von Jürgen Schmid
Die zentralen Begriffe des Bundesgesundheitsministers und anderer Politiker zur Impfkampagne sind staunenswert.
Schon am 16. Dezember 2020 sprach Jens Spahn in der ‘Aktuellen Stunde’ des Bundestags über eine „Nationale Impfstrategie“.
Bald darauf, zum Impfstart, rief er zu einem „nationalen Kraftakt“ auf.
Im Juli 2020, als die Impfwilligkeit merklich nachließ, forderte Spahn einen „nationalen Impf-Ruck“.
Im Sommer-Interview mit dem Münchner Merkur am 5. August 2021 steigerte sich der CDU-Politiker zu der frivolen Aussage: „Impfen ist ein patriotischer Akt“.
Auch CSU-Generalsekretär Markus Blume galt die Impfung gegen Corona Ende 2020 als „patriotischer Akt“.
Flankiert wurde das neue patriotische Wir lange mit der leicht chauvinistischen Feststellung, Deutschland sei „besser durch die Pandemie gekommen“ als die meisten anderen Länder – eine Behauptung, die jetzt nicht mehr ganz so oft zu hören ist wie 2020.
Schon zu Beginn der Corona-Krise kam es europaweit zu einer rhetorischen Re-Nationalisierung im Kampf gegen das Virus. Nationale Alleingänge galten bis dahin nicht nur als Verstoß gegen EU-Vertragswerk, sondern vor allem gegen die grundsätzliche Vorstellung der Europa-Konstrukteure von einer fortschreitenden Vereinheitlichung aller Mitgliedsländer und -Völker. Im Vorfeld der desaströs verlaufenen EU-zentralisierten Impfstoffbestellung flackerte mit dem Warnruf „kein Impfnationalismus“ noch einmal kurz diese alte Doktrin auf. Aber ein auch nur oberflächlicher Blick auf die völlig unterschiedliche Handhabung von Corona-Maßnahmen in der Praxis der EU-Staaten (etwa zwischen Deutschland und Schweden) zeigt, wie eigenwillig die Nationalstaaten in der EU tatsächlich handeln.
Nationales Pathos, das man in Zeiten von „,no border, no nation“ längst auf der verbalen Sondermülldeponie vermutete, feiert also fröhliche Urständ – mit einem Vokabular, das die zeitgenössischen Political Correctness-Wachbataillone normalerweise niemals durchgehen lassen würden. Die vieldiskutierte Spaltung der Gesellschaft in verantwortungsvolle Impf-Patrioten (frei nach Jens Spahn) und unsolidarische Impfverweigerer hat auch in Alltagsgespräche eine permanente Polarisierung einziehen lassen: „Wir, die wir versuchen, die Inzidenz runterzukriegen“ vs. „Die, die durch ihre Impfverweigerung den wirtschaftlichen Aufschwung bremsen“.
Der Spiegel fasst die Lage in dem Stakkato zusammen:
„Geimpft. Genesen. Gefrustet. Wie Politik und Ungeimpfte es verbockt haben.“
Noch vor nicht allzu langer Zeit galt das Wir vor allem bei Trägern der vorbildlichen Haltung als hochproblematisch. Die „Neuen Deutschen Medienmacher“ um ihre Frontfrau Ferda Ataman setzten das „zunächst harmlose Wort“ „wir“ 2014 noch auf die rote Liste der auszumerzenden Vokabeln, weil es „ausgrenzend verwendet werden“ kann.
Und auf der Webseite der Amadeu-Antonio-Stiftung hieß es (beziehungsweise, es steht dort immer noch):
„Die Einteilung von Menschen in ‚wir‘ und die ‚anderen‘, die vermeintlich weniger wert sind, ist die Grundlage von Ideologien der Ungleichwertigkeit.“
Die „Grüne Jugend“ und andere Linke polemisierten während jeder Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft gegen das Schwenken von Deutschlandfahnen mit dem Argument, das befördere ein nationales Wir-Gefühl – und das sei, auch wenn es nur um Sport gehe, immer ausgrenzend und gefährlich.
Als hätte es diese schwersten Bedenken gegen das Wir nie gegeben, benutzen Corona-Bekämpfer in Politik und Medien die Vokabel mittlerweile exzessiv – zum einen als Majestätsplural, zum anderen zur Kollektivformung. Tiefpunkt der Ausgrenzungs-Rhetorik dürfte schon im April 2021 ein wenig beachtetes Gustlstückerl des Juristen Rolf Schwartmann gewesen sein: „Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“.
In der aktualisierten Fassung dieses Beitrags ist das Wort „Volksfeind“ nicht mehr zu finden, aber in einem (redaktionellen) „Hinweis“ an dessen Ende:
„In einer früheren Version des Artikels wurden im Hinblick auf mögliche Auswirkungen einer Kommunikation des eigenen Impfstatus geschrieben ‚Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde’. Der Begriff ‚Volksfeinde’ war dabei in Anlehnung an das Drama ‚Ein Volksfeind’ von Henrik Ibsen gewählt worden, um den Druck einer gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung zu beschreiben. Da der Begriff allerdings auch im Nationalsozialismus als ideologischer Begriff verwendet worden ist und um Fehlinterpretationen zu vermeiden, wurde der Absatz geändert.“
Wie glaubhaft die rabulistische Rechtfertigung für ein nicht zu rechtfertigendes Wort wie „Volksfeinde“ ist, mag im Belieben jedes Lesers verbleiben.
Das Schwartmann’sche Denkmuster gilt in progressiven, woken Kreisen prinzipiell als faschistisch, erfreut sich aber trotzdem bei vielen Corona-Kämpfern großer Beliebtheit: Das Volk wird als Schicksalsgemeinschaft verstanden, unbedingte Impfbereitschaft als patriotische Pflicht gefordert, unter Hintanstellung individueller „Befindlichkeiten“ wie Bedenken vor einem experimentellen Impfstoff mit Notfallzulassung. Die Gemeinschaft ist alles, der Einzelne nichts. In der FAZ verkündete der Publizist Anders Indset diese Formel in einer nur leichten Abwandlung: „Bei der überhitzten Impfdebatte geht es nicht um Meinungen, Rechte und individuelle Freiheit. Es geht um Haltung.“
Dieser Gedankengang wird in einem erstaunlich großen Feld vom CSU-General bis zu den Progressiven geteilt. Im Milieu von Diversitätsverfechtern, Nationalstaatsauflösern und Weltregierungsanhängern hätte ihn bis März 2020 sicherlich niemand erwartet. Jetzt lautet die Frage, wie sich die Progressisten dieses für sie eigentlich ewiggestrigen Ballasts eines nationalen Wir-Gefühls wieder entledigen wollen.
Die Rückkehr des großen Wir auf die offene Bühne unserer Gesellschaft hält noch eine innerlinke Pointe parat. Der Rückwärtssalto von einer strikten Entnationalisierungsagenda zur pathetischen Gemeinschaftsverpflichtung stößt auch jenen Teilen der Linken auf, die schon länger mit ihrer Partei fremdeln. Sie haben es der bisherigen Partei ihrer Wahl nicht verziehen, wie sehr sie unter dem Vorsitz von Katja Kipping und dann auch unter ihrer neuen Führung den Maßnahmenkurs der Regierung nicht nur unterstützt, sondern verbal oftmals sogar noch überboten hat. Diese Kritiker gehören zu der Wählerkohorte, die der Links-Partei im Corona-Kampf nicht mehr folgen wollten, ihr deshalb bei den Bundestagswahlen ihre Stimme verweigerten – und damit diese Gruppierung buchstäblich halbiert haben.
Das neue Wir führt nicht zum erwünschten Zusammenhalt, wie er am Anfang der Corona-Krise gebetsmühlenartig auf allen Kanälen beschworen wurde. Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft in bisher unbekanntem Ausmaß, weil diejenigen, die es benutzen, ein Feindbild zur Festigung des Wir kultivieren zu müssen glauben, das eine Minderheit markiert und ausschließt. Diese Praxis steht eigentlich für das Gegenteil von allem, was diskriminierungssensible Progressive für richtig halten. Dass sich links und rechts einer angenommenen Mitte gerade in dieser Frage querfrontartige Annäherungen abzeichnen, müssen die Verfechter des neuen patriotischen Wir als Kollateralschaden verbuchen.
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.
Kommentare anzeigen (8)
WIR - Solidarität
stimmt - ist mir auch aufgefallen!
Das letzte Mal waren es noch die Systemrelevanten, die vom Steuervolk gerettet werden mußten.
Und heute paßt es in die individualisierte Welt des Homo oekonomicus, im Interesse der politischen Machenschaften von "Wir" und "Solidarität" zu reden ?
Sind die stolzen Eliten schon so tief gesunken ?
In 50 oder 100 Jahren werden Zeitgenossen fasziniert auf die Ereignisse zurückblicken, welche zur Zerstörung unseres Gesellschaftssystems geführt haben. Der Artikel von Jürgen Schmid beschreibt klarsichtig ein weiteres Kapitel der Mechanismen und entlarvt das haltungsbesoffene Klientel, welches sich selbst als weltoffen, tolerant und vielfältig feiert, in Wirklichkeit aber nur verdruckst, bösartig und verlogen ist.
Inzwischen denke ich fast täglich an den unvergeßlichen Reverend Ike aus NYC. Als junger Mann hatte ich mich irgendwann getraut, nach Harlem zu fahren, um an einem Gottesdienst mit ihm teilzunehmen. Inmitten seiner schwarzen Anhängerschaft voller quirliger, bunter, berührender Lebensfreude stand er auf der Kanzel und predigte wortgewaltig. Eine seiner Botschaften lautete: "The Preacher always preaches his own sins".
Ja genau, eben das tun diese falschen Hohepriester der Political Correctness, diese Spahns, Blumes, Schwartmanns, Kahanes, Indsets, Kippings, Montgomerys ("Tyrannei der Ungeimpften")......... sie sprechen immer nur von sich selber, wenn sie ihre haßerfüllten Hetz- und Vernichtungsvisionen propagieren, ein "Wir" beschwören und zur Verfolgung der "Volksfeinde" aufrufen.
In 100 Jahren werden die Leute darüber nur den Kopf schütteln. Heute jedoch müssen wir Menschen mit einer abweichenden Meinung um unseren Kopf fürchten.
Die Erkenntnis aus diesem Vorgang: wie schon hinlänglich bekannt, ist globalistischen Roten + Grünen (aber auch Schwarzen und Gelben) letztlich wirklich jedes Mittel recht, um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen.
...selbst Mittel, die sie bis dahin verteufelt haben --> siehe Artikel.
Damit meine ich die Mobilisierung "des latenten Nazis im Tätervolk" für den guten Zweck.
Dieser soll sich solidarisch und diszipliniert für die Volksgemeinschaft impfen lassen, eigenen Schaden in Kauf nehmen und dem "Führerkollektiv" (Mischung aus braunem und rotem Vokabular) aus Regierung + gleichgeschalteten MSMedien bedingungslos in den unmittelbar bevorstehenden Endsieg über die 138. (Angriffs)Welle (des Feindes?) folgen.
Den Irrsinn in der besten BRD aller Zeiten erträgt man nur noch mit Humor.
Erinnert an das Produkt-lable-ing (Fritz Brause etc.) sich hip und modern gebender Hersteller und Produzenten, nach deren offensichtlicher Auffassung, der so ausgeworfene Wurmköder an die unterstellten Sehnsüchte der Anglerbeute appelliert. Erhellend.
Nicht aber, dass man an dieser properen Camouflage auch nur kratzen dürfte!
Nicht zu vergessen ein Kommentar in einer Talkshow
zum Thema Klima,bei Maybritt Illner.
Dort tauchte die Frage nach ” Klima-Schädlingen” auf.
Gute Beobachtung, treffende Analyse!
G1 hält nicht zusammen
*Das neue Wir führt nicht zum erwünschten Zusammenhalt, wie er am Anfang der Corona-Krise gebetsmühlenartig auf allen Kanälen beschworen wurde. Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft in bisher unbekanntem Ausmaß, weil diejenigen, die es benutzen, ein Feindbild zur Festigung des Wir kultivieren zu müssen glauben, das eine Minderheit markiert und ausschließt. Diese Praxis steht eigentlich für das Gegenteil von allem, was diskriminierungssensible Progressive für richtig halten. Dass sich links und rechts einer angenommenen Mitte gerade in dieser Frage querfrontartige Annäherungen abzeichnen, müssen die Verfechter des neuen patriotischen Wir als Kollateralschaden verbuchen.*
Sehr richtig.
Bei diesem „Wir“ (oder „Uns“) handelt es sich eben nicht um ein „patiotsches Wir“, sondern um ein idiotisches. Wirtschaftlich, wissenschaftlich, gesellschaftlich, ideell und rhetorisch. Das ist im Kern das Problem. Die Sache ist im Kern faschistisch; diesmal eben buntfaschistisch - mit „Menschheit“, „Umwelt“, „Klima“ oder „Weltgesundheit“ als grüngelockte Führergestalt, je nachdem. Und mit Räterepubliken, die konzertierte Aktionen in ihrem Machtbereich organisieren.
Beispielsweise tun EU-Aktivisten und Agitatoren heute aus allen Rohren so, als sei Lukaschenko der böse Zampano an Polens Grenze, dabei unterstützt die EU die Sache der Schlepper- & Schleuserorganisationen seit Jahren.
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/theater-kammerspiele-provozieren-mit-tagung-ueber-schleuser-1.2664985
(2. Internationale Schlepper- & Schleusertagung in München 2015)
Darüber hinaus lässt sich die EU als williger Helfer gegen die verzweifelten Abwehrmaßnahmen von EU-Staaten gegen die Machenschaften gehätschelter Schlepper- & Schleuserorganisationen missbrauchen. Und ein Heer von Internet-Aktivisten macht die „La Ola der Kulturrevolution“. Aber Lukaschenko (Lukaschenka) sei das Problem – ach gottchen.
Nach meinem Dafürhalten haben die Verantwortlichen in den Parteien von CDU/CSU, SPD und FDP ihre freiheitliche Orientierung mittlerweile verloren (Grüne und Linken hatten nie eine) und längst durchblicken lassen, dass sie den Faschismus (und seine Methoden) für gar nicht so übel halten, wenn er sich ihnen grün, rot oder bunt angemalt andient. Wissenschaftlich begründet, natürlich.
Es sind entsetzlich blödsinnige Zeiten – zu einem „guten Zweck“, natürlich.
Wenn die Regierung von "wir" und Nation spricht, geht die Hand automatisch schützend an die Brieftasche. Das kann nichts Gutes bedeuten, die Regierung lebt von der Spaltung, nicht von der Gemeinsamkeit.