Von Archi W. Bechlenberg
22. April: Die Einträge kommen näher. Am Morgen werde ich von dezentem Klingeln geweckt. Es könnten die Müllmänner sein. Also öffne ich. Zwei Zeugen Jehovas stehen vor der Türe und wollen über Gott sprechen. Ich antworte mit meiner seit 1985 gültigen Scheuchformel: „Über oder mit?“
Ratlose Blicke. Bin übrigens seit 10. April unrasiert geblieben, der weiße Bart reicht mit bis ans Brustbein. Jedenfalls ist mir nach Gesellschaft beim Kaffee, also bitte ich herein. Die Z.J. vermuten vermutlich eine Falle und flüchten. Ich frühstücke alleine mit dem Katz und gebe ihm den Fettrand vom Knochenschinken, den ich sonst so gerne selber esse.
Jetzt bloß nicht noch Gichtprobleme.
Nachmittag Presseschau. Nichts als Katastrophen und Parataxen. Selbst das Horoskop auf der letzten Seite. Alles im Lande ist inzwischen knapp, Dosenfleisch, Zündschnüre, Hasskappen, Schleimbeutel. Nur Desinformationsmittel noch vorrätig laut Ministerium für Öffentlichkeitsarbeit und Faktencheck. Zum Abend hin sehe ich länger ins Treppenhaus, wage mich endlich sogar hinein. Wo ist auf der Kellertüre der Zettel mit den aktuellen Müllzeiten? Verschwunden. Kein Wunder, Aushangssperre. Esse zwei Kalauer mit mittelscharfem Senf. Neuen Markennamen für Bautzner Senf erdacht: Gelbes Elend.
Hungrig zu Bett. Nachts schlafe ich wiederholt.
23. April: Reformramadan nimmt Fahrt auf. Ich frühstücke gleich nach Sonnenaufgang und versuche, dem Katz Nuss-Nougat-Creme durch Einmassieren in die Vorderpfoten schmackhaft zu machen. Verächtliche Blicke geerntet. Bevor ich das vertiefen kann, läutet es draußen wieder Sturm. Zeugen, die es sich wg. Gott jetzt doch anders überlegt haben? Bzw. eine liebsame Überraschung? Nein. Vier ältere Herren in langen Kleidern stehen vor der Türe. Die Ballettschule sei ein paar Häuser weiter, will ich sagen, aber sie lassen mich nicht. Ob ich der und der sei, ob sie einmal reinkommen könnten, und ob ich am Posten eines Gegenpapstes interessiert sei. Corona würde eben alles ändern. Ich lasse Zögerlichkeit erkennen, was die Herren ganz hibbelig macht. Nun solle ich mich mal nicht so haben, es gäbe durchaus noch weitere qualifizierte Anwärter, meinen Nachbarn beispielsweise, der aber nicht aufmache. Also müsse ich jetzt mal flottflott zu einer Entscheidung kommen, man könne mir Nautilus II. oder Schlobotti XXVI. anbieten, außerdem ein erkleckliches Einkommen sowie eine mietfreie Wohnung in Avignon, und wer sich das entgehen ließe, sei ja wohl nicht ganz extra.
Ich bin dennoch nicht überzeugt.
Was denn so die Aufgaben eines Gegenpapstes seien, will ich wissen. Eventuelle negative Entwicklungen wie die, mit glühenden Zangen gezwackt und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, darüber wünsche ich Aufklärung, sonst unterschreibe ich nix. Außerdem: wie sieht es mit Sabbatical aus? Home office? Außerdem, logischerweise: Gibt es auch einen Gegengott? Die Herren sind sichtbar ungehalten, versichern mir aber, über das Gegenpapstwesen werde viel Unwahres erzählt. Die Work-Life-Balance sei besser als vielfach behauptet. Bertelsmannstudien würden das belegen. Ich bleibe bei meiner Bitte um Bedenkzeit, woraufhin die Herren die Röcke raffen und wortlos brabbelnd das Haus verlassen. Nehmen sogar den Montblanc-Füllfederhalter wieder mit, mit dem ich unterschreiben sollte. Chance verpasst? God only knows. Taue mir einen Hering auf. Dazu Essigschwamm.
24. April: Auf den Dachboden geklettert, Mandalas in den Staub gewischt. Auch berge ich dort oben eine große Kiste, von der ich seit gut 35 Jahren nicht weiß, was darin ist. Erstaunt entdecke ich nach dem Öffnen das handschriftliche Manuskript meiner Bosch-Biografie, jedenfalls die ersten 54 Seiten, die ich geschrieben hatte. Gleich nimmt mich das Gelesene wieder in Beschlag. Wie aktuell ist doch alles! Bosch, so hatte ich damals entdeckt, pinselte nicht einfach drauf los; seine Werke entstanden im Auftrag einer Geheimgesellschaft, der er selbst angehörte. Möglicherweise exklusiv. „Das erschließt sich sofort, wenn man seine Bilder rückwärts betrachtet“ (?) Opake Stelle. Lese trotzdem begeistert sämtliche Seiten, und beschließe beim Erreichen des abrupten Endes („andererseits mochte Bosch an langen Wochenenden am liebsten…“), das Werk bald zu Ende zu bringen, sobald ich die Engelstrompeten für einen Tee beisammenhabe.
Birne Helene sowie vier Kartoffelpuffer am Abend. Lese Anzeige in einer alten Berliner Zeitung vom Dachboden: „Weine am Savingyplatz“. Erinnerung, viele Tränen.
25. April: Kaffeewärmer aufgesetzt, vor dem Spiegel Gegenpapstgesten geübt. Katz schmeichelt sich an meiner Wade ein.
27. April. Reformramadan zum Dritten. Hungern, so lange noch die Augen geschlossen. Dann Fastenbrechen am Morgen, Eier Benedikt XVI. mit durchwachsenem Bacon anstelle von Schinken. Außerdem Palatschinken, falscher und echter Hase, dreierlei von der Zimtziege, Spinatwachtel, Quarktasche, Rabunkeln, Storch im Salat, Flambé vom Nuss-Nougat-Creme und Marillengeist. Früh ins Bett zum Fasten. Nachtgebet im Schlaf.
29. April: Gedanke beim Aufwachen: „Silvester wegen Corona abgesagt.“ Freilich, umgekehrt wäre es besser. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, nehme ich meine Ausgabe von Schopenhauers Standardwerk „Zweite, sehr verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage“ aus dem Jahre 1847 zur Hand. Gleich der erste Satz: „Wer das schreibt ist doof“ lässt mich stutzen. Es folgen unbeschreibliche Zeichnungen. Später aber die eigentliche Engführung: „Die Sonne schiene besser nachts, denn tagsüber ist es ohnedieß hell.“
Ich frage mich, ob die vatikanische Delegation noch in der Nähe ist. Genau da dringen aus der Nachbarwohnung heitere Stimmen sowie Gläserklong durch die Wand. Drücke ein Ohr in meine Abhörnische und lausche. „…auf gute Zusammenarbeit!“, „Stößchen“ und „Salute“ und „…ich nehme dann wohl Schlobotti…“ und „na klar Sabbatical, wir sind ein moderner Arbeitgeber“, „verzichten ist machbar, Herr Nachbar“ sowie „…insofern er den blinden Lebenswillen im Kampf ums Dasein ansieht…Muahahaha!“.
Danach konvulsivisches Weinen. Den Rest des Tages schaue ich mit geröteten Augen aus dem Fenster. Draußen essen jungen Menschen ohne Abstand zu halten Döner. Skateboards klackern die Bordsteinkante hoch und hinunter, die ersten Schwalben ziehen über den Abendhimmel, und ich erinnere mich, dass die Brustwarzen meiner ersten Freundin und nur ihre sich wie zwei nicht zu große und nicht zu kleine Stückchen Weingummi mit Riffelmuster anfühlten.
Das Wort „Wimpernpflicht“ springt mich an. Ich notiere es auf der sehr beschlagenen Fensterscheibe.
30. April: Schweden, Schweden, überall Schweden. Die Gazetten sind voll mit diesem Land. Freiwilliges Abstandhalten, so ein Quatsch. In Schweden kommen gerade einmal 23 Einwohner auf 1 Quadratkilometer, da müssen die Leute richtig eng zusammen rücken für 1,50 Meter Abstand. „Alter Schwede!“, war das nicht schon immer ein Fachausdruck für Leute, die ein bisschen riskant leben? „Schweden schweden jeden“, das wusste schon der Dichter der Schwedenhymne Ernst Jandlson. Suche ein Rezept für Schwedentrunk, werde bei Grimmelshausen fündig, habe aber die Zutaten nicht.
Aus der Nachbarwohnung dringt das Geräusch von gepackten Koffern. Ich brauche Ablenkung. Könnte auf die Straße gehen und so tun, als hätte ich einen triftigen Grund. Lege mich aber wieder hin und mache mir ein paar Kategorienunterschiede bis gegen 19 Uhr. Danach Waldorf & Statler-Salat mit Pumpernickel. Erwäge Sterben. Aber jetzt, in Coronazeiten, ist das was für Amateure.
Letzte Dinge. Dazu ein Glas Triebunterdrückung.
1. Mai, Tag der Arbeit: Im Treppenhaus begegne ich der Reinemachefrau. Sie hat sich einen Aufnehmer um den Kopf gewickelt und macht einen kompetenten Eindruck. „Einer steckt einen Anderen an!“ sagt sie mahnend und zeigt auf meine Nase. „Wenn aber jeder 1,2 ansteckt und von fünf Menschen steckt einer 2…“ Ich zitiere Lenin, der jetzt übrigens rasiert ist und bei den Tagesthemen Kommentare spricht: „Jede Zugehfrau muss in der Lage sein, den Staat zu regieren. Es kann keine Rückkehr zur Normalität geben“. Sie streicht sich verlegen über die Kittelschürze. „Aber Vorsicht, Sie stehen auf dünnem Eis!“ rufe ich noch und fliehe rasch zurück in die Wohnung. Für heute war das genug Außenkontakt. Wie wäre es jetzt mit einem Eis? Ich öffne den Kühlschrank. Stimmen und ein Nogger. ‚Nogger’ klingt übrigens latentrassistisch, ohne dass ich sagen könnte, wieso.
Es wird noch ein schöner Abend.
5. Mai: Heute etwa 75 Prozent der Lufthansaaktien erworben. Geschäftsidee: Ihr Name auf einer Boeing 777: 10 000 Euro. Später sehr bereut, typischer Frustkauf. Abends nur Danziger Goldwasser, um zu sparen.
6. Mai: Vom Eise befreit. Wir sind im Mai. Die Biografie von Fürst Pückler zu lesen begonnen. Als Reiseschriftsteller wäre er heute arbeitslos. Kaum jemand weiß, dass er die Fürst-Pückler-Schnitte gar nicht erfunden hat. Erwäge Buchreihe: Der große Faktencheck. ‚Der Bechlenberg’, das könnte sich einbürgern wie ‚Der Duden’. Wichtigste Punkte darin: Bismarck erfand entgegen der weit verbreiteten Verschwörungstheorie auch nicht den Bismarckhering, Helene nicht die Birne, Esterházy erfand überhaupt nichts, Pommeranzen stammen nicht aus Pommern, Kalauer nicht aus Calau, Lattenrost ist keine Geschlechtskrankheit bei Senioren, und der minderjährige Gegenpapst Cloderig XVIII wurde 1325 nicht von seinem Nebenbuhler mit der Dochtschere entmannt, auch, wenn es in diversen Vatikanpapieren so steht. Herkömmlichen Faktencheckern fiel das bisher noch nicht auf, wahrscheinlich, weil sie gerade nachweisen müssen, dass hochgezogene Häkelschals nicht gegen bzw. für Corona helfen oder umgekehrt, aber nur, wenn sie dann abgekocht und sofort weggeworfen werden.
Vor Sonnenuntergang frugales Mahl, Kaiserschmarrn mit Moncheri. In der Nacht träume ich von einem Gründungskomitee und einzelnen Buhrufen.
8. Mai: Lärm beim Nachbarn. Telefoniert laut mit der Polizei. Klerikalen Betrügern aufgesessen, 10 000 Ocken futsch. „Fischerring noch nicht mal vergoldet.“ Reisen nach Frankreich sowieso nicht möglich.
Pfeife „Sur le pont d’Avignon“, um zu trösten. Alle meine Lebensgefährtinnen sagen, dass Zuhören schon immer meine Stärke war. Vision: 2021 fällt wg. Corona aus, es geht gleich mit 22 weiter. Essen bis zum Sonnenuntergang, der jetzt immer später kommt. Reformramadan eignet sich nicht für jeden. Auch nicht für jede Wohnungsgröße. Spät ins Doppelbett, Nachdurst und Völlegefühl. Erst Engelstrompetentee schafft Erleichterung für den Rest der Lebensjahre.
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Eine andere Scheuchformel schlägt Arno Schmidt in "Aus dem Leben eines Fauns" vor:
-Kennen Sie das Buch der Bücher?
-Die Encyclopedia Britannica?
Mit Intelligenz kriegt man die sofort wech, da sind die sehr sensibel, die Gläubigen e.V..
Sehr lustig geschrieben, vorbildlicher Humor!, sozusagen.
Eine nette Satire zum Wochenende. Zeitvertreib im neuen Gewand. Mit anderen Worten, Ändere Dich nicht, dann ändert sich auch nichts. Eine süffisante Vorstellung des Lebensabends am Morgen mit Katz und Schokocreme. Selten so geschmunzelt.
göttlich köstlich....Lachen ist doch die beste Medizin....besser kann man die aktuelle Absurdität nicht übertrumpfen
Freue mich schon auf die Fortsetzung.
Auf Anhieb bei Wikipedia ein (mir) bislang unbekanntes, fotografisches (!) Bosch-Portrait mit Hut von 1888 gefunden. Spontane Schwierigkeiten mit der historischen Einordnung; das zugleich geheimbündlerische wie künstlerhafte Aussehen passt, der Vorname (Robert) so gar nicht. Nachts surreale Träume von Servicetechnikern mit Stoffmasken und Schweineköpfen in rückwärts laufenden Waschtrommeln im örtlichen Elektromarkt. Nach dem Erwachen Gelöbnis, nach 's-Hertogenbosch und Stuttgart-Gänsheide zu wallfahren.
Btw: Wann kommt der Sammelordner für die Bechlenberg-Tagebücher?
Ich glaub', ich hab mich mit Lattenrost angesteckt. Hätte beim Lesen mal besser die Maske angelassen.
Werter @ Eloman Frage, so richtig mit Rost an der Latte oder Latten am Rost?