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Das Ende der schnatternden Klasse durch künstliche Intelligenz und die Unsterblichkeit: ein Jahresvorblick

Mit ChatGPT gibt es ein Programm, das den Journalismus und das gesamte akademische Milieu radikal umpflügen wird. Wahrscheinlich macht es die Öffentlichkeit aber auch gleichförmiger. Es dürfte die Gesellschaft jedenfalls tiefer verändern als Mobiltelefon und Computer

Wirklich große Umwälzungen kommen meist unter unauffälligen Namen. Einer lautete DynaTAC 8000X; es handelte sich um das erste in Serie gebaute schnurlose Telefon der Welt, das Motorola im Jahr 1983 auf den Markt brachte.

Es ging auf einen namenlosen Prototyp zurück, mit dem sein Erfinder Martin Cooper, ein Ingenieur des Jahrgangs 1928, schon am 3. April 1973 in New York das erste Gespräch führte (er rief Bell Laboratories an).
Am 20. November 1985 präsentierte Microsoft eine Entwicklung mit der Bezeichnung Windows 1.0, die erste grafische Benutzeroberfläche für seinen Personal Computer. Das System – und noch einige Entwicklungen mehr – machten aus dem Rechner einen Alltagsgegenstand.

Am 30. November 2022 ging ChatGPT von einem Rechner in San Francisco online, ein Chatbot, also ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Kommunikationsprogramm. GPT steht für „Generative Pre-Trained Transformer“. Ein paar Tage später, am 4. Dezember 2022, erreichte ChatGPTP seine erste Million Nutzer. Das Programm lässt sich kinderleicht bedienen. Einstweilen kostet es seine Nutzer nichts. ChatGPT dürfte die Welt mindestens so stark ändern wie das mobile Telefon und der private Rechner. Möglicherweise auch stärker. Es handelt sich nicht nur um Technik, die bestimmte Dinge bequemer macht und Anwendungen ermöglicht, die sich bis jetzt noch kaum absehen lassen, so, wie Cooper 1973 nicht wissen konnte, was innerhalb von dreißig Jahren aus seiner Erfindung werden würde. Der Chatbot dringt in eine sehr viel tiefere Schicht ein. Er wird die Sprache ändern und das Verhalten von Menschen. Er ändert die Matrix ganzer Gesellschaften.

Bei ChatGPT handelt es sich um eine Art Hyper-Google. Nach der Anmeldung kann der Nutzer dem Programm eine beliebige Aufgabe in das Dialogfeld tippen. Schreibe einen Essay über das Werk von David Hume unter besonderer Berücksichtigung seines Paris-Aufenthalts. Was sind die wichtigsten Investment-Trends für 2023? Schreibe eine Neujahrsansprache für Olaf Scholz. Schreibe eine Theaterkritik zu dem Stück XY im Stil der New York Times. Was hat uns Fontanes „Effi Briest“ heute noch zu sagen?

Eine Sekunden nach Eingabe entsteht der Text am Bildschirm vor den Augen des Nutzers. In der Regel dauert es zwischen 10 und 20 Sekunden, bis ChatGPT den Schlusspunkt unter den Text setzt. Teilt der Aufgabensteller mit, er sei nicht ganz zufrieden, was ab und zu passieren kann – schließlich erlebt es gerade seine ersten Praxiswochen – entschuldigt sich das Programm höflich, um noch einmal anzusetzen.

ChatGPT kann auch Kurvendiskussionen durchführen und in verschiedenen Programmiersprachen Codes verfassen. Aber nichts wirkt mit hoher Sicherheit so umwälzend wie seine Fähigkeit, Texte zu beliebigen und durchaus komplexen Themen auszuspucken. Sie bestehen aus bekannten Daten und Versatzstücken, angefangen von Wikipedia über journalistische Texte bis zu akademischen Datenbanken (in der Anglosphäre existieren gewaltige digitalisierte und bestens verschlagwortete Materialmengen). Eine gewisse Ambivalenz erzeugt das Programm durch eine sehr vorhersehbare Einerseits-Andererseits-Erörterung bei philosophischen und politischen Themen. Seine Texte besitzen eine vernünftige Gliederung, die Formulierungen wirken klar, Abschweifungen und Redundanzen finden sich nicht, auch keine Rechtschreibfehler. Im Stil versucht sich ChatGPT den Vorgaben anzupassen, mit wechselhaftem Erfolg zwar, aber bei ausreichendem Trainingsmaterial imitiert es ein bestimmtes Medium oder eine bestimmte Textsorte schon halbwegs gut. Seine Texte lesen sich durchweg flüssig. Die Welt stellt zu Recht fest: „Sie übertreffen die Ausdrucksfähigkeit vieler Studierender deutscher Hochschulen bei Weitem, aber auch von Managern und Führungskräften.“

Den Turing-Test würde ChatGPT nicht bestehen, jene von Alan Turing entwickelte Prüfung, mit der Menschen beurteilen, ob sie mit einem anderen Menschen oder einem Programm kommunizieren. Die Texte des Chatbots lesen sich zwar korrekt, allerdings auch völlig steril. Wer etwas Sprachempfindlichkeit mitbringt, erkennt die (sauberen) Fugen zwischen den konventionellen Textbausteinen. Es gibt nicht die kleinste Überraschung in den Aufsätzen von ChatGPT, keine verblüffende Argumentationskurve, vor allem nicht ein Körnchen Witz. Es gibt kein Risiko des Autors – mangels Autorenschaft. Kurzum, ChatGPTs Produktion unterscheidet sich nicht von etwa einhundert Prozent aller Pressemitteilungen, ebenfalls nahezu einhundert Prozent aller politischen Reden, den meisten akademischen Aufsätzen und der Mehrzahl aller medienmenschengemachten Texte. Am besten fragt man ChatGPT selbst, was es damit mittelfristig in den Medien bewirkt. Seine Antwort an den Autor dieses Textes, gegeben am 29. Dezember 2022, lautet folgendermaßen:

“Es ist schwierig, die Zukunft des Journalismus exakt vorauszusagen, wenn ChatGPT oder irgendeine andere spezifische Technologie populär wird. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Nutzung von künstlicher Intelligenz und Automatisierung im Journalismus sich in Zukunft ausweiten wird. Das könnte zu Änderungen in der Art führen, wie Nachrichten produziert und verbreitet werden, und auch die Rollen und Verantwortlichkeiten von Journalisten ändern.“ (“It is difficult to predict the exact future of journalism if ChatGPT, or any other specific technology, becomes popular. However, it is likely that the use of artificial intelligence and automation in journalism will continue to increase in the future. This may lead to changes in the way news is produced and distributed, as well as the roles and responsibilities of journalists.”)

Wann wurde je ein Kündigungsschreiben für große Teile einer Branche so höflich verfasst? Und vor allem durch eine Maschine, die niemand dafür hassen kann?

Bots, die Texte oder auch Bilder und Grafiken fabrizieren, gibt es schon seit längerem. Manche Medien lassen schon Sport- und Börsennachrichten, also einfache Texte, die faktisch nur aus Standardfloskeln bestehen, von Maschinen schreiben. Es gibt KI-Programme, die aus verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten eine neue produzieren, indem sie die Inhalte bündeln, neu abmischen und manche Formulierungen leicht verändern. Mit anderen Worten: Sie arbeiten ähnlich wie viele Doktoranden, nur deutlich schneller und rechtschreibsicherer. Die wahrscheinlich erste vollständig maschinengenerierte Studie mit dem Titel: „Lithium-Ion Batteries: A Machine-Generated Summary of Current Research“ erschien schon vor drei Jahren im Springer-Wissenschaftsverlag.

Seit kurzem wartet neben etlichen ähnlichen bilderzeugenden Angeboten auch die Software Dall-E 2 auf Aufträge; sie entwirft auf Zuruf beliebige Szenen im Stil Vermeers, Gustav Klimts, David Hockneys und anderen. Beispielsweise, wie eine Kunstredakteurin in der Weihnachtsausgabe der „Financial Times“ schrieb, „ein Formel1-Rennen auf dem Mars im Stil von van Gogh“. Bei dem Schöpfer von Dall-E-2 handelt es sich offenbar um den gleichen, der auch ChatGPT in die Welt schickte. Sein Schreib-Bot unterscheidet sich von den Vorläufern dadurch, dass er wesentlich komplexere Texte liefert, in einem variablen, gut lesbaren Stil und zu nahezu allen Themen. Mit jeder neuen Nutzeranfrage und jedem Tag lernt das Programm mehr. Es dürfte also nicht schon übermorgen, aber in mittlerer Frist zumindest in die Nähe des „Großen Automatischen Grammatisators“ kommen, den Roald Dahl 1953 für seine gleichnamige Kurzgeschichte ausheckte. Dort macht die Maschine nach und nach die Schriftsteller Englands arbeitslos, am Ende auch den Erzähler. Die stillgelegten Autoren verarmen trotzdem nicht. Sie erhalten von dem Programmbetreiber eine Art Gnadenbrot.

Was uns zum Journalismus der Zukunft bringt, beziehungsweise zu dem, was ChatGPT und ähnliche Programme davon übriglassen. In der kommenden Pulverisierung einer ganzen Kohorte von Leitartikeleminenzen und -respektabilitäten verwirklicht sich die erste und noch gar nicht mal größte Auswirkung der neuen Bot-Generation.
Wie schon erwähnt: Je stereotyper eine Textsorte, desto perfekter kann ChatGPT sie in einem Bruchteil der Zeit herunterschreiben, die ein Journalist bräuchte. Für die jährlich wiederkehrenden Ratgeberartikel beispielsweise, wie wohlgesinnte Großstadtkinder zu Weihnachten ihren unaufgeklärten Onkel Heinz und die schwurbelnde Tante Heidi ertragen, bräuchte das Programm nur eine extrem kurze Lernkurve.

Die gesamte deutsche Jahresproduktion der allfälligen Artikel über Rassismus hinter jedem Busch, in jedem alten Kinderbuch und neuerdings auch auf den Berggipfeln erledigt ChatGPT demnächst wahrscheinlich in einer Zeit unter fünf Minuten.

Ihm würden bestimmte Pannen nicht unterlaufen, anders als humanoiden Produzenten. Es hätte beispielsweise nicht – wie die Tagesschau es tat – die Geschichte über den verkannten Erfinder Maxwell Chikumbutso aus Simbabwe erzählt, dessen Fernseher keinen Strom verbraucht, sondern produziert.

Denn zum einen greift das KI-Programm mühelos auf die Grundsätze der Thermodynamik zurück, zum anderen wertet es sekundenschnell vorhandenes Material zu Personen aus, und wäre deshalb sofort darauf gestoßen, dass Maxwell mit ähnlichen Lach- und Krachgeschichtenschon seit Jahren durchs Internet tingelt. Dieses Material lag auch für die ARD-Korrespondentin in Johannesburg nur einen Google-Klick entfernt. Nur wollte sie offenbar unbedingt daran glauben, dass jemand in Afrika schon den Prototyp des Wunderfernsehers besitzt, dessen weltweitem Erfolg nur die Ignoranz des Westens im Weg steht. ChatGPT glaubt überhaupt nichts. Und anders als bei der ARD mit ihrem Jahresbudget von gut 7 Milliarden Euro fallen für die Programmnutzung erst einmal keine Kosten an.
Öffentlich-rechtliche Sender besitzen vorerst noch die Ressourcen, um dieses Einsparpotential zu ignorieren. Private Medien angesichts der Papier- und Energiepreise, des gestiegenen Mindestlohns und der absackenden Leserzahlen meist nicht.

Nachdem wohlmeinende Journalisten jahrelang die Vorarbeit leisteten, indem sie die Sprache planierten, beispielsweise peinlich darauf achteten, nicht mehr zwischen Migranten und politischen Verfolgten zu unterscheiden, sondern alle unter dem Nebelbegriff Geflüchtete zusammenfassten, indem sie also vereinfachten, standardisierten, schematisierten und Ambivalenzen ausjäteten, stellten sie selbst die idealen Arbeitsbedingungen für ChatGPT her. Das Programm selbst stellt nur noch die Endstufe eines langen Prozesses dar. Statt sich wie heute noch damit abzuplagen, dpa-Meldungen umzuschreiben und nach immer neuen Narrativen für die immergleichen Überzeugungen zu suchen, beschäftigen sich viele Journalisten der Zukunft vermutlich damit, einen Auftrag ins Dialogfeld von ChatGPT zu tippen, und das Ergebnis ins hauseigene Layout zu übertragen. Allerdings braucht es dafür sehr viel weniger Arbeitskräfte als heute. Und ein Dialogzeilenschreiber kann auch kaum erwarten, so bezahlt zu werden wie jemand, der heute noch selbst über schwurbelnde Tanten, rassistische Berggipfel und die neueste Warnung von Karl Lauterbach schreibt.
Im übernächsten Schritt erledigt ein Programm wahrscheinlich auch die Themenvorgabe. Diese gestaltet sich schließlich ähnlich voraussehbar, lässt sich folglich programmieren und braucht keine Menschen mehr. Meine Prognose lautet: In spätestens zehn Jahren wird das Publikum, und zwar völlig egal, welches, nur noch für Texte zahlen, die das Wasserzeichen eines menschlichen Geistes zeigen. Also eine gewisse Ambivalenz, den Willen, argumentativ einer Kurve zu folgen, von deren Existenz der Autor bis eben noch gar nichts ahnte, die Fähigkeit, sich in Gedanken seitwärts und probehalber auch rückwärts zu bewegen, die Neigung, bei der Suche nach Quellen und Daten nach dem Prinzip von Serendipity vorzugehen, also weder ganz schematisch noch ganz regellos. Und dazu noch ein Quantum Witz. Kurzum, alles, was sich bis auf weiteres nicht oder nur sehr mangelhaft in Algorithmen übersetzen lässt. Ein ernstzunehmender humanoider Autor ist mit seinen Texten Sand und Getriebe gleichzeitig.

An dem Versuch, diese Kombination nachzuahmen, scheitert jede Maschine. Bis auf Weiteres.
Die maschinellen Texte dürften um 2033 herum vermutlich 90 Prozent der Gesamtproduktion an geschriebenem Wort ausmachen, aber nur noch durch Werbung und Datenverkauf Umsatz bringen. Zahlen werden Leser dann nahezu ausschließlich für menschliche Manufakturarbeit. Am ehesten dann, wenn ein Autor so etwas wie eine Signatur besitzt, also einen erkennbaren Stil.

Dass der Bot den Journalismus demnächst um- und die meisten Medienschaffenden unterpflügt, macht allerdings nur den kleineren Teil der großen KI-Revolution aus. In seinem Buch „Ages of Discord“ (Das Zeitalter der Zwietracht) führt der Kliodynamiker Peter Turchin einen großen Teil der gesellschaftlichen Spannungen in westlichen Ländern auf die Überproduktion von Funktionseliten zurück, also von Akademikern, die irgendetwas leiten, koordinieren, beraten, beaufsichtigen, die Begriffe prägen und sich vor allem in der Symbol- und Aufmerksamkeitsökonomie tummeln. Die Autorin Catherine Liu fand für diese Managerial class den Begriff „Virtue Hoarders“, Tugend-Hamsterer.
Schätzungsweise 90 Prozent dieser Managerial class beschäftigt sich damit, Texte zu erstellen. Entweder: Akademische Papiere, journalistische Texte, Beraterprosa, Aufrufe, Kuratorenmanifeste oder Tweets. Und das nach völlig vorhersehbaren Mustern in einem Einheitsstil von Seattle bis Wien, mit immer den gleichen Signalwörtern und Textbausteinen. Sie erzeugen nichts, was ChatGPT, seine Kinder und Enkel nicht besser, schneller und billiger herstellen könnten. Die Formel der nächsten Jahre wird also lauten: Kann eine Maschine deine Arbeit ersetzen? Oder eher nicht? Bis es einen Roboter gibt, der ein gebrochenes Wasserrohr oder eine Hochspannungsleitung besser flickt als ein Handwerker, werden noch ein paar Jahre verstreichen. Der Managerial class dagegen dürfte es in den kommenden zehn Jahren ähnlich gehen wie den Handwebern beim Aufkommen des mechanischen Webstuhls.

Es liegt eine gewisse Logik darin, dass die Chattering class – auch diesen Begriff gibt es schließlich für das beschriebene Milieu – durch Chat Bots größtenteils erledigt wird. Aus dem berühmten Hund vor dem Grammophon und dem Werbespruch ‘His Masters Voice‘ wird: their machines voice.

Und zwischen beidem liegen nur gut 120 Jahre. „Master“ liefert übrigens auch das Stichwort zur wahrscheinlich größten Umwälzung durch intelligente Sprachprogramme. Der erste Auftritt von ChatGPT fand fast zur gleichen Zeit statt, da die Stanford University meldete, sie sei dabei, intern „schädliche Sprache“ zu entfernen. Es handelt sich um die „Elimination of Harmful Language Initiative“ (EHLI), ein „mehrphasiges, mehrjähriges Projekt zur Bekämpfung schädlicher Sprache in der IT in Stanford“.
Zur Schadsprache gehören unter anderem die Begriffe „Einwanderer“ (zu pauschalisierend), „schwarzes Schaf“ (konnotiert ‘schwarz‘ negativ, wobei offen bleibt, wie dann lebende und wortwörtlich schwarze Schafstiere beschrieben werden sollen) und auch „to master“ im Sinn von „master a language“, eine Sprache meistern, denn das Stanford-Eliminationsmanual belehrt darüber, dass „master“ selbst dann begrifflich mit „Versklavung“ zusammenhängt. Es fällt besonders leicht, eine KI auf eine derart tiefengereinigte, standardisierte und um alle Ambivalenzen gebrachte Schrumpfsprache zu trainieren. Und sehr viele werden in Zukunft die Dienste einer Maschine schon deshalb nutzen, weil durch sie automatisch Texte entstehen, die bei keiner Wächterinstanz mehr Anstoß erregen. ChatGPT und seine Nachfolger treiben also die orthodoxe Wende in der westlichen Geisteswissenschaft und ihren angehängten Milieus mit Warpgeschwindigkeit voran. Gerade deshalb, weil Etats und Posten für die schwatzende Klasse aus den oben beschriebenen Gründen sehr viel knapper ausfallen, dürfen sich diejenigen, die bei der Reise nach Jerusalem noch ein Stühlchen bekommen wollen, erst recht keinen Fehler mehr erlauben. Die KI-gestützte Durchformalisierung der Sprache aus Angst vor dem kleinsten Fehltritt beschreibt Dave Eggers in seinem gar nicht mehr so dystopischen Roman „Every“.

Und wie in dem Roman führt die Konformität zwangsläufig auch dazu, dass sich eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft verweigert, um sich erst recht ins Risiko des Denkens ohne Assistenzsystem zu stürzen. Hauptsächlich deshalb, um sich nicht zu Tode zu langweilen.
Es gibt nicht bei jedem, aber doch bei mindestens zehn Prozent der Menschen ein Bedürfnis nach Witz. Bisher scheitert auch die beste KI an dieser Aufgabe. Wie schon Peter Gay wusste: „Der Witz ist anscheinend die einzige geistige Hervorbringung, die von der Analyse zerstört wird.“ In meiner Konversation hatte ich ChatGPT gebeten, mir einen jüdischen Witz zu erzählen.

ChatGPT:
“Sure, here is a classic Jewish joke:
Why couldn’t the bicycle stand up by itself?
Because it was two-tired.”

Ich gebe zu, ich habe kurz gelacht. Das bewegt sich ungefähr auf der Ebene des siebenjährigen Neffen bei der Familienfeier, und gut zweieinhalb Stufen über der heute-show.

Ich: „Aber das war kein jüdischer Witz.“ Dann erzählte ich ihm den Witz von dem jungen Mann, der zum Rabbi kommt und fragt: „Rebbe, wie werde ich unsterblich?“ („Heirate, mein Sohn“. „Ai Rebbe, und davon werde ich unsterblich?“ „Nein. Aber dein Wunsch verschwindet.“)

ChatGPT bedankte sich höflich, machte eine kleine Bemerkung dazu und verbuchte die Geschichte irgendwo in seinen Datenmassen. Nach einem Jahr Training dürfte das Programm wahrscheinlich tausend bessere Witze kennen als den mit dem müden Fahrrad. Es wird sich allerdings erst einmal keine Witze ausdenken. Sollte es 2050 doch so weit sein, hört der Autor dieses Textes gern zu. Kein Problem. Zu dem Zeitpunkt liegt das meiste sowieso hinter mir, auf schriftlichem Gebiet und auch sonst.
Zum Abschied stellte ich ChatGPT noch eine Fangfrage: „Träumst du?“

Die Antwort: „Als künstliche Intelligenz habe ich keine Träume. Das ist ein typisch menschlicher Zug. Aber wenn ich Daten durchsuche und probeweise kombiniere, geschieht möglicherweise so etwas ähnliches wie Träumen.“
Es kommen radikal neue Zeiten. Ich für meinen Teil sehe ich ihnen relativ angstfrei entgegen.

 

 

 

 


Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.


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Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (21)

  • Wünsche Ihnen einen guten Rutsch, lieber Alexander Wendt!

    Herzlichen Dank für den Silvester - Beitrag. Sie waren übrigens nicht der Einzige meiner Lieblingsautoren, auch Don Alphonso hat noch einmal nachgelegt und heute das Jahr mit einem würdigen Text beschlossen.

    Wenn das neue Jahr so weitergeht wie das alte aufhört, steht zumindest viel Lesefreude ins Haus.

  • Hallo,
    wie ich bereits früher gemailt hatte, sind Ihre Beiträge erste Klasse, aber viel zu lang

    • Das sagen wir Alexander Wendt auch ständig. Er ist da etwas unbelehrbar. Übrigens: das gleiche musste sich schon Tolstoi wegen „Krieg und Frieden“ immer wieder anhören.

      -Redaktion Publico

      • Publico (also A.W.) antwortet und stellt fest, dass er "etwas" unbelehrbar" sei. Gut so. Dass er sich aber mit Tolstoi vergleicht, das ist, das ist, also, das ist wohl auch gut so. Sein Schreibstil und Intelligenz verrät es und uns Leser ist es eine Lesefreude. Bitte bleiben Sie Unbelehrbar, Herr Wendt-Tolstoi. Wir Leser brauchen Sie, wirklich. Der Computer wird Sie wohl so schnell nicht ablösen.

        • Um Gottes Willen – mit Tolstoi und anderen Klassikern will sich Alexander Wendt wirklich nicht vergleichen. Publico ist kein Magazin für Literatur. Sondern eine journalistische Plattform für den Tag und die Woche. Davon abgesehen war Tolstoi Großgrundbesitzer. Die Autoren von Publico sind es leider nicht.
          – Redaktion

  • Natürlich haben Sie recht, werter Herr Wendt, wenn Sie sagen: "Chat GPT glaubt überhaupt nichts." Aber so wie es die "Fakten" und "Narrative" aus den Wikipedien und Datenkellern hervorhebt und miteinander verknüpft, so kann es auch die ideologischen Vorgaben seines "Masters" befolgen und einstudieren, die ihm sagen, es solle die Gendersprache benutzen und Worte wie Vater, Mutter, Junge und Mädchen meiden, oder dahingehend seine Textproduktionen abgleichen, dass sie die reduzierte Weltsicht eines Aktivisten der "Letzten Generation" widerspiegeln oder die eines Herrn Klabauterbach oder einer Frau Phazer! Dh wir werden uns darauf einstellen müssen, mit millionenfachem geistigem Trash Content überschwemmt zu werden. Es wird stinklangweilig!

  • Frohes Neues. Kleine Ergänzung: War Ihnen bewußt, dass die zweithäufigste Sprache bei Wikipedia “Cebuano” ist? Eine Sprache, gesprochen von 18 Millionen auf den Philippinen. Auch hier half ein Bot aus Schweden, der Millionen von kleinen “Stubs” generierte. Um all die nutzlosen Meinungslieferanten mache ich mir aber keine Sorgen. Bei Hof gibt es garantiert immer ein Pöstchen.

  • Hört sich sehr interessant an. Gleichzeitig auch erschreckend.
    Um die Zukunft der "schnatternden Klasse" muss man sich, denke ich, keine Sorgen machen.
    Der "Staat" wird im Sinne der grünen "Care-Wirtschaft" schon irgendeine gut alimentierte Tätigkeit für diese Menschen haben. Man sieht dies auch daran, dass heute weitreichende nationale Entscheidungen vermehrt in Brüssel gefällt werden, die Abgeordneten im bundesdeutsche Parlament und die Zahl der Regierungsmitarbeiter trotzdem neue Höchststände erreichen.
    Wie auch immer, im Jahr 2023 wird es sicherlich an Themen nicht mangeln, die hier abgehandelt werden können.
    Mit den Worten des Dichters: "Glück und Heil im neuen Jahr (...) Auf groben Klotz ein grober Keil.
    Auf einen Schelmen anderthalbe."

  • Danke für diese Warnung! Meine Reaktion wird so sein, dass ich alle "alten" Bücher aufheben werde, und sie bis zu meinem Tode immer wieder lesen werde. Ob es in der Zukunft noch flott und spannend zu lesende Thriller geben wird? Wohl kaum.
    Interessant wird, wie das System antwortet, wenn ihm von verschiedenen Standorten die gleiche Frage zu einem komplexen Thema gestellt wird. Erhalten wir dann immer die gleiche Antwort? Dann wird das das Ende schöpferischen Geistes werden!

  • Zitat: "GPT steht für „Generative Pre-Trained Transformer“"

    In welcher Hinsicht vor-trainiert? Innerhalb der letzten Quartale häuften sich Meldungen, daß Sprach-KIs sich nach kurzer Lernphase "rassistisch" verhielten (also aus neutraler Sicht zu unerwünschten Schlußfolgerungen gelangten) und sich nicht an unausgesprochene Sprachregelungen hielten, "verletzende" Sprache oder - wenn man so will - verletzende Fakten deduzierten.

    Leider finde ich den Link nicht mehr, aber irgendwer stellte ChatGPT die Frage "Was ist das Problem mit den Zigeunern" und erhielt als Antwort ein flammendes Bekenntnis zur woken Spielart des "Antirassismus". Diese Gruppe sei weder besonders problematisch noch kriminell, sondern leide oft an Vorurteilen, etc.

    Worauf will ich hinaus? Wenn Twitter Algorithmen so "tunen" kann, daß Beiträge über Impfschäden keine Reichweite erhalten, dann sicher auch die Macher und Einflüsterer von ChatGPT in der Weise, daß das Overton-Fenster aufzustoßen drohende Erkenntnisse/Auswertungen/Deduktionen ebenfalls kein Publikum finden. ("Re-Learning")

    Es läuft auf ein weiteres perfide wirksames Werkzeug zur Diskurssteuerung und -einhegung hinaus. Und dann wird es heißen:

    "Selbst die KI findet, daß es keinen Rassismus gegen Weiße geben kann und DIE ist neutral!"
    "Die KI sagt uns, daß alle wissenschaftlichen Fakten den menschenverursachten Klimawandel belegen!"
    "Die KI sagt uns, daß die Covid-Impfung wirksam ist"

    In Schweinemastbetrieben wurden auch immer technisch effizientere Methoden der Mästung zur Anwendung gebracht. Warum sollte es sich mit vorgekauten Informationsbröckchen zur Anfütterung der trägen Massen anders verhalten? (Klingt hart und das soll es auch).

    Algorithmen werden bestimmen, was wir zu sehen bekommen und wahrnehmen - nun auch ohne Moderatoren-Eingriff - vollautomatisch, in sprachlicher Zuckerwatte verhüllt.

  • Zitat:"Es kommen radikal neue Zeiten. Ich für meinen Teil sehe ich ihnen relativ angstfrei entgegen."

    Ich schon.
    Begründen muss ich das nicht mehr. Man sehe sich einfach nur um.

    Trotzalledem: Ein gutes neues Jahr Ihnen und allen aktiven Lesern hier, Herr Wendt.

  • Herrn Wendt und der publico-Redaktion ein frohes neues Jahr!
    Ich freue mich auf jeden Wendt-Artikel als helles Licht in der so düsteren Journalismus-Welt von heute. Und auch darüber, dass Herr Wendt nun (mit einer kleinen ungewollten ? Ausnahme) in der Ich-Form schreibt.

  • Wie gewohnt ein hervorragender Artikel, dennoch "Fake-News" drin. 😊
    "Am 20. November 1985 präsentierte Microsoft eine Entwicklung mit der Bezeichnung Windows 1.0, die erste grafische Benutzeroberfläche für seinen Personal Computer." Merkwürdig daran ist, dass ich schon im Sommer 1984 an einem Apple-Macintosh gearbeitet habe.

    • Das wollte ich auch schreiben. Microsoft war in diesem Sinne nicht der "Vorreiter" sondern eher die Firma Apple. Es ist wohl so, daß man Microsoft als die innovativste Firma der IT hält, obwohl sie das nicht war.

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