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Kommentare anzeigen (5)

  • Moral als Waffe im politischen Kampf. Hierzu ein Lesetipp: Jan Voelkel / Matthew Feinberg, Morally Reframed Arguments Can Affect Support for Political Candidates, in: 'Social Psychological and Personality Science', Nov 2018.

  • Unliebsame Meinungen werden gegenwärtig laufend damit gekeult. Es wird gut verwahrt in den Asservatenkammern der "Offenen Gesellschaft". Dort wäre mal eine Haushaltsauflösung dringend nötig...

  • Moral ist ein Allzweckwerkzeug. Man kann sie auch als Ersatz für Können und Arbeitseinsatz verwenden.

    • Chapeau! Treffender kann man unseren politischen Zustand nicht beschreiben.

  • Wir müssen die schreckliche Zeit überbrücken, in der kein Artikel von Herrn Wendt erscheint. Nun denn, Thema Moralismus:
    Ich möchte noch einmal auf die brillante Studie von Herrmann Lübbe über politischen Moralismus verweisen, die bereits 1984 entstand, dem Todesjahr von Helmut Schelsky, einem anderen Leuchtturm der Neo-Aufklärung. Lübbes Arbeit (Untertitel: "Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft") wurde 2019 neu aufgelegt, weil die Aktualität seines Themas u.a. durch Merkels Grenzöffnung evidenter denn je war.
    Wer sich nicht gleich die ganze Arbeit Lübbes zu Gemüte führen will - was ich allerdings dringend empfehle, zumal sie recht kurz ist -, der kann immerhin beginnen, indem er er den kurzen Bericht von Ferdinand Knauss darüber in der 'Wirtschaftswoche' vom 23.6.19 anschaut.
    Lübbe widerlegt erst einmal die irrige Meinung Horkheimers, dass Verbrechen in totalitären Systemen vorwiegend durch die moralische Minderwertigkeit der Täter erklärbar seien. Opportunismus gibt es sicher auch, wird aber nur eine Minderheit von Fällen abdecken. In den meisten Fällen wird eine Reduktion kognitiver Dissonanz (meine Interpretation) stattfinden, wobei selbst die grauenhaftesten Verstösse gegen elementare Gesetze der Moral durch Ideologisierung - also durch eine gruppenspezifische Anpassung und Verbiegung von Moral - gerechtfertigt werden.
    Der Totalitäre sieht sich selbst nicht als amoralisch - ganz im Gegenteil: Er glaubt, er habe anderen gegenüber die überlegene Moral.
    Dies trifft sogar auf die Nazis zu, Lübbe verweist dazu etwa auf die Posener Rede Heinrich Himmlers (nachlesbar unter '1000 Dokumente.de), in der Himmler den Judenmord moralisch zu rechtfertigen versuchte. Für die Kommunisten ist es selbstverständlich. Lübbe zitiert dazu eine Lenin-Aussage aus einer internen Publikation der Tscheka, wonach die Kommunisten ALLES tun dürften, da sie absolut moralisch seien (ich paraphrasiere aus dem Gedächtnis).
    - Auch die mittelalterlichen Hexen- und Ketzerverbrenner sahen sich nicht als Unmenschen, sondern als Moralisten, die die Gesellschaft vor verderblichen Elementen schützten. Sekten wie die Münsteraner Wiedertäufer, die 'People's Temple'-Gemeinschaft von Jim Jones, Paul Schäfers 'Colonia Dignidad' in Chile und viele andere bieten plastische Beispiele für das Verdikt von Karl Popper, dass der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, stets die Hölle erzeuge ("Die offene Gesellschaft und ihre Feinde").
    - Wer nach der Lektüre von Lübbe noch etwas Zeit aufbringt und sich für die Geschichte Chinas interessiert, kann sich auf das Entstehen und Vergehen der Taiping-Sekte dort anschauen, deren Aufstand in den 50iger und 60iger Jahren des vorletzten Jahrhunderts wohl mehr Menschenleben kostete als der 1. Weltkrieg.
    Die 'Taipings' waren keineswegs Unmenschen per se, obwohl sie grausamste Kriegsverbrechen verübten (für eine erste Information ist der englische Wikipedia-Artikel ausreichend, von S. Mossman gibt es auf 'Open Library' das Buch "The Great Taiping Rebellion", von 1893, durchaus noch lesenswert, auf Google Books findet sich u.a. eine Arbeit von Chin Shunshin mit Vorschau, oder auch eine von Thomas Reilly).
    Die Taipings begannen ganz normal als Sozialrevolutionäre, die sich realer sozialer Probleme in der Qing-Dynastie annahmen - ihre Unzufriedenheit erschien absolut gerechtfertigt.
    - Die Bewegung bietet aber geradezu ein Paradebeispiel dafür - deshalb erwähne ich sie hier - wie eine an sich gute Sache von sozial devianten Aussenseitern und Spinnern sozusagen "gekapert" werden kann und sich zu einer nicht nur weltfremden, sondern sogar gefährlichen Sekte entwickeln kann.
    Der Aufstand wurde massgeblich organisiert von einem gewissen Hong Xiuquan, der gleich mehrmals durch die kaiserliche Beamtenprüfung rasselte, und nach dem letzten Scheitern Visionen entwickelte, ein Bruder Jesu Christi zu sein.
    - Ähnlichkeiten zu Personen in der deutschen Politik sind von mir hier selbstredend nicht beabsichtigt - bei uns haben ja gottseidank ALLE wichtigen Amtsträger fachspezifische Ausbildungen, Examina und Berufserfahrung und sind weit davon entfernt, berufliche Versager zu sein und sich als quasi-religiöse Weltenretter berufen zu fühlen.
    - Kurz: der Taiping-Aufstand brach nach grossen Anfangserfolgen im wesentlichen deshalb zusammen, weil seine Führer "durchknallten", grössenwahnsinnig wurden und sich von der normalen Bevölkerung geistig entfernten. Hong z.B. liess sich in Nanjing, als er die Stadt erobert hatte, einen Königspalast von 5 km Länge bauen. Neros 'Domus aurea' in Rom (ist das verdammte Ding jetzt endlich wieder geöffnet - weiss das einer?) ist geradezu eine Hundehütte dazu, im Vergleich.
    Hong, Jim Jones, oder der Anführer der Münsteraner Wiedertäufer, Jan van Leiden, bieten anschauliche Studienobjekte dafür, wie die Führer von ursprünglich durchaus sympathieträchtigen Bewegungen sich zu psychisch gestörten Monstern entwickeln können, wenn sie sich moralisch absolut setzen.
    - Und die Moral von der Geschicht': Leute, glaubt selbsternannten Moralisten nicht!

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