kg. Ein äußerst erfreulicher Rückgang! Nur wiegt der Mensch nun insgesamt 43 kg mehr ...

  • Als Restle seine Vision vom Deutungsjournalismus am 3. Juli auf Twitter postulierte, bekam er eine tolle Antwort vom Account @drbrandner:

    „Ich hätte ein bisschen Lektüre für Herrn Restle, da wird sein Standpunkt zu 100 Prozent bejaht und er kann sich freuen.“ Dazu der Link: Wörterbuch des sozialistischen Journalismus , Kapitel: Leitung und Planung einer journalistischen Institution. (S. 132)
    http://pressegeschichte.docupedia.de/images/c/ce/Das_W%C3%B6rterbuch_der_sozialistischen_Journalistik.pdf

    Brüskiert antwortet Restle: „Programmauftrag des WDR halten Sie für marxistisch-leninistische Ideologie? Und Sie sind wirklich Akademikerin?“

    Persönliche Anmerkung: Restle setzt damit sein Manifest mit dem Programmauftrag gleich, oder der WDR-Programmauftrag ist nun sein Manifest.

    Antwort der Dame: „Finden Sie es nicht ein wenig armselig, ad hominem zu argumentieren, werter Herr Restle? Eher sollten Sie die erschreckenden Ähnlichkeiten Ihrer Argumentation zum Wörterbuch der sozialistischen Journalistik zum Nachdenken anregen.“

    Da war Ruhe seitens Restle!

    Der Gleichmarsch von Politik und Gesinnungsjournalismus gerät aufgrund der Umfragewerte in Disharmonie. Die Politiker müssen reagieren, der Moloch ÖRR wird dagegen – milliardenschwer planwirtschaftlich zwangsfinanziert darf er von der Gesellschaft losgelöst weiter unbehelligt propagieren -, immer mehr zum politischen nicht legitimierten Akteur mit eigener Agenda; einer marxistisch-leninistischen Agenda.

    • Ich habe zu Ihrem Beitrag nur Zustimmung, sehe jedoch im letzten Satzteil einen Widerspruch in sich (oder wie man es sonst nennen mag): "...einer marxistisch-leninistischen Agenda" - diese "Berichterstattung" nützt allerdings dem gesamten politischen Klüngel der Etablierten nebst dieser Regierung und die ist beileibe nicht "marxistisch-leninistisch" (bis auf die Linken; da muss man aber auch zweifeln, wenn man "das" mal "gelernt" hat). Ich denke, hier sind wir uns einig. Es ist in den Äußerungen des Herrn Restle aber eines zu erkennen: Nämlich das bestimmte Methoden schamlosest angewendet werden, wenn man etwas "mit Gewalt" (nicht wörtlich zu nehmen) in Köpfe eintrichtern will, das so gar nicht dem Willen, den Interessen, den Forderungen der Allgemeinheit entspricht, sondern nur separaten Interessengruppen nützt. Allerdings kommt auch manchmal dadurch ein gegenteiliger Effekt zustande: Dann, wenn es maßlos übertrieben wird.

      • Hallo Herr Schröter,

        der Vorteil einer marxistisch-leninistischen Agenda ist der quasireligiöse Anspruch des Sozialismus; wir sind gut, weil wir bei unseren (Un)Taten an etwas Gutes denken. Unterm Strich beutet keine Ideologie die Gesellschaft - insbesondere den Arbeiter - mehr aus, als der Sozialismus. Wozu die moderne Forschung mittlerweile auch den Nationalsozialismus zählt; die Debatte zwischen Links und Rechts ist eine interne Auseinandersetzung des Sozialismus. Sie haben absolut recht mit Ihrem Hinweis auf die Profiteure. Die Forderung nach „Open Borders “ und schwachen Nationalstaaten ist ein Kernanliegen des Neoliberalismus. So protestieren selbst ernannte „Social Justice Warrior“ mit Geld aus der Kriegskasse der Neoliberalen gegen Grenzen und Protektionismus.

        Aber das Motiv all dieser Protagonisten ist Geld oder Macht, oder beides. Wer diese Ziele erreicht - ob Sozialist oder Neoliberaler – frönt dem Neofeudalismus; oder möchte zumindest zum Hofstaat gehören. Eine treffende Szene wie der deutsche Neoadel sich fühlt und präsentiert, war der Balkonauftritt bei den gescheiterten Kollationsverhandlungen letzten Jahres. Ober da wohnt bspw. ein Bescheidenheit predigender Pastor im Schloss Bellevue; und jetzt ein absolut überzeugter Sozialist. Hier mein absolutes Lieblingsbeispiel.

        Die Kurfürsten wählen 1308 Heinrich von Luxemburg zum König.
        https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Balduineum_Wahl_Heinrich_VII.jpg

        Hier verkündigen die Neokurfürsten dem Volk ihre Wahl.
        https://www.bz-berlin.de/data/uploads/multimedia/archive/00346/pressekonferenz-all_346362a-768x432.jpg

        Zählen Sie mal die Personen! Also, natürlich sind wir uns über die Profiteure dieser Agenda völlig einig.

  • Beim Erscheinen des Klötzchendiagramms ruft Karl-Friedrich: "Hilde, komm schnell, Sehtest im Fernsehen". Und Hilde rollt den Rollator schneller als sonst, denn der Sehtest ist kostenlos. Monitor arbeitet eben für seine Zielgruppe, die beim nächsten Mal wieder Adenauer wählt, weil der Kaiser schon tot ist.

  • Nicht der - leider gar nicht vorhandene - "Neutralitätswahn", den der mit Zwangsgeld gefütterte Herr Restle halluziniert, ist das Problem. Schließlich soll ein Journalist objektiv berichten und sich nicht mit der Sache gemeinmachen, selbst wenn sie es wert ist - das war mal ein Grundsatz. (Hanns Joachim Friedrichs)

    Das Problem ist der bei ihm erkennbare Wahn, jeden mit der von ihm, Restle, als richtig eingeschätzten Sicht der Dinge indoktrinieren zu müssen, koste es, was es wolle.

    "Werteorientiert" : ja da darf man als postfaktischer Journalist schon in die Trickkiste greifen, um nicht zu sagen : besonders dreist lügen.

  • Ziemlich alter Wein in neuen Schläuchen. "Werteorientierter Journalismus" ist umetikettierte Agitprop, nicht mehr und nicht weniger. Laut wikipedia ist dieser "Begriff (...) für Leninisten positiv geprägt", weshalb sich die Frage stellt, warum Restle nicht einfach zum altbewährten Terminus stehen mag. Für den hat er sich doch auch bisher nicht geschämt.

  • Auch interessant: die 173.072 in 2014 ergeben sogar einen höheren Balken als die 198.317 in 2017...
    Scheinbar ist die Unfähigkeit, mit großen Zahlen zu hantieren, nicht nur in der Bundesregierung weit verbreitet.

  • Die Grafik stimmt auch sonst nicht. Würde man die beiden Balken für 2013 (109580) und 2018 (1.Hälfte, 68368) aufeinanderstapeln, erhielte man einen Balken der "Länge" 177948= 109580 + 68368. Dieser wäre etwas länger als der Balken für 2014 (173073). Man sieht mit bloßem Auge, daß da was nicht stimmt: auch aufeinandergesetzt sind die Balken für 2013 und 2018 zusammen kürzer als derjenige für 2014.

    Vermutlich hat man sich bei dieser Grafik noch eines anderen üblichen Tricks bedient, um Balkendiagramme aussagekräftiger erscheinen zu lassen: Man schneidet vom gemeinsamen Sockel aller Balken ein gleiches Stück ab, stellt also nur den oberen Teil des gesamten Diagramms dar.

  • Das Runterrechnen von …. (Flüchtlingen, Zuwanderern, Migranten, Eroberern - whatever) über die Jahre erinnert an den Witz eines Trinkers.

    Er bestellt zuerst fünf Whiskeys, trinkt sie, dann vier, dann drei, dann zwei und zuletzt einen. "Merkwürdig", sagt er, "je weniger ich trinke, umso besoffener werde ich."

  • Das Säulendiagramm ist schlichtwegs falsch, "extrem gestaucht" ist da viel zu nett ausgedrückt. Ich frage mich, wie man es überhaupt fertig bringt, so ein falsches Diagramm zu erstellen? Das muss man doch merken! Herr Restle sollte seinen mir unerklärlichen Fehler in einem Monitor Beitrag berichtigen und sich entschuldigen. Oder will er mit dem "Neutralitätswahn" auch die wissenschaftliche Genauigkeit und Richtigkeit beseitigen?

    • Wie man es fertig bringt? Thomsen hat m.E.die richtige Vermutung. "Man schneidet vom gemeinsamen Sockel aller Balken ein gleiches Stück ab, stellt also nur den oberen Teil des gesamten Diagramms dar."

      Andere Methoden zum "Lügen mit Zahlen", so der Titel eines empfehlenswerten Buches von Prof. Gerd Bosbach, seien noch kurz erwähnt, obwohl sie HIER NICHT passen:

      Tortendiagramme in 3D-Ansicht. Da wirken die nach vorne gedrehten Tortenstücke größer, weil man den dicken Rand auch sieht.
      Auswahl des Intervalls der x-Achse. Eventuell war ja vor dem dargestellten Zeitraum ein Wert, der der Aussage widerspricht.
      Veränderungen und Ableitungen zeigen, also nicht die Zahlen, sondern ihre Veränderung oder Neigung. Dann wäre 2017 und 2018 ein negativer Wert (Rückgang) absolut oder prozentual zu zeigen. Das macht man gerne bei Firmengewinnen oder Wirtschaftswachstum, um es schon als dramatisch erscheinen zu lassen, wenn es nicht mehr so steigt wie davor.
      kumulative Häufigkeiten. Es ist z.B. ein Unterschied, ob man überhaupt schon mal bestohlen wurde, ob man im letzten Zeitraum (Monat, Jahr, jahrzehnt) bestohlen wurde und wie sich das von Zeitraum zu Zeitraum veränderte, und wie oft man innerhalb eines Zeitraums bestohlen wurde.
      Auf den hier vielleicht ähnlichen Aspekt, dass die Flüchtlingszahlen auch kumulativ als gestapelte Säulen darzustellen sind, wurde schon hingewiesen. Ich wende aber ein, dass aufgedeckte Mehrfachanmeldungen, Weiterwanderungen oder Abschiebungen dann auch mindernd hineingehören.

      Obwohl Prof. Bosbach mir durch gut besuchte aufklärerische Vorträge in der Erwachsenenbildung, vor allem über die demografische Entwickung und die Renten bekannt ist, gibt es immer wieder sogar im gleichen Milieu (Erwachsenenbildung) Versuche, die Leute mit den inzwischen durchschaubaren Tricks zu täuschen.