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Kölner Domplatte – Medienversagen, Teil II

Vor fünf Jahren kam es zu Massenübergriffen am Kölner Dom. Manche Medien erinnern daran – und fabrizieren dabei neue alte Legenden

Silvester 2015/16 kam es zu den Massenübergriffen zwischen Kölner Dom und Hauptbahnhof – und in den Tagen darauf zu einer Glaubwürdigkeitsschmelze sehr, sehr vieler Medien, die tagelang warteten, bis sie überhaupt darüber schrieben oder sendeten.

Dass Journalisten in der Stadt schon früh Bescheid wussten, führte damals der Kölner Stadtanzeiger vor, der online schon am 1. Januar über die Attacken schrieb. Der WDR, vor dessen Haustür sich in der Nacht mehr als eintausend Straftaten abspielten, hielt sich lange zurück. Das ZDF-Hauptprogramm wartete sogar bis zum 5. Januar – bis zu einer Erwähnung im heute-Journal – um dann am 7. Januar seinen Zuschauern im Morgenmagazin eine Ablenkungsgeschichte mit frei erfundenen Vergewaltigungszahlen zum Oktoberfest zu servieren. Auch eine ARD-Redakteurin beteiligte sich damals per Twitter an der rettenden Oktoberfest-Mär. Denn die bis dahin einigermaßen intakte politisch-mediale Willkommenskulisse, das war allen Beteiligten klar, stürzte in diesen Tagen ein, und ließ sich danach nur noch notdürftig restaurieren.

Nach fünf Jahren erinnern mehrere Medien an diesen Umschlagpunkt vor fünf Jahren. Die juristische Aufarbeitung ist heute abgeschlossen. Nach den 1210 Straftaten der Kölner Silvesternacht gab es ganze 36 verurteilte Täter. Manche Medienmacher verzichteten ganz auf eine Rückblende, etwa die Verantwortlichen des ZDF heute-journals. Aber auch diejenigen, die sich heute bemühen, demonstrieren dabei vor allem eines: Sie haben seit 2015 kaum etwas gelernt. Wieder ersetzen sie den Bericht durch das so genannte Narrativ, sie framen, retuschieren und wiederholen damit nur leicht variiert ihre Bericht- beziehungsweise Nichtberichterstattung von damals. Bei der Rückschau auf Köln spielt übrigens eine staatlich finanzierte politisch-mediale Institution eine Rolle, die schon seit einiger Zeit daran arbeitet, die Kölner Geschichte von 2015/16 umzuschreiben. Dazu später.

Beginnen wir mit einem Rückblick-Text des dpa-Redakteurs Christoph Driessen, der in der Welt, auf Focus Online, in der Rheinischen Post und in der Saarbrücker Zeitung erschien:

 

Schon das ist bemerkenswert: Zum Jahrestag eines zentralen Ereignisses der letzten Jahren, zumal eines Vorgangs, in dem der größte Teil der deutschen Medien spektakulär versagten, fällt einer ganzen Reihe von Blättern nichts anderes ein als die Übernahme des gleichen dpa-Stücks. Das eigentliche Problem steckt allerdings in Driessens Text selbst.

„Die körnigen, verschwommenen Handybilder“, heißt es dort, „gingen damals um die Welt: im Vordergrund junge, dunkelhaarige Männer, die Feuerwerkskörper in die Menge schießen, im Hintergrund die Portale, Fenster und Strebebögen der Kathedrale, die wie kaum ein anderes Bauwerk in Deutschland für das christliche Abendland steht. […] Die Kölner Silvesternacht bezeichnet einen Wendepunkt in der Flüchtlingsdebatte. Viele sprachen vom Ende der Willkommenskultur, es folgte ein monatelanger Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs.“

Für die mehr als 600 Opfer dieser Nacht folgte in der Regel mehr als ein „Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs“. In Köln fand damals kein soziologisches Seminar statt. Genau so, als wäre das doch der Fall, liest sich die Umdeutungsprosa zum Jahreswechsel 2020/21.
Denn in dem, was nun folgt – und nicht nur in diesem dpa-Stück – kommt der Bielefelder Sozialpsychologe Andreas Zick umfangreich zu Wort:

„Nach Erkenntnissen des Sozialpsychologen Andreas Zick kam es dabei zu einer Überbetonung von Kriminalität durch Migranten, ’die nicht übereinstimmte mit der Kriminalstatistik, insbesondere bei der Frage: Welche Gruppen sind anfällig für Straftaten?’“

Anfällig für Straftaten, ganz nebenbei, waren in dieser Silvesternacht vor fünf Jahren junge Frauen. Und: Welche angebliche Überbetonung stimmt hier mit welcher Kriminalstatistik nicht überein? Dazu später. Zunächst versucht sich der Autor des Beitrags ganz ohne Unterstützung von Zick in der War-alles-ganz-anders-Tonlage des Faktencheckers:

„Die AfD und andere nutzten die Ereignisse, um die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anzugreifen. Nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft stammte jedoch der Großteil der Beschuldigten aus Algerien und Marokko – nicht etwa aus Syrien, dem Land, aus dem in den Monaten zuvor Hunderttausende Kriegsflüchtlinge in Deutschland Schutz gesucht hatten.“

„Jedoch“ – was soll diese Rahmensetzung den Lesern sagen? Wenn „der Großteil der Beschuldigten“ aus Algerien und Marokko stammte und „nicht etwa“ aus Syrien, dann beweise das, so suggeriert der dpa-Text, wie falsch damals alle lagen, die eine Verbindung mit Merkels Migrationsentscheidung vom Spätsommer 2015 zogen. Denn das tat ja nicht nur die AfD.

Nun sagt die sehr kleine Zahl von Beschuldigten ohnehin so gut wie nichts über die ethnische Zusammensetzung des Kölner Silvestermobs – bei 1210 Straftaten gab es, siehe oben, gerade 46, die angeklagt wurden, davon 36 verurteilte, und die auch fast ausschließlich wegen Diebstählen, die sich nachweisen ließen – beispielsweise, weil die Polizei ein gestohlenes Mobiltelefon orten konnte. Aber es kamen 2015 bei weitem nicht nur Migranten, die Syrien als ihr Herkunftsland angaben. Sie machten noch nicht einmal die Hälfte der Antragsteller aus.

Von den Asyl-Antragstellern stammten 162510 nach eigenen Angaben aus Syrien – 34 Prozent. Der überwiegende Teil der Asylantragssteller kam 2015 vom Westbalkan (wo weder Krieg noch systematische Verfolgung herrschten), und aus anderen Ländern. Im Registrierungssystem EASY der Bundespolizei wurden 2015 insgesamt 13833 Migranten aus Algerien registriert, 10258 aus Marokko und 1945 aus Tunesien.

Es gibt also überhaupt keinen Widerspruch zwischen der Debatte über junge Migranten aus muslimischen Ländern als Täter in Köln, den (bescheidenen) Ermittlungsergebnissen der Polizei und „der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel“, den der Autor mit einem klassischen Strohmann-Argument behauptet. Weder die AfD als Ganzes noch sonst eine relevante Stimme hatte 2016 erklärt, bei den Tätern müsse es sich durchweg oder überwiegend um Syrer gehandelt haben.

Ganz offensichtlich – und darum kreiste die Debatte, die viele Wohlmeinende offenbar als unangenehm empfanden – griffen in Köln junge Männer aus muslimisch geprägten Ländern zu. Insgesamt betrug 2015 laut Bundesinnenministerium der Männeranteil unter den Migranten gut 70 Prozent, 71 Prozent der Einwanderer waren unter 30, und 73 Prozent Muslime. Genau diese Kernfrage, das Frauenbild zugewanderter muslimischer Männer, behandelte auch das Buch „Der Schock von Köln“.

(Ganz nebenbei noch einmal zu den Migranten aus Nordafrika: Nach Angaben der Bunderegierung erhielten 2015 zwei Algerier Asyl (bei insgesamt 2 240 Anträgen), niemand aus Marokko (1747 Anträge), ebenfalls null aus Tunesien (923 Anträge). Neun Algerier und 22 Marokkaner bekamen 2015 Flüchtlingsschutz, sieben Algerier, 14 Marokkaner und ein Tunesier subsidiären Schutz, also die niedrigste Schutzkategorie.)

Der dpa-Artikel verschiebt mit Zicks Hilfe den Blick von den Opfern (die in dem Text nur ganz am Rand vorkommen) und den Tätern zum politischen Stimmungsbild:

„Umfragen hätten gezeigt, dass als Folge davon Polarisierungseffekte in der Bevölkerung eingetreten seien. So sei die Zustimmung zu dem Satz ’Wir sollten stärker darauf achten, nicht von Migranten überrannt zu werden’ von 28 Prozent im Jahr 2014 auf 42 Prozent 2016 gestiegen, so Zick.“

Das dürfte wohl nicht der Effekt von Köln allein gewesen sein – sondern die Auswirkung von Merkels migrationspolitischer Wende. Wie eine relative Mehrheit der Deutschen sonst darauf hätte angemessen reagieren sollen als mit dem Gefühl, überrannt zu werden, als im Herbst 2015 an manchen Tagen 10 000 und mehr Migranten die Grenze überquerten, die meisten ohne Papiere, viele ohne Asylgrund, das verrät Zick nicht. Er (und diejenigen, die ihn wohlwollend zitieren) basteln mit an der grundsätzlichen Erzählung: Nicht Merkels Entscheidung mit folgendem Kontrollverlust war das Problem – sondern die Reaktion vieler Deutschen darauf.

Manchen Lesern von Publico kommt das Narrativ möglicherweise bekannt vor: Alle oder fast alle Migranten von 2015 waren Kriegsflüchtlinge aus Syrien, schon deshalb können die Übergriffe von Köln nichts mit der Einwanderungswelle von 2015 zu tun haben, außerdem wisse man gar nicht so genau, was damals vor dem Dom eigentlich passiert sei, das Problem sei die AfD, die dies und das „ausnutzte“. Tatsächlich stand das alles schon einmal fast genau so in einer Broschüre – in „Demokratie in Gefahr“ der Amadeu-Antonio-Stiftung von 2019. Dort heißt es:

„Im Jahr 2015 erreichten fast 890.000 Menschen, die Schutz vor dem syrischen Bürgerkrieg suchten, die Bundesrepublik Deutschland. Die AfD nutzte die damit einhergehenden Herausforderungen zielgerichtet aus.“

Es handelt sich, siehe oben, um ein handfestes Beispiel einer mit Regierungsgeld finanzierten Falschbehauptung. In der AAS-Broschüre lautet die Erzählung zu Köln:

„Ein Wendepunkt war dabei auch die Silvesternacht 2015/16 in Köln. Damals kam es auf der Domplatte zu sexuellen Übergriffen gegen Frauen, mutmaßlich durch Migranten. Die juristische Aufarbeitung der Vorfälle lief und läuft bis heute schleppend. Hintergründe und Details der Taten blieben weitgehend ungeklärt. Rechtspopulist*innen und Rechtsradikale nutzten die Situation, um das Bild des angeblich zu ‘sexuellen Übergriffen neigenden’ Geflüchteten als Gefahr für ‘deutsche’ Frauen zu verbreiten und politisch zu verwerten.“

‘Hintergründe weitgehend ungeklärt’ – auch das stellt eine grobe Irreführung dar, die jetzt, zum fünften Jahrestag der Übergriffe gezielt in mediale Kanäle fließt. Übrigens unterhält die Amadeu-Antonio-Stiftung einen Stiftungsrat, der wiederum hat einen Stiftungsratsvorsitzenden: Professor Andreas Zick. Seit 2020 sitzt Zick auch in der „Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“. Von beiden Gremientätigkeiten Zicks erfahren die Leser des dpa-Beitrags nichts. Dabei ist es keine Marginalie, dass mit Zick nicht einfach ein Bielefelder Sozialpsychologe die Ereignisse von Köln im Rückblick kommentiert, sondern das führende Mitglied einer Stiftung, die massiv daran arbeitet, die Vorgänge von damals umzudeuten.

Zick geht nicht zum ersten Mal an das Mikrofon, um den richtigen Dreh zu liefern, wenn sich unangenehme Dinge ereignen. Nach den gewalttätigen linksextremistischen Ausschreitungen zum G20-Gipfel 2017 in Hamburg bestätigte er der ARD gern, Ideologie hätte bei den Tätern „kaum eine Rolle“ gespielt.

 

Bekanntlich zimmerten der damalige SPD-Vize Ralf Stegner und andere dienstbare Geister seinerzeit das Narrativ, bei den Schwarzgekleideten, die ganze Straßenzüge verwüsteten, könne es sich unmöglich um Linke gehandelt haben.

 

 

Auch in einem Text des Tagesspiegel zu fünf Jahren Kölner Massenübergriffe – immerhin einem Eigenprodukt, nicht der dpa-Übernahme, kommentiert Zick ausführlich. Er streut wie auch bei anderen Gelegenheiten die Darstellung der AAS-Publikation, die Ereignisse von damals seien ja noch weitgehend ungeklärt.

„Die Lehren der berüchtigten Silvesternacht seien allerdings längst nicht so gezogen, wie das nötig wäre, sagt Zick. Bei der Polizei gehe der Prozess weiter, aber als Forscher sei er ‘frustriert’, dass sein Team und er die Arbeit, die damals begonnen wurde, nicht weitergeführt werde. Nicht nur die Schätze aus dem Abschlussbericht des Landtags seien nicht gehoben, es gebe auch ‚unglaubliches Videomaterial, etwa 7400 Stunden Videomaterial von Handykameras’.“

Die Leser erfahren nicht, was Zick oder andere daran gehindert hat, in fünf Jahren dieses Material zu untersuchen. Was sie ebenfalls nicht erfahren: Der Wiesbadener Kriminologe Rudolf Egg hatte schon für den Untersuchungsausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen umfangreiche Unterlagen zu der Silvesternacht 2015/16 ausgewertet, und ein außerordentlich detailliertes Bild gezeichnet. Unter anderem belegte er, dass gut die Hälfte der Strafanzeigen der Opfer schon am 1. Januar 2016 gestellt wurde. Die Polizei und das Innenministerium von NRW wussten also schon früh ziemlich genau, was sich tatsächlich abgespielt hatte.
In dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses lässt sich detailliert nachlesen, welche Tätergruppe in Köln aufgetreten war, wie sie vorging, und wie die Polizei versagte. Auch, wenn es von Zick und anderen noch ungesichtetes Videomaterial gibt: Nichts spricht dafür, dass sich dadurch die grundlegenden Erkenntnisse zur Kölner Silvesternacht ändern könnten.

In dem dpa-Text zu fünf Jahren Köln tritt noch ein zweiter Kronzeuge auf, der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba. „Der Berliner Migrationsforscher Wolfgang Kaschuba sieht es ähnlich“, heißt es dort:

„Das Thema der sexuellen Gewalt habe durch die Silvesternacht ein Framing, eine Einbettung, bekommen – es sei nun in erster Linie mit Fremden verknüpft worden. ’Es wurde suggeriert: Wenn wir die fremden jungen Männer fernhalten, dann halten wir uns damit auch dieses Problem vom Hals. Dabei wissen wir schon lange, dass über drei Viertel der sexuellen Übergriffe durch Freunde und Familie stattfinden. Die große Bedrohung kommt also nicht von außen, sondern von innen.’ Erst durch die MeToo-Bewegung sei das wieder zurechtgerückt worden.“

Auch Kaschuba bastelt hingebungsvoll seinen Strohmann. Dass sexuelle Gewalt in Deutschland ausschließlich von jungen eingewanderten Männern verübt würde – wer soll das behauptet haben? Und mit wem sollten die Übergriffe von Köln sonst „verknüpft“ werden, wenn nicht mit den Tätern, bei denen es sich tatsächlich um junge Migranten aus muslimischen Ländern gehandelt hatte?

Die Täter, framt Kaschuba drauflos, seien die eigentlichen Opfer:

„’Es gibt in deutschen Städten relativ viele junge Männer aus Nordafrika, die oft schon als Kinder unbegleitet hierhergekommen sind, also eine jahrelange Flüchtlingsbiografie hinter sich haben’, erläutert Kaschuba. ’Sie haben nirgendwo Anschluss gefunden und sich deshalb auf Handtaschen- und Handydiebstahl verlegt. Und die landen eben an Silvester auf der Kölner Domplatte, weil sie keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können. Das hat eher mit ihrer aktuellen sozialen Situation und weniger mit ihrer Herkunft zu tun.’“

Sie hatten „keinen anderen Ort“ als die Domplatte. Deshalb mussten sie belästigen und rauben. Ach. Wohnten sie dort? Falls nicht, dann mussten sie ja offenbar einen anderen Ort gehabt haben, an dem sie normalerweise lebten. Aus dem Untersuchungsbericht des Landtags geht übrigens hervor, dass die meisten jungen Männer, deren Daten damals festgestellt wurden, nicht in Köln gemeldet waren:

„Im Zuge der Datenauswertung wurden etwa 17.000 Personendaten erfasst, von denen etwa 3800 einen registrierten Wohnsitz oder anderweitigen Adressbezug zu Köln oder Leverkusen hatten. Bei diesen handelte es sich zum großen Teil um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.“

Auch Kaschuba gehört zu dem Kreis von Stichwortgebern, die sich nicht nur zu Köln gegenseitig die Bälle zuspielen. Mit Zick zusammen nahm er 2020 an einer Diskussionsrunde der Uni Bielefeld zur Notwendigkeit teil, die „Erinnerungskultur“ in Deutschland umzuprägen („Runter vom Sockel?“). Bei einer Gegen-Rechts-Tagung der Grünen in Karlsruhe 2017 gehörte er neben der AAS-Vorsitzenden Anetta Kahane zu den Referenten.

Bemerkenswert an dem dpa-Text, der seriell zu 5 Jahren Köln abgedruckt wurde, ist vor allem der Punkt, wer und was alles darin keine Rolle spielt. Das Versagen der Medien, die Oktoberfest-Ablenkungslüge: davon kein Wort. Das Frauenbild islamischer Männer, überhaupt Islam, mit dem sich beispielsweise Necla Kelek in „Der Schock von Köln“ beschäftigt hatte: kommt nicht vor. Stattdessen eben Männer, die „keinen Anschluss“ in der kalten deutschen Gesellschaft finden. Ein Soziologe und Frontmann der Amadeu-Antonio-Stiftung liefert die geschichtliche Deutung, assistiert von einem Ethnologen, der alles ganz ähnlich sieht wie der AAS-Stiftungsratsvorsitzende.

Und die eigentlichen Opfer? Ach ja, die gab es ja auch noch. In Driessens Text nehmen sie eine Statistenrolle ein. Ganz am Anfang und ganz zum Ende des Textes schildert er – nein, keine Frau, die betatscht und belästigt wurde, sondern eine, der in der Nacht jemand das Handy gestohlen hatte. Dabei gibt es eine bemerkenswerte Pointe:

„Übrigens schilderte die 20-jährige Frau aus Baden-Württemberg, der in der Silvesternacht von 2015 das Handy gestohlen worden war, vor Gericht noch eine andere Erfahrung. Ein Mann war ihr damals zu Hilfe gekommen und hatte ihr den Täter gezeigt, woraufhin sie ihn selbst verfolgte und sich das Handy zurückholte. Im Gerichtssaal traf die 20-Jährige nicht nur den Dieb wieder, sondern auch den unbekannten Helfer. Wie sich herausstellte, war es ein Baggerführer, der erst seit wenigen Jahren in Deutschland lebte. Er stammte aus Afghanistan. Ein Flüchtling.“

Hier zeigt sich noch einmal in schönster Blüte die Kardinaluntugend der gutmeinenden deutschen Presse, neben dem Framen und Narrativliefern: Analyse und Recherche werden, falls unangenehme Ergebnisse zu erwarten sind, durch die gefühlige Anekdote ersetzt. Immer wieder gern genommen: Der Flüchtling mit dem goldenen Herzen.

Irgendeine Selbstkritik in anderen Blättern, die über Köln in der Rückschau berichten? Nein, nirgends, dafür Spurenverwischung in eigener Sache. In dem Tagesspiegel-Text von Andrea Dernbach zum Rückblick heißt es:

„Der Presserat änderte seine Ethikrichtlinien und erlaubt seither, die Herkunft Verdächtiger oder von Tätern bei ’berechtigtem öffentlichen Interesse’ zu nennen“ – so, als ob irgendwelche Ethikrichtlinien es damals geboten hätten, tagelang nichts zu berichten. Und auch hier darf der Einordner Zick wieder nicht fehlen:

„2015 sei ’ein Schlüsselereignis für Kriminialitätsberichterstattung’, sagt Zick. Es folgte eine ’Überbetonung von Kriminalität, die nicht mit den statistischen Daten übereinstimmte, und Täter wurden homogenisiert, was auch nicht stimmte’.“

Was er mit homogenisierten Tätern meint, bleibt im Dunkel, ebenso, was er mit „Überbetonung“ meint. Dass junge Migranten vor allem bei Sexualstraftaten weit überrepräsentiert sind, gehört zu den mittlerweile statistisch gut erhärteten Daten.

Die Deutsche Welle geht in ihrem Rückschau-Beitrag ein ganz kleines bisschen auf die Rolle der Medien ein:

„Auch die Medien ziehen Konsequenzen. Denn ihnen wird ähnlich wie der Polizei vorgeworfen, zu zögerlich über die ausländische Staatsbürgerschaft der Tatverdächtigen informiert zu haben. Der Presserat ändert seine Leitlinien zur Herkunftsnennung von Tätern.”

Mit der Wendung „wird vorgeworfen“ fügt der Sender den Verneblungsversuchen von damals einen neuen hinzu. Es handelte sich ja nicht um Vorwürfe, sondern um Tatsachen. Und es ging nicht darum, dass Polizei und Medien „zu zögerlich“ über die „Staatsbürgerschaft der Tatverdächtigen“ berichtet hätten, sondern darum, dass sie erst einmal die Ereignisse in Gänze totschwiegen. Die Kölner Polizei log die Öffentlichkeit damals in ihrer Pressemitteilung vom 1. Januar 2016 frontal an. „Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“ hieß es damals über die Nacht mit über 1200 Straftaten.

Damals, im frühen Januar 2016, hofften offenbar viele Journalisten, die hässlichen Bilder, um einmal das Wort Angela Merkels zu verwenden, irgendwie der Öffentlichkeit vorenthalten zu können. Als das nicht mehr ging, rumpelte eine ungeschickte, aber konzertierte Entlastungsoffensive los („Oktoberfest“). Und schon am 8. Januar 2016 meldete sich der „Deutsche Juristinnenbund“ und das feministische Aktionsbündnis „#ausnahmslos“, und prangerten die „rassifizierende Konzentration auf die Herkunft der Täter“ an.

Nach fünf Jahren hätten viele Medien ihre Chance gehabt, über ihre blinden Flecken nachzudenken. Stattdessen beteiligen sie sich reihenweise daran, das Ereignis endgültig umzuschreiben, und ihre Vertuschung von damals abermals zu vertuschen.

Köln 2015 war ein Desaster für die Glaubwürdigkeit vieler deutscher Blätter und Sender. Ihr Rückblick auf Köln fünf Jahre später wirkt eigentlich noch schlimmer als ihre vernebelte Sicht von damals.

 

 


Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.

 


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Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (28)

  • Nicht zu vergessen der Augsteinwurf mit der Täter-Opfer-Umkehr und der Professor (Quelle leider vergessen, vielleicht weiß es jemand), der auf einer Veranstaltung ausführte, die benachteiligten Männer hätten sich den Sex genommen, der ihnen zustünde.

  • Für mich eine Bestätigung der Ansicht, daß man den deutschen Medien nicht trauen kann. Jetzt noch weniger als damals. Das einzige, was die Medienschaffenden seitdem v i e l l e i c h t lernten, ist, geschickter zu lügen. Es gibt ja mehrere Möglichkeiten zu lügen, nicht nur das wörtliche. - Trauen kann man viel eher Blogs, die einem nicht vorschreiben wollen, was und wie man denken soll. Diese werden meist als rechts verschrieen, wovon keine Rede ist. Es prallen ja die gegensätzlichste Meinungen aufeinander, entweder in den Berichten und / oder in den Leserkommentaren. Wie auch immer: Ich selbst glaube den deutschen Medien nicht ein Wort. Sie sind unglaubwürdig
    geworden. Es war ja nicht immer so. Schade.
    lg
    caruso

  • Das Jahr fängt - wie erwartet - mit anhaltendem Dauerfeuer informeller Nebelwerfer an, um die deutsche Öffentlichkeit über reales Geschehen in Politik und Medien zu täuschen. Gut, dass Alexander Wendt und andere ernsthaft um Aufklärung bemühte Journalisten genau hinschauen, sorgsam recherchieren und sowohl die Methoden wie die Akteure hinter den Batterien sichtbar machen. Die heuchlerische Empörung über "Spaltung der Gesellschaft", das Dauergeräusch der Propagandasalven "gegen rechts", das Erfinden immer neuer Popanze und Sündenböcke, mit denen vom Versagen der Politbürokratie, ihrer medialen Gefolgschaft und aus Steuern finanzierter Hilfstruppen abgelenkt wird, erreicht Dimensionen wie zu Zeiten des "ideologischen Klassenkampfes" unter Führung der SED. Und natürlich geht es um die Macht. "Cancel Cultur" ist ja nichts anderes als zahllose mehr oder weniger subtile Attacken auf jede Kritik an einer Oligarchie, die Unangreifbarkeit zum Ziel hat - das Paralysieren wesentlicher Rechte der Bürger. Ihnen stehen nur wenige Mutige in Justiz und unabhängigen Medien gegenüber: Sie verdienen jede Unterstützung. 2021 werden sie davon noch viel mehr brauchen als in den vergangenen Jahren.

  • Lieber Herr Wendt,
    5 Jahre sind seit jenem Silvester vergangen, da ich nicht mehr die Augen verschließen konnte vor dem Fakt, dass ich in einer anderen Republik lebe, als ich zu leben glaubte. Mein persönlicher Prozess der Desillusionierung über die offizielle deutsche Berichterstattung ist lange abgeschlossen. Aber man lebt, atmet und denkt ja trotzdem weiter. Man hat Kinder, um die man sich kümmern muss und ein Leben zu organisieren. Und das ist die eigentliche Frage: Wie kann man in solchen Zeiten bei maximaler täglicher kognitiver Dissonanz noch gesund in Kopf und Herz bleiben? Wie die ganze Lügerei und Schönfärberei ertragen? Der ganze Nebel um einen herum verwirrt zwar nicht unbedingt die Sinne, aber er ermüdet und in dieser Ermüdung bildet sich ein eigener kalter Nebel im Kopf. Da hilft Publico lesen! Sie sind mir ein Vorbild, lieber Herr Wendt. Dass Sie immer noch am Start sind, dass Sie weiterhin mit größter Klarheit und wenigst möglichem Sarkasmus berichten, dass Sie Fakten wiederholen, die sonst im Nebel verschwinden würden und vor allen Dingen: Dass Sie das widerwärtige Herum-Geframe der allermeisten deutschen Medien samt ihrer immer mehr an die DDR erinnernden Rhetorik entlarven und Ihren Lesern immer wieder neu vor Augen führen, wie der Nebel erzeugt wird und welche Gase er enthält. Ich bewundere Ihre Geduld, Ihr Durchhaltevermögen, Ihre Klarheit und vor allem anderen bewundere ich, dass Sie nicht zynisch geworden sind in den ganzen Jahren. Ich wünsche Ihnen und allen Ihren Lesern ein gutes Neues Jahr 2021.

    • Ich schließe mich diesem Kommentar (wie bereits jemand vor mir) voll und ganz an. Wieder einmal Danke für einen hervorragenden Artikel!

      • Ich auch.

        "Vollumfänglich", sozusagen.

        Danke, Frau Dr. Gratz, daß Sie das so gut und schön gesagt haben, daß unsereins bloß noch zu unterschreiben braucht!

  • Habe Prof. A Zick angeschrieben:
    Sehr geehrter Professor Zick,
    seit der Aufarbeitung der NS-Zeit hat die Reinwaschung der Täter eine unselige Tradition. Dass ausgerechnet SIE sich dem anschließen, ist traurig. Die Ursachen von Gewalt zu verklären ist ebensowenig moralisch wie wissenschaftlich tragbar - unter den Auswirkungen der Art Ihrer Statements auf die Justiz müssen die Opfer doppelt leiden! Und SIE sind MITVERANTWORTLICH, Ihre Verharmlosungen sind unerträglich.
    Man kann die Migrantengewalt auch GANZ anders sehen.
    https://maennerschmie.de/index.php/2017/05/08/koelner-maenner-postheroische/
    oder wie der Autor Lassahn
    http://www.faktum-magazin.de/2016/01/bernhard-lassahn-vergewaltigungen-und-der-fuenfte-mann/
    Mit der Ihnen angemessenen Hochachtung

    SEINE Antwort
    Sehr geehrter Herr Fügner,

    ich habe schon mehrere Mails in dieser Sache beatnwortet, weil ich aus dem Kontex herausgegriffen zitiert werde. Meine Ausführungen betrafen die Kriminalitätsstatistik nach der Silvesternacht.
    Ich habe nicht das geringste Interesse an einer Reinwaschung. Ich habe mit der Polizei ein klares Konzept in der Kölner Silvesternacht 2017/18 entwickelt.
    Ich bin Einsätze mitgegangen. Wir haben klare Strafverfolgung und Aufklärung betrieben. Alle haben geredet, wir haben gehandelt und Gewaltprävention betrieben.

    Der Focus berichtet aus einem 2-Stunden-Gespräch. Es ist die journalistische Freiheit des Focus, aber leider derzeit mein Schaden. Wie auch immer.
    Ausführlicher hat dazu der Tagesspiegel berichtet, und er wird das noch tun. Insofern kann ich nur um Berücksichtigung bitten.

    Alles Gute. Ich hoffe, Sie nehmen wenigstens zur Kenntnis, dass ich mich mit Mails und Angriffen beschäftige
    Andreas Zick

    • Immerhin.

      Aber daß Prof. Zick sich offenbar die ausgebliebenen sexuellen Übergriffe durch "Taharrusch dschama'i" an den folgenden Silvestern (ich nehme an, es war ein Versehen, daß er 2016/17 übersprungen hat) als eigenen Verdienst ans Revers heften möchte, beeinträchtigt meine nachsichtige Stimmung gleich wieder.

      Denn es ist klar, daß es an den auf 2015/16 folgenden Silvestern nur aus dem Grund nicht zu ähnlichen oder schlimmeren Taten kam, daß Frauen aus Angst solche Plätze gemieden haben.

  • Man muss die Verantwortlichen GANZ DIREKT angehen!
    Mo., 4. Jan., 07:53 (vor 1 Tag)
    an Andreas Zick

    Sehr geehrter Herr Professor Zick,

    Danke für Ihre Antwort.
    Auch Ihre Replik bestätigt, was die SZ schrieb:
    „Silvester 2020 ist es den Deutschen offensichtlich immer noch wichtiger, ihren Antirassismus zu demonstrieren, als Frauen vor sexueller Gewalt zu beschützen.“
    https://www.tichyseinblick.de/meinungen/fuenf-jahre-koelner-silvesternacht/

    Damit machen Sie sich, streng politisch korrekt, mitschuldig an der wachsenden Gewalt und Migrantenfeindlichkeit.
    Vermutlich halten Sie den notwendig gewordenen Schutz von Weihnachtsmärkten durch Migranten-/ Merkel Poller auch für einen echten Zugewinn eines Deutschlands, in dem wir gut und gerne leben? Für einen Erfolg ihrer Deeskalationspolitik?
    Sind Sie stolz auf diese Heuchelei?
    Geht es Ihnen gut damit?

    Grußlos

  • Ich fürchte, ich (demnächst 72 Jahre alt) werde die endgültige Umwandlung Deutschlands in eine Demokratur noch erleben. Das hätte ich mir nie vorstellen können.
    Bemerkenswert finde ich, wie der dritte deutsche Staat innerhalb hundert Jahren ohne nennenswerte bürgerliche Gegenwehr erneut scheitert.

  • Lieber Herr Wendt,
    wie immer haben Sie großartig recherchiert und konzentriert.
    In einem nur möchte ich widersprechen: das war kein Versagen, das war volle Absicht. Der Beweis sind die von Ihnen zitierten Rückblicke. Und es wird nicht aufhören.

  • Da fällt mir noch ein Interview mit dem Professor Zimmerer in Zeit-Online ein. Eigentlich ging es in dem Interview um das Kriegsverbrechen gegen die Hereos in Namibia vor über 100 Jahren. Aber dann stellte dieser Professor die Behauptung auf, daß die Berichte über die Silvesternacht in Köln "rassistisch" seien und zog eine Parallele zu Berichten aus den 20er Jahren im Ruhrkampf. Es erstaunt schon, was für Ansichten solche "Akademiker" haben.