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Drama, Abschluss, Rückblick, Ausblick: auf ein Neues mit Publico!

Liebe Publico-Leser: Vielleicht werden die Jahre 2020 und 2021 in Zukunft einmal als eine zusammenhängende Periode gesehen: Die Zeit, in der Freiheit und Freude zu ernsthaft bedrohten Lebensarten geworden sind.

Um mit der Freiheit zu beginnen: Einem bemerkenswerten Chor untereinander sehr ähnlicher Gestalten gilt sie als „vulgäres Freiheitsverständnis“ (Katharina Schulze), „verengter Freiheitsbegriff“ (Norbert Röttgen), „Freiheitsgesäusel“ (Ulrich Montgomery) und „Eigensinn“, den der Staat „in die Schranken weisen“ muss (Winfried Kretschmann). Der Liste ließen sich noch etliche andere anfügen. Jemand, der etwas geschöpft, erfunden oder für andere Bedeutendes gegründet hätte, findet sich nicht darunter.

2021 war das zweite Jahr ohne Oktoberfest, es ging zu Ende mit einem Verbot von Feuerwerksverkauf, der Mitteilung des Zeit-Politikchefs, Fleischessen sei „in unserer Gesellschaft nicht legitim“ und der Ansicht einer fast allgegenwärtigen Talkshow-und Medienfigur, wirtschaftliches Wachstum sei „wie Krebs“. Nun sind weder das Münchner Oktoberfest noch Böllern und Fleischverzehr jedermanns Sache. Aber genau darin, in der Fähigkeit, von sich zu abstrahieren, besteht ja der Kern des Freiheitsverständnisses. Der Autor beispielsweise ist geimpft, aber gegen Impfzwang, Vegetarier, aber dagegen, Fleisch künstlich zu verteuern, er ist Radfahrer, denkt aber nicht daran, die Diskriminierung eines anderen Verkehrsmittels zu fordern. Er bräuchte auch Wirtschaftswachstum wahrscheinlich weniger als viele andere. Abstraktionsfähigkeit ist nötig, um die Freiheit der anderen zu verteidigen. Die Freiheit der anderen zu verteidigen – das ist nötig zur Verteidigung der Freiheit, die es nur ganz und mit Eigensinn gibt.

Den Begriff „Vulgärautoritäre“ benutzt niemand, und das aus einem guten Grund. Leute, denen Freiheit als verdächtiger Begriff gilt, sind praktisch immer auch vulgär.
Wenn der politisch-medialen Klasse in den vergangenen beiden Jahren eines gelungen ist, dann die vollständige Wiederbelebung des autoritären Charakters in Deutschland, der nie verschwunden war, aber sich jetzt so frisch und kregel fühlen darf wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Was gab es an Gutem im Jahr 2021? Die Bundestagswahl zeigte, dass selbst eine große und gut finanzierte Medien- und Einflussorganisationen-Phalanx nicht über die Kraft verfügte, ihre Kandidatin durch Beschwörung ins Kanzleramt zu befördern. Und dass eine erstaunlich kleine eigensinnige Gegenmacht es schaffte, die Luft aus einer auf Überlebensgröße gepumpten Politikerfigur zu lassen. Hier sind vor allem Hadmut Danisch und Don Alphonso zu nennen.

Diesem Schauspiel und damit auch ganz indirekt Annalena Baerbock verdankte Publico 2021 auch mit Abstand die meisten Leser eines einzelnen Beitrags. Im gesamten Jahr verzeichnete die Seite 4,029 Millionen Seitenabrufe – überwiegend aus Deutschland, aber zunehmend auch aus Österreich und der Schweiz. Der am häufigsten abgerufene Publico-Text 2021 war „Das Drama des unbegabten Kindes“, auf Platz zwei folgte „Annalena Baerbocks Abschluss“, auf dem dritten Platz landete der Beitrag „Seht euch die Videos aus Berlin, aus Basel, aus Wien, aus Toronto genau an“, in dem es um die Ausbreitung des Antisemitismus im speziellen und grundsätzlich um die illiberale Drift in der westlichen Welt ging.
Der am häufigsten abgerufene Gastbeitrag 2021 war „Die magische Kraft der Armbinde“ von Wolfram Ackner, es folgten der Wörterbuch-Eintrag „Tote Radfahrende“ von Jürgen Schmid und die Corona-Reisereportage „Land unter war gestern, heute ist Lockdown“ von Oliver Driesen.

Nicht nur gut, sondern großartig – um das einmal ganz eigensinnig zu erwähnen – war die auch 2021 großartige Unterstützung durch viele Leser, die es erlaubte, das redaktionelle Angebot von Publico weiter auszubauen. Und die ganz nebenbei zeigt, dass erstaunlich viele bereit sind, auch ohne Bezahlschranke für journalistische Texte etwas zu bezahlen.
Zu den angenehmen Entwicklungen zählt außerdem das Leserforum; es blieb auch in diesem polarisierenden Jahr ein Ort des Austauschs, in dem Leser Debatten fast durchweg höflich und ruhig austragen. Manche Beträge dort haben die Qualität von Artikeln.
Publico wünscht Ihnen ein innerlich freies, ein hoffentlich auch lustvolles Jahr 2022, trotz aller Zumutungen. Gegen die hilft ein großes Quantum Eigensinn.

Auf ein Neues!

Alexander Wendt, Autoren & Redaktion

 


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15 Kommentare
  • Christoph Nielen
    31. Dezember, 2021

    In diesem Sinn wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Jahr 2022.

  • Frank Danton
    31. Dezember, 2021

    Lassen Sie mich zu ihren Wünschen den Humor hinzufügen. Ein wichtiger Bestandteil eines Lebens ausserhalb jeder Ideologie.

  • Ernst - Günther Zimniok
    1. Januar, 2022

    Auch Ihnen und der Redaktion wünsche ich ein gesegnetes Jahr 2022. Bleiben Sie behütet!

  • Leser
    1. Januar, 2022

    “Wenn der politisch-medialen Klasse in den vergangenen beiden Jahren eines gelungen ist, dann die vollständige Wiederbelebung des autoritären Charakters in Deutschland, der nie verschwunden war, aber sich jetzt so frisch und kregel fühlen darf wie seit Jahrzehnten nicht mehr.”

    Ja, das sehe ich genauso. Die politisch-mediale Klasse hat ganze Arbeit geleistet. Das “deutsche Wesen” hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte offenbar sehr viel weniger verändert, als es eine Zeitlang vielleicht den Anschein machte. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wendt, bin ich nicht geimpft und habe auch nicht vor, mich impfen zu lassen. Ich befürchte daher, dass ich den totalitär-autoritären Charakter des “deutschen Wesens” 2022 noch in seiner vollen Härte zu spüren bekommen werde.

    Das “deutsche Wesen” flüstert mir jetzt gerade ins Ohr: “Mach es Dir nicht so schwer, entspann Dich. Die Impfung ist doch nur zu Deinem Besten. Nur ein Pieks (oder zwei oder drei, vielleicht auch mehr) und schon bist Du wieder einer von uns, gesund und munter bis ans Lebensende. Du wirst nicht mehr gemobbt, beschimpft, beleidigt, verhöhnt, diskriminiert, ausgegrenzt, kriminalisiert, zu Hause eingesperrt, mit Bußgeldern und Beugehaft bedroht. Nur wenn Du nicht willig bist, brauchen wir Gewalt. Aber wirklch nur dann, ganz ehrlich! Also da dürfte die Entscheiung doch nicht zu schwer fallen. Mach einfach mit, sei einer von uns, sei einer von Milliarden Geimpften und Geheilten, sei ein Mensch.”
    Halleluja, wer könnte da schon widerstehen?

  • Immo Sennewald
    1. Januar, 2022

    Danke für den erfrischenden Neujahrsgruß. Die guten Wünsche erwidere ich herzlich gerne – nicht von Ungefähr folgt mein Weblog dem Motto “Eigensinn verpflichtet!”

  • Wolfgang Welz
    1. Januar, 2022

    Lieber Herr Wendt,
    ich wünsche auch Ihnen, Ihren Lesern und Nichtlesern, ja sogar dem “Pack”, von dem in diesen Tagen häufig zu lesen und zu hören ist, ein glückliches und friedvolles Jahr 2022. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, im respektvollen Umgang miteinander Gedanken auszutauschen, im Sinne der Philosophie von Rousseau, Descartes und Kant zu besseren Erkenntnissen zu kommen und sie zu teilen.

  • Manfred Müller
    1. Januar, 2022

    Vielen Dank für diesen Text und ein gutes neues Jahr! “das unbegabte Kind” ist ein Meisterwerk journalistischer Analyse. Neutrale, evidenzbasierte Informationen sind Grundlage des freien Willens. Wenn ich nicht weiß was genau passiert kann ich auch keine freie Entscheidung treffen. Und in der Corona Krise wird ungeheuerlich gelogen, verschwiegen, verdreht. Von staatlichen Institutionen und Medien. Ihre Seite ist ein Lichtblick. mfg M.M

  • Libkon
    1. Januar, 2022

    Ohne Sie, Herr Wendt, wäre der deutsche Journalismus ohne Intelligenz und ohne sozialer Wärme. Gut, dass es Sie gibt. Bleiben Sie so, wie Sie sind. Bitte.

  • Alexander
    1. Januar, 2022

    Herrn Winfried Kretschmann sind diese Worte des Schriftstellers, Dichters und Nobelpreisträgers für Literatur, Hermann Hesse, gewidmet:
    “Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn – Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern hören, kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle so beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. der Eigensinn ist es,der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, dem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem Sinn für das “Eigene”…….
    Einen “eigenen Sinn” nun hat jedes Ding auf Erden, schlechthin jedes. Jeder Stein, jedes Gras, jede Blume, jeder Strauch, jedes Tier, lebt, tut und fühlt lediglich nach seinem “eigenen Sinn”, und darauf beruht es, dass die Welt gut, reich und schön ist. Dass es Blumen und Früchte, dass es Eichen und Birken, dass es Pferde und Hühner, Zinn und Eisen, Gold und Kohle gibt, das alles kommt einzig und allein davon her, dass jedes Ding im Weltall seinen “Sinn” hat, sein eigenes Gesetz in sich trägt und vollkommen sicher und unbeirrbar seinem Gesetz folgt. Einzig zwei arme, verfluchte Wesen auf Erden gibt es, denen es nicht vergönnt ist, diesem ewigen Ruf zu folgen und so zu sein, so zu wachsen, zu leben und zu sterben, wie es ihnen der tief eingeborene Sinn befiehlt. Einzig der Mensch und das von ihm gezähmte Haustier sind dazu verurteilt, nicht der Stimme des Lebens und Wachstums zu folgen sondern irgendwelchen Gesetzen, die von Menschen aufgestellt sind und die immer von Zeit zu Zeit wieder vom Menschen gebrochen und geändert werden. Und das ist nun das Sonderbarste: Jene wenigen, welche die willkürlichen Gesetze missachten, um ihren eigenen, natürlichen Gesetzen zu folgen – sind zwar meistens verurteilt und gesteinigt worden, nachher aber wurden gerade sie, für immer als Helden und Befreier verehrt. Dieselbe Menschheit, die den Gehorsam gegen ihre willkürlichen Gesetze als höchste Tugend bei den Lebenden preist und fordert, dieselbe Menschheit nimmt in ihr ewiges Pantheon gerade jene auf, die jener
    Forderung Trotz boten und lieber ihr Leben liessen, als ihrem “eigenen Sinn” untreu wurden. ………

    • M.Junk
      3. Januar, 2022

      Wie glücklich war der eigensinnige Hermann Hesse summarisch – oder wollen uns seine Worte wichtigeres als “Glück und Frieden” anzustreben auf den Weg geben ? Nun, dann bleibt es ein Thema für absolute Minderheiten.
      Anpassung ist für viele Lebensabschnitte im größtenteils humanogenerischen Dasein wesentlicher für “das Gemeinsame”. Und dort werden die Massen an “Lebens-Ernten” eingefahren.
      Nicht vorwiegend bei Eigenbrötlern.
      Zur Korrektur und zur Navigation allerdings sind die “Einzigartigen” für die Massen unerläßlich…

  • Ruth (CH)
    1. Januar, 2022

    Sie und Ihr Team, für mich seid ihr DIE Dichter und Denker im Land der Dichter und Denker!
    Danke! Und auf ein gutes neues Jahr!

  • O. Wewers
    2. Januar, 2022

    Ihnen und Ihrer Redaktion wünsche ich ein gesegnetes und gesundes Jahr 2022!

    PS: Habe vor Kurzem auf Netflix “Don’t Look Up” gesehen. Falls Sie diesen verstörenden Film auch gesehen haben, eine Frage: Geht es hier um einen Kometen, oder um C.?

  • A. Iehsenhain
    2. Januar, 2022

    Alles Gute für 2022 an Publico und seine Leser! Bezüglich der Politik gilt leider weiterhin folgender Slogan: ‘Was der Volksvertreter als das Beste für das Volk erachtet, ist für den Volksvertreter selbst gerade einmal schlecht genug’…

  • GerechtigkeitfürSentaTroemelPloetz
    3. Januar, 2022

    ‘Am Sonntagnachmittag [2.1.22] twitterte Ralf Stegner: „Verstrahlte Reaktionen der Atomfans auf allen Social Media Kanälen bestätigen noch einmal in eindrucksvoller Weise alles, was ich in letzter Zeit dazu geschrieben habe. Inhaltlich und im Ton stehen sie Impfgegnern, Corona-Leugnern und Rechtsradikalen kaum nach.“’

    Jetzt sind diese Sch..-Nazi auch für Atomkraft! Adolf Hitler wird mir immer noch unsympathischer.

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