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Wissenschaftler fordern Abkehr vom deutschen Atomausstieg

Zwanzig Energie-Experten rufen zu einer realitätspolitischen Wende auf. Publico dokumentiert ihren Appell, mit dem die Unterzeichner eine öffentliche Debatte erzwingen wollen

Auf der Tagung „20 Jahre Energiewende – Wissenschaftler ziehen Bilanz“ an der Universität Stuttgart am 8. und 9. Juli 2022 widmete sich eine Reihe von Experten der Aufgabe, die energiepolitischen Pläne der aktuellen Bundesregierung und der Regierungen vor 2021 einer Realitätsüberprüfung zu unterziehen.

Ihr Fazit lautete: Egal, ob es um die Energieerzeugung, ihre Speicherung, den Netzausbau oder die Frage der Bezahlbarkeit geht – zwischen der Vorstellung in der Politik und den begleitenden Erzählungen in vielen Medien einerseits und der Wirklichkeit klafft eine Lücke, die sich auch bei noch so großer Anstrengung in absehbarer Zeit nicht schließen lässt.

Spätestens seit sich das Vorhaben nicht mehr verwirklichen lässt, bis 2030 dreißig bis sechzig neue mit russischem Gas belieferte Gaskraftwerke zu errichten, die den Strom aus Atom- und Kohlekraftwerken ersetzen und die nötige Regelenergie liefern sollten, wenn der Wind nicht ausreichend weht und die Sonne nicht scheint, brach die zentrale Stütze des Energiewende-Designs zusammen. Einen Alternativplan legte die Bundesregierung bisher nicht vor.

Die Debatte innerhalb des politischen Betriebs und in einem Teil er Medien konzentriert sich zurzeit auf einen Weiterbetrieb der letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke für einige Monate über das Jahresende 2022 hinaus. Gleichzeitig plädieren Politiker, die bisher die Reduzierung des CO2-Ausstoßes zum obersten Ziel erklärt hatten, für eine sehr viel stärkere Kohleverstromung, um nicht eingestehen zu müssen, dass es sich bei dem deutschen Atomausstieg um einen irrationalen Sonderweg handelt, der die Energieversorgung des größten europäischen Industrielandes aufs Spiel setzt. Derzeit steht übrigens noch nicht einmal fest, ob sich die notwendige zusätzliche Steinkohlemenge überhaupt zuverlässig zu den Kraftwerken transportieren lässt.
Eine Betriebsverlängerung der Atomkraftwerke nur um einige Monate würde das grundsätzliche Problem nur ein weiteres Stück in die Zukunft verschieben.

Auf Anregung von Professor André Thess, Organisator der Tagung und Inhaber des Lehrstuhls für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart fanden sich Wissenschaftler von 12 Universitäten und Hochschulen und dem Karlsruher Institut für Technologie zusammen, um Politik und Öffentlichkeit mit der „Stuttgarter Erklärung“ zu einer Art Realitätswende aufzurufen: weg von immer neuen hektischen Kurswechseln, hin zu einer langfristig stabilen und bezahlbaren Energieversorgung, die es ihrer Ansicht nach nicht ohne Kernenergie geben kann.
Die Erklärung wurde am 26. Juli beim Petitionsausschuss des deutschen Bundestages eingereicht. Erhält sie mehr als 50 000 Unterschriften, muss ihre Forderung im Parlament behandelt werden: die Rücknahme des Atomausstiegs.

Ziel der Erklärung ist es außerdem, über das parlamentarische Verfahren hinaus eine Debatte in Deutschland anzustoßen, bei der Wissenschaftler mehr und anders zu Wort kommen als bisher.

Publico dokumentiert ihren Wortlaut.

 

Stuttgarter Erklärung

25. Juli 2022

Mit einseitiger Ausrichtung auf Sonne, Wind und Erdgas wurde Deutschland in Energienot manövriert. Steigende Energiepreise und sinkende Versorgungssicherheit gefährden Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Das Festhalten am deutschen Atomausstieg verschärft diese Gefahren und bremst – zusammen mit anhaltender Kohleverstromung – den internationalen Klimaschutz. Der Weltklimarat IPCC bezeichnet die Kernenergie als ein Instrument des Klimaschutzes. Die Europäische Union ordnet Kernenergie als nachhaltige Energiequelle ein. Auf dieser Grundlage plädieren wir für den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke als dritte Klimaschutzsäule neben Sonne und Wind. Wir fordern die sofortige Aufhebung der Atomausstiegs-Paragraphen (insbesondere §7 Atomgesetz) und eine Prüfung der sicherheits- technischen Betriebserlaubnis, um deutschen Kernkraftwerken den Weiterbetrieb zu ermöglichen.

Prof. Dr. André D. Thess, Universität Stuttgart
Prof. Dr. Harald Schwarz, BTU Cottbus-Senftenberg
Prof. Dr. Michael Beckmann, TU Dresden
Prof. Dr. Burak Atakan, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Alexander Dilger, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Francesca di Mare, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Kerstin Eckert, TU Dresden
Prof. Dr. Sabine Enders, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Martina Hentschel, TU Chemnitz
Prof. Dr. Dr. Rafaela Hillerbrand, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Antonio Hurtado, TU Dresden
Prof. Dr. Matthias Kind, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Marco Koch, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Andrea Luke, Universität Kassel
Prof. Dr. Axel Meyer, Universität Konstanz
Prof. Dr. Frank R. Schilling, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Klaus Steigleder, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Robert Stieglitz, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Prof. Dr. Gerhard Wegner, Universität Erfurt
Prof. Dr. Thomas Wetzel, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

 

Redaktion:

Kommentare anzeigen (4)

  • Kennt jemand noch Bronislav Malinowski? Sein Werk "The Sexual Life of Savages in North-Western
    Melanesia" , wie der politisch inkorrekte Wortgebrauch andeutet, schon etwas älter, nämlich von 1929, ist ein Klassiker der Ethnologie. B.M. berichtete da über die erstaunliche Tatsache, dass den Trobriand-Insulanern der Zusammenhang zwischen Sex und Schwangerschaft unbekannt war. Vielmehr glaubte man dort, eine Frau würde schwanger, indem der Geist eines Vorfahren in ihren Körper führe.
    Anderes Beispiel: Die Rastafarian-Sekte hält den langjährigen Diktator Äthiopiens, Haile Selassie, für eine Art Wiedergeburt Christi (zur Erinnerung: die Rastas tragen jene Frisur, die bei Weissen als "kulturelle Aneignung" gilt).
    Was hat das mit den deutschen Atomkraftwerken zu tun? Viel!
    Denn die Beispiele legen nahe, dass der Brief der Wissenschaftler völlig nutzlos ist. Eher versteht ein Trobriander, dass Sex ohne Verhütung zu Schwangerschaft führen kann, und eher sieht ein Rasta ein, dass Haile Selassie nichts Heiliges an sich hatte, als dass der gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesenintellektuelle deutscher Herkunft einsieht, dass es eine reale Welt jenseits seiner idealistischen Träume gibt.
    So wie Franzosen als Feinschmecker und Brasilianer als Fussballer geboren werden, so haben wir Deutschen die Weltfremdheit in unseren Genen. Das hat zu wunderbarer romantischer Literatur und zu hochkomplexen (manche würden sagen: abgehobenen) philosophischen Theorien geführt, aber mit der schnöden Realität haben wir es einfach nicht so.
    Man mag einwenden, dass deutsche Ingenieure und Erfinder doch sehr wohl praktischen Geist bewiesen hätten. Aber das ist zwar eine feine, jedoch eher kleinere Minderheit von uns - sie spielt auf jener erhabenen Ebene, auf der sich wirklich grosse Geister tummeln, keine Rolle.
    Diese erhabene Ebene, das ist nun einmal die Moral. Und welches Volk könnte für Erwägungen auf dieser Ebene prädestinierter sein als wir Deutsche, wo wir doch täglich über den Holocaust nachdenken...
    Nein, Ingenieure stellen nicht die wahre deutsche Elite dar.
    Das sind eher Theaterwissenschaftler, Kinderbuchschreiber, Leute, "die aus dem Völkerrecht kommen", abgebrochene Studenten, Theologen, Sozialarbeiter, Psychologen, und ähnliche Faktenspezialisten.
    Dementsprechend haben solche hehren Berufe ja auch in Deutschland ihre eigene Partei (vielleicht sogar zwei).
    SIE sind die wahren Experten dafür, ob wir Atomkraftwerke nutzen dürfen, Fleisch essen sollten, unsere Sprache gendern sollten, und wie wir in Urlaub fahren dürfen.
    - Verglichen mit diesen edlen Gemütern haben solche banale Figuren wie Physiker und andere Naturwissenschaftler bei uns nichts zu melden. Wo kämen wir denn da auch hin?
    Wenn wir im Winter frieren werden, und die Lichter ausgehen, dann wärmen wir uns eben am Feuer des Geistes, der uns gleichzeitig leuchtet .
    Oder auch heimleuchtet.

  • Ehrenwert aber leider vorhersehbar wirkungslos. Die Naturwissenschaftler reden sich seit Jahren den Mund fransig und sie können unsere politische Elite nicht von ihrem verbissenen Kampf gegen die Grundrechenarten und die Physik abbringen. Jedem Professor Thess werden sie eine Professorin Kämpfert und zwei Professoren Stöcker (der, der neulich im Spiegel einen ganzen Gemischtwarenladen von tollen Luftschlössern vorstellte) entgegenstellen und die Menschen/Wähler werden tief beeindruckt von der Mehrheit der Wissenschaftler sein, die ganz, ganz fest daran glaubt, dass "wir" (damit meinen sie sich selbst) mit "regenerierbarer Energie" hervorragend leben werden. Natürlich zeichne ich die Petition, natürlich beteilige ich mich an Diskussionen und tröste mich mit der neuzeitlichen Interpretation, dass Sisyphos ein glücklicher Mensch war.

  • Ich komm da nicht mehr mit

    *Wissenschaftler fordern Abkehr vom deutschen Atomausstieg*

    Nanu.
    Wissenschaftler stellen sich der so genannten "Die Wissenschaft" in den Weg? Die Machthaber in Deutschland werden das wohl nicht einmal ignorieren.

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