Von Archi W. Bechlenberg
11. April: Habe zwei Tage nichts eingetragen. Die Frage „Kann man bei Corona noch Tagebücher schreiben?“ treibt mich um. Bisher kein Ergebnis bzw. unentschieden. Die Gesamtlage nimmt derweil normale Züge an, bin wiederholt morgens im Bett aufgewacht. Auch der Zeitvertreib klappt. Ich denke mir Berufe wie „Kompostbote“, „Scheinbarkeeper“, „Traumausstatter“ oder „Slalombolschewist“ und dazu passende Tatorte aus.
12. April: Ostersonntag. Ich bleibe liegen und bastle Häschenwitze, verwerfe sie aber im Laufe des Tages, bis auf den mit Heidegger. Der Nachbar lacht immer noch, selbst wenn ich nicht an der Wand lausche. Auch leise Stimmen aus der Küche. Waschmaschine quatscht autoritär von rechts rein. Ich muss seltsame Wörter denken. Knickebein. Bisquitfüllung. Ovidukt. Grabbeigabe. Hab sie notiert, man weiß ja nicht, wozu es später mal gut ist.
Erinnerung an Demonstration 1983 in Bonn, zwei halbnackte Frauen im Cabrio. Auf ihren Brüsten stand: „DICKE HUPEN GEGEN PERSHINGS“. Erst jetzt fällt mir auf: So dick waren die Frauen gar nicht. Gehupt hatten sie auch nicht. „Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre lang weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Fruchtbarkeit ihres Inhalts“ (Stifter).
13. April: Erwache von der Frage „Wieso gibt es den Ostermontag?“ Selbst auf Barbados, Aruba, Fidschi und den Kaimaninseln. Beim Frühstück Fragen aus dem Bereich Kultur: „Wieso hat Mondrian nie einen Hasen oder wenigstens eine Würfelnatter gemalt?“ Beim zweiten Frühstück schwerwiegende Gedanken, die gut zum heutigen Kälteeinbruch passen. Nachbar weint seit 13 Uhr. Soll ich an der Wand lauschen? Noch verschiebe ich es. Wie lange? Ich lache mich abends in den Schlaf; erholsam. Später Tiefkühlkost.
14. April: Weiterhin kalt. Cognac könnte wärmen, das Büdchen hat aber zu. Was mag draußen vorgehen? Ich suche einen Vorwand, um nachzuschauen, werfe ein Bärchen aus dem Fenster und hole es gleich wieder hoch. Reue. Keine Erkenntnisse, sehe aber, dass meine Uhr durch den Ausflug nachgeht (Einstein, Zeit-Raum-Diskontinuum). Dicke Socken sind vonnöten! Noch lange nachgedacht, ergebnisoffen.
15. April: Alle reden von Mundschutzmasken. Beschließe, sie selber zu basteln und finde auf dem Dachboden eine Bugs Bunny Krawatte, Schere, Nadel, Faden, Licht. Frisch ans Werk. Dann Pflaster und Mullbinden. Tetanus? Wo ist der Impfpass? Muss ohne Maske und amtliches Impfpapier ins Bett. Unruhiger Schlaf nach dem Lesen des entsprechenden Wikipediaeintrags.
16. April: Ich lese zu viel. Aus Straußeneiern werden Lampenschirme gemacht, zudem prunkvolle, reichverzierte Trinkgefäße. Auch: „Kulturgeschichte barocker Schweizer Repräsentationswaffen unter besonderer Berücksichtigung des dritten Geschlechts“. Kaum zu glauben! Muss damit aufhören. Ich hole das Radio vom Dachboden. Im DLF gibt es eine Sendung zum Thema „Wieso ist gerade in dieser Zeit Qualitätsjournalismus so wichtig?“ Plötzlich laute Stimmen: Ray Charles und Stevie Wonder erörtern die Bedeutung von Indischgelb und Kadmiumgelb in der englischen Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts. Später Zwielicht und Whisky sowie Pantoffeln. Gedanke: Jetzt kann man sowohl abends als auch morgens im Hellen nach Hause kommen. Nein, könnte.
17. April: Surftag. Bild meldet, die Welt feiere das deutsche Krisenmanagement. Kein Wunder, beide Blätter gehören zu Springer. Auch denke man jetzt über „kontrollierte Durchseuchung“ nach. Was ist daran neu? Die gibt es seit langem und kostet 17,50 Euro im Monat. Jeden. Das Internet erweist sich als unergiebig. Bill Gates sei Satanist und wolle die Menschheit ausrotten. Unglaubwürdig. Windows ist schon Unheil genug. Ich greife zum E-Book. Kindle empfiehlt mir „Wenn Liebe nach Pralinen schmeckt“ sowie die Zeitschriften „Kicker“, „Karpfen“, „Astro Woche“, „Der Pilger“ und „Focus Ölpreis“. Da ist guter Rat teuer. Soll ich nebenan klingeln und fragen? Dort ist es seit gestern ominös bzw. numinös still. In der Nacht schleiche ich mich rauf zum Keller und sehe in der Mülltonne nach. Sie ist leer!
18. April: Der ist erst morgen. Ich werde Brunnen vergiften im Park.
20. April: Der Geburtstag von Marietta Slomka.
21. April: Im Industrieviertel wird wieder gearbeitet. Sprengsirenen, Detonationen. Sage zum Radio: „Hörst du? Sie spielen unser Lied.“
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"Nach Corona lässt kein Tagebuch sich mehr schreiben." (Theodor W. Covid) Sehr schön, Herr Bechlenberg. Danke für das Öffentlichmachen Ihrer intimsten Gedanken.
zur Namensaufzählung sollte der Gottlosenvertreter nicht fehlen, der an Stelle des Pfarrers passende oder unpassende Worte zur Trauerfeier findet.
Freundliche Grüße aus Leipzig
Gerald Wiemers
Die Volkskammerzofe hat auch noch nicht abgedankt.
Wunderbar! Eine Mischung von Pepys und Omas Mann.
Lachen ist gesund (ja, ja, Immanuel Kant); darum, werter Tagebuch-Verfasser, ist das Verschweigen des Heidegger-Witzes eine ganz gemeine seelische Grausamkeit! Und darum soll auch nicht verraten werden, was Carl Friedrich von Weizsäcker zu Heideggers Vortrag „Das Ding“ gesagt hat.
Die Frage nach Mondrian und dem nichtgemalten Hasen ist leichthin beantwortet: Sein Landsmann und künstlerisches Vorbild Hieronymus Bosch war einfach schneller (Der Garten der Lüste, rechtes Rechteck).
Für Mondrian blieben daher nur noch innovative Vorstudien zu Rubiks bunt zusammengewürfelten Rechtecken.
Für die Darstellung von Slalomwürfelschlangen fehlten Mondrian schlicht und einfach die technischen Hilfsmittel, wie zum Beispiel fraktale Kurvenlineale.
Dank für den Hinweis auf Marietta Slomkas Wiegenfest. Habe umgehend meinen Scheinbarkeeper konsultiert.
"Der Nachbar lacht immer noch, selbst wenn ich nicht an der Wand lausche. Auch leise Stimmen aus der Küche. Waschmaschine quatscht autoritär von rechts rein. Ich muss seltsame Wörter denken. Knickebein. Bisquitfüllung. Ovidukt. Grabbeigabe."
Einfach köstlich! Ganz nach meinem Geschmack, Herr Bechlenberg. Mehr davon, bitte, mehr davon.
Und wie es scheint, haben auch Sie eine besondere Schwäche für Bosch. Schon allein dafür lohnte sich ein Trip nach Madrid, oder? Ich kann und könnte stundenlang auf diese faszinierenden Bilder schauen. Was Nietzsche mit Worten bewirken konnte, vermochte Bosch mit seinen Bildern. Wahrlich, da braucht man keine Droge.