Vor fast genau fünf Jahren begann in Berlin ein Experiment, von dem sich der Veranstalter sagte, dass es, sollte es gut gehen, auf absehbare Zeit kein Ende haben würde.
Der Versuch bestand darin, in einer Medienkrise ein neues Medium zu gründen. Und das mit den geringsten Mitteln, ausschließlich online, und am Anfang mit einem Unternehmer und Mitarbeiter. Bei dem Medium handelte es sich um Publico, bei dem Leiter des Experiments um mich. In gewisser Weise bin ich auch sein Gegenstand. Damals gehörte ich der Redaktion eines damals noch größeren Magazins an. Zwei Jahre später nicht mehr.Publico startete am 5. November 2017 (wie fast immer kommt auch dieser Text ein paar Tage später, als er sollte) an einem Schreibtisch im Grenzgebiet zwischen Schöneberg und Kreuzberg mit einem Text über das ganz naheliegende, nämlich den Themenpark Berlin.
Publico startete kalt. Und fand trotzdem schon in den ersten Tagen einige tausend Leser. Es gab nie so etwas wie einen Geschäftsplan. Für die gilt sowieso, was Moltke einmal über Kriegspläne sagte: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“ Statt irgendwelcher Ziele gab es ein paar Grundsätze für das Magazin für Politik, Gesellschaft und Übergänge (so der Untertitel von Publico). Der erste lautete, etwas Aufwand in Layout und Illustrationen zu stecken, der zweite, weitgehend werbefrei zu bleiben. Drittens, keine Bezahlschranke einzuführen, sondern sich auf die Bereitschaft der Leser zu verlassen, für Lesestoff nach eigenem Gutdünken zu bezahlen.
Was die Inhalte angeht, sollten die Texte unabhängig vom Thema eine Leichtigkeit behalten. Sie sollten, um noch einmal auf Moltke zurückzukommen, nicht als Feindberührungen stattfinden (mangels Feinden). Sondern im Idealfall, also wenigstens ab und zu, beim Erkennen von Mustern helfen. Zunächst einmal dem Autor selbst, denn eigentlich findet das Experiment auch in jedem Text selbst statt. So gut wie nie weiß ich, wenn ich zu schreiben anfange, was am Schluss steht.
Apropos Idealfälle: Sie sind eingetreten. Erstens und überhaupt: Da es sich bei der sogenannten Medienkrise um eine Krise des Angebots handelt und nicht der Nachfrage, fand das kalt gestartete Onlinemagazin, hinter dem kein Verlag stand und steht, ziemlich schnell ein Publikum. In den fünf Jahren erlebte Publico insgesamt 16 Millionen Seitenabrufe (genau 16 818868) von insgesamt 2,677 Millionen Nutzern und erreicht monatlich zwischen 80 000 und 100 000 Leser. Damit gehört es zu den kleinen Plattformen, die in keinem Ranking auftauchen. Es sind aber auch keine ganz schlechten Zahlen für ein Medium, das leider nicht wie die Großen täglich dutzende Beiträge bietet, sondern nur einige pro Woche, 996 in den vergangenen Jahren insgesamt. Und dann auch noch Texte von oft mehr als 20 000, mitunter sogar 30 000 Zeichen, die nach Ansicht von Medienberatern allein schon wegen ihrer Buchkapitellänge eigentlich kaum Leser finden dürften, denn angeblich nimmt die gesellschaftliche Aufmerksamkeitsspanne ja ständig ab. Offenbar aber nicht immer und überall.
Der zweite Idealfall besteht darin, dass ein Teil der Leser freiwillig und nach Lust und Laune für ein Gratisangebot Geld überweist und damit ein kleines Magazin am Laufen hält, das auch in Rezessionszeiten die Honorare für die unentbehrliche Redakteurin von Publico und die Autoren zahlen muss, außerdem die Kosten für den technischen Betrieb. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle, die in diesem halben Jahrzehnt etwas überwiesen haben, egal, wie viel es war. Einige wenige Male seit 2017 kamen auch Schweizer Franken bei mir an, einmal sogar eine kleine Unterstützung in australischen Dollar, natürlich bei PayPal schon in Euro umgerubelt. In diesen exotischen Fällen steigt der Nominalwert der Unterstützung inzwischen ganz automatisch. Sie sehen, ich erkenne auch das Positive.
Das Experiment Publico beansprucht den Autor und verschluckt ihn gelegentlich. Auch nach fünf Jahren und insgesamt mehr als dreißig Jahren Routine dauert das Schreiben immer noch länger als gedacht. Auf bestimmte Dinge ist Verlass. Bananen sind immer Taste eins, Kabel verknäulen sich immer spontan, entwirren sich aber nie von allein. Und bis zum Schlusspunkt des Textes dauert es so gut wie immer die eine Stunde länger, die der Autor eigentlich gern für irgendwelche anderen Dinge des allgemeinen Lebensvollzugs gehabt hätte. Manche Texte entstehen nachts, manche im Bordrestaurant der Bahn, einige auch nachts im Zug. Der Zustand der Bahn hat nicht nur Nachteile; ab und zu reicht die Fahr- und Stehzeit zwischen Berlin und München für einen ganzen Beitrag.
„Wie nun die Jährchen wechselten“ (Der Zauberberg), kamen zum Glück die oben erwähnten Autoren dazu. Sehr früh Bernd Zeller mit seinem Cartoon am Montag, dann Wolfram Ackner, Jürgen Schmid und Oliver Driesen als Dauergäste.
Ein Text verdrängt immer einen anderen, der eigentlich auch hätte geschrieben werden müssen. Es gibt sehr viele Dinge, die sich der Publico-Gründer wünscht. Mehr Texte. Mehr Autoren. Eine bessere Suchfunktion. Neue Rubriken. Ab und zu ein eigenes Video. Mehr Grafiken. Mehr Leser. Und natürlich noch einen zusätzlichen Wochentag, um alles, was nicht sofort erledigt werden muss, dorthin zu schieben. Das eine oder andere lässt sich vielleicht in den kommenden fünf Jahren verwirklichen. Nur nicht ein Publico-Printmagazin, jedenfalls nicht bei diesen Papierpreisen und meinen Kapitalverhältnissen.
Unter diesem Text finden Sie eine kleine Auswahl von Beiträgen der vergangenen fünf Jahre, die überdurchschnittlich viele Leser fanden und mitunter auch zitiert wurden.
Einer meiner Lieblingssätze von Karl Kraus lautet: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“
Im November 2017 habe ich das wahrscheinlich getan.
Liebes Publikum: Vielen Dank für alles. Auch für genau 14 612 Leserkommentare auf Publico.
Auf die nächsten fünf Jahre. Das Experiment geht weiter.
Kleine Auswahl von 2017 bis 2022
Die offene Gesellschaft und ihr Stephan Harbarth
Das Drama des unbegabten Kindes
Die magische Kraft der Armbinde
Text von Wolfram Ackner
Plötzlich wieder Wir
Text von Jürgen Schmid
Für Tom Buhrow auf Sparsafari bei ARD und ZDF
Die Frage, die Angela Merkel nie stellen wird
Publico Dossier: Die Psychologie des grünen Erfolgs
Text von Dirk Schwarzenberg und Alexander Wendt
Gerechtigkeit für Claas Relotius!
Modell Berlin: Verwahrlosung tötet
Kommentare anzeigen (14)
Danke, Herr Wendt,
Ihre Artikel richten mich immer wieder auf: "Irgendwo da draussen, ja eigentlich sogar ganz in der Nähe in München, gibt es noch einen Menschen, der so analysiert und bewertet wie Du." Auch auf Ihre "Freitags-Weisheiten" freue ich mich jede Woche. Ich werde Sie auch weiter finanziell unterstützen!
Inzwischen bin ich regelmäßiger Leser von publico und freue mich, dass es wohl gut vorangeht. Mit Beiträgen wie z.B. "Das Drama des unbegabten Kindes" oder "Die Frage, die Angela Merkel nie stellen wird" bekomme ich hier etwas, das auch bei guten Tageszeitungen nicht zu finden ist: Eine tiefergehende Betrachtung bzw. psychologische Deutung der Charaktere der handelnden Akteure.
Publico ist meiner Meinung nach, eine der besten Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum. Außerdem ist mir jemand, der nachts im Bordrestaurant oder ähnlichen Orten schreibt, von Hause aus sympathisch.
À propos Aufmerksamkeitsspanne: ich bin froh über ein Format, bei dem nicht nach den ersten Sätzen der Schluß eingeleitet wird.
Als Komponist zeitgenössischer Musik, sehe ich da eine gewisse Nähe.
Weiterhin viel und immer noch mehr Erfolg für die nächsten 5 hoch x Jahre!
<3
Moin Moin Herr Wendt!
"So gut wie nie weiß ich, wenn ich zu schreiben anfange, was am Schluss steht."
Genau das ist das Problem! Jede These muß von Anfang an feststehen, dann erst beginnt der Qualitätsjournalist mit der Zusammensucherei möglicherweise thesenunterstützender Schnipsel, zwischendrin ist der Text selbstredend von möglichst greller Werbung zu unterbrechen, um Gedankenarbeit der Leserschaft zu behindern. Darum übrigens sollte auch konsequent gegendert werden, also nicht "Leserschaft", sondern Leserschäft_:/innenxende und Leserschaft_:/InnenxInnen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk führt das vorbildlich vor.
Am Ende dann das Conclusio, was das Leserpack gefälligst laut Auftrag zu denken hat, im Idealfall ist so ein abschließender Satz mit einem, besser mehreren Ausrufezeichen beendet!!!
Alles Gute für Ihr weiteres Schaffen und danke für bereits Geleistetes,
beste Grüße aus Elmshorn :-)
Gratulation! Machen Sie weiter, Herr Wendt! Seit ich dank der offiziellen Corona-Berichterstattung auf Ihren Blog gestoßen bin, warte ich immer gespannt auf den nächsten Essay, und viele Ihrer wunderbaren Texte werden von mir geteilt. Immer erkenntnisfördernd, immer auch mit Leichtigkeit und elegantem Witz! Herzlichen Dank!
Besten Dank, Herr Wendt, fuer Ihre wunderbaren Artikel, die schon ins essayhafte gehen und die in der deutschsprachigen Medienlandschaft ihresgleichen suchen. Bleiben Sie bitte am Ball.
Herzlichen Glueckwunsch an Sie und Ihr kleines Team zum Fuenfjaehrigen von "Publico" und alles Gute weiterhin.
Herzlichen Dank, Herr Wendt.
Der Ton in Ihren klugen Texten ist wie Musik in meinen Ohren.
Lieber Herr Wendt,
Sie glauben gar nicht, was für eine Wohltat Ihre Texte für einen Homo Politicus manchmal sind, der sein Geld mit anderen Themen verdient und dennoch die politische und mediale Landschaft seit Jahrzehten verfolgt - und niedergehen sieht.
Ich würde sogar meinen, mancher Text fördert direkt meine Gesundheit!
Vielen Dank dafür.
mfg
Wenn ich zurückdenke, was ich hier die letzten zwei Jahre lesen durfte (von Autoren und anderen Kommentatoren), dann kann ich heute nur sagen - die Bibliothek von Alexandria mag verschollen sein. Ein Teil davon wurde hier wiedergeboren...