Gott, Teufel und die ganze Welt dazwischen
Michael Klonovsky legt sechs Erzählungen vor. Seine Texte bieten viel: von Satire und Erotik über den Kleinstroman bis zum Terrain zwischen Leben und Tod
Wer Michael Klonovskys „Acta Diurna“ liest, kennt ihn als ab und zu galligen Autor, der am liebsten kein Zeitgenosse sein mag. Das liegt an dem täglichen Stoff, den er dort verarbeitet, weniger am Schreiber selbst. Galle benötigt der Körper bekanntlich, um zu verdauen. Leser seines Romans „Land der Wunder“ und seiner Essays („Der linke Hoden des Führers“) wissen, dass es auch einen unverändert luziden, aber gewissermaßen entbitterten Klonovsky gibt. Für sein vorläufiges Gesamtwerk gilt der Satz Ödön von Horváths: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur selten dazu.“
Mit dem Band „Die schöne Apothekerin“ lernt das Publikum ihn von dieser Seite und trotzdem neu kennen: Er legt seinen ersten Erzählungsband vor.
In sechs durchweg klassisch komponierten Texten wechselt er die Tonlagen, sie reichen von der Satire und der erotischen Erzählung bis zu Geschichten über die Linie zwischen Leben und Tod, auf der sich die Figur der letzten und vielleicht stärksten Erzählung kippelnd entlangbewegt. In der titelgebenden „Schöne Apothekerin“ führt Klonovsky vor, dass sich die Formel von der unerreichbaren Schönheit als Kippfigur herausstellen kann, die durch einen minimalen Perspektivwechsel plötzlich etwas ganz anderes bedeutet.
Sein Erzählstoff stammt aus seinem Erfahrungskreis, einem zum Glück des Lesers ziemlich weiten. In dem mit gar nicht so klammheimlicher Bosheit auf Pointe geschriebenen Medienschwank „Unordnung und zu frühe Freud“ zeichnet er das Bild einer vor Eitelkeit glänzenden und gleichzeitig – Anwesende ausgenommen – nicht sonderlich intelligenten Branche. Auch das Vorbild des Münchner Milliardärs in „Faustina“ erkennt möglicherweise der eine oder andere wieder. Falls nicht, dann beeinträchtigt das nicht das Lesevergnügen. In diesem Prosastück, eigentlich einem komprimierten Roman, wetten Gott und Teufel um die Seele der Einzelhandelskauffrau Anna Simon, geben damit der Handlung aber nur einen Rahmen, der ganz und gar irdisch und wendungsreich verläuft. Schon der Auftakt verrät, dass sich hier ein größeres episches Geflecht mit Witz und prallen Figuren entrollt: „Am selben Morgen, als Gott begann, Charles Darwin zu lesen, stieg der Milliardär Hubertus Elsässer beschwingt aus seinem Bett, denn er hatte ein paar Stunden zuvor eine sehr attraktive Theaterschauspielerin erst verführt und dann maßvoll gevögelt, während die arbeitslose Einzelhandelskauffrau Anna Simon vor dem Spiegel mit einem Anflug von Resignation feststellte, dass sie auch im biedersten Kostüm wie eine Hure aussah.“ Bei dieser Heldin handelt es sich um eine seiner besten weiblichen Figuren. Überhaupt, und darin liegt eine Stärke dieses Bandes, gibt Klonovsky auch seinen eher negativ gefärbten Charakteren – etwa dem Milliardär – Schattierungen und Kontur. Gestalten, die durch den Text geistern, um Thesen des Autors zu verkünden, oder ihm nur als Zielscheibe dienen – beides bekannte Krankheiten der deutschen Gegenwartsliteratur – kommen bei ihm so gut wie nie vor. (Nur in der Satire trägt der eine oder andere genrebedingt Züge eines Pappkameraden.)
Die letzte Erzählung handelt, wie schon erwähnt, von dem schmalen Territorium, das einem Helden bleibt, der sein Leben gerade Schritt für Schritt verlässt. Er balanciert. Das tut auch der Autor, haarscharf an der Grenze zur Selbstrührung wandelnd – aber eben immer jenseits davon. Wer sich diesem Thema schreibend nähert, kommt ihr fast unvermeidlich nah. Deshalb wagen sich Autoren auch eher selten daran.
Vor allem dieser Text zeigt Michael Klonovsky als Autor, der anderswo zuweilen in Massen Galle produziert und gelegentlich reaktiv hasst, der aber auch lieben kann, wenn die Welt es ihm erlaubt.
Michael Klonovsky, „Die schöne Apothekerin: Sechs Erzählungen”
Manuscriptum, 192 Seiten, 22 Euro
Tanz mit mir in die letzte Schlacht
In „Armageddon“ erzählt Matthias Matussek von Glauben, Verrat, einem Mordkomplott – und mittendrin anrührend von der Lebensmüdigkeit eines anderen Menschen
„Der Bestsellerautor Rico Hausmann kam nach längerem Nachdenken zu dem Schluss, dass sich sein Leben, wenn überhaupt, nur als Roman erzählen ließ.“ So ungefähr könnte es in einem Text zur Vorgeschichte von Matthias Matusseks Roman „Armageddon“ heißen, in dem der Autor, ohne sich dafür großartig zu verwandeln, in die viertelfiktive Rolle eben jenes Schriftstellers Richard Hausmann schlüpft. Keine Frage, der Autor höchstpersönlich tritt hier als Held des Romans auf, nur mit einem nome de plume leicht verschleiert, aber ansonsten jeder Zoll er selbst, Matthias Matussek, ehemaliger Kulturchef des Spiegel, ehemaliger Autor der Welt, jetzt freier Schreiber und Radiomacher an der Ostseeküste.
„Er war neunundsechzig, Journalist, gern als ‚umstritten‘ bezeichnet oder strafverschärfend als ‚erzkatholisch‘ ansonsten bei guter Gesundheit, wenn auch leicht reizbar“, heißt es über das Alter ego. Sein Hausmann besitzt als Figur Farbe und, ja, eine gewisse Saftigkeit. Aber der Autor neigt (zum Glück) nicht dazu, sein Ebenbild vorteilhaft zu kolorieren. „Er dagegen hatte sich einen Bauch angefressen“, skizziert er den Doppelgänger, „seine Arme und Beine waren dünn, was ihn dem Felonius Gru aus dem Animationsfilm ‚Despicable Me‘ ähneln ließ, auf Deutsch ‚Ich – Einfach unverbesserlich‘. Er fand sich damit ab, unverbesserlich zu sein, ach was, er fühlte sich damit sauwohl.“
Wohin führt uns der einfach unverbesserliche Matussek-Hausmann in „Armageddon“? Natürlich in eine Entscheidungsschlacht, darauf weist schon der Titel unmissverständlich hin. Die deutet sich schon auf den ersten Seiten an, als ein nicht mehr ganz junger Mann aus der linken Szene mit Lederjacke und „Dachsgesicht“, Hausmann in dem winzigen Ostsee-Kaff, in das er sich zurückgezogen hat, als eben jenen als rechtsradikal verfemten früheren Starautor erkennt, kurzum, den Fascho.
Von dort aus führt das Buch aber erst einmal in einem langen Rückschwenk in die etablierte Medienwelt mit Hausmann als Starjournalist und Stationen in Hamburg, Rio und New York. Die ersten Kapitel erzählen den Weg des langjährigen Insiders nach draußen. Und vor allem von der Geburtstagsparty des Autors, der zwar zu dem Zeitpunkt keiner Redaktion mehr angehört, aber durch sein Beziehungsnetz aus alten Freundschaften noch halb mit dem großen Verlags-, Meinungs- und Eitelkeitsbetrieb zusammenhängt. Das ändert sich radikal auf eben jeder Feier, zu der auf Hausmanns Einladung nicht nur reihenweise alte Kollegen aus der Branche kommen, sondern auch ein junger Identitärer. Den identifiziert der ZDF-Unterhalter Jan Böhmermann (der im Buch wie fast alle anderen unter Klarnamen vorkommt) und er nutzt den Fund, um Hausmanns Feier als Fusion von Bürgertum und Rechtsradikalismus im feinen Viertel Hamburgs zu brandmarken. Worauf viele Gerade-Noch-Bekannte panisch Sicherheitsabstand zu dem Unverbesserlichen suchen. Kurz danach erscheint ein Musikvideo, in dem eine junge Frau zum Song einer linksradikalen Band mit einem Scharfschützengewehr auf Hausmann anlegt. Wie jeder Dramaturgieerfahrene spätestens seit Tschechow weiß: Hängt im ersten Akt eine Flinte an der Bühnenwand, muss sie im fünften Akt losgehen. Das geschieht dann auch.
Den ersten Romanteil, bevor der Mordplot in Gang kommt, nimmt eine Art Lebensbeichte von Hausmann ein, vorgetragen in einem an Villon erinnernden Tonfall, denn es geht dort um gesellschaftliche Höhen und Abstürze, aber vor allem um das Begriffspaar, das Matussek offenbar heftig bewegt, in der Wirklichkeit wie im Roman: Glaube und Verrat. Figuren wie Jan Fleischhauer, Mathias Döpfner und Benjamin von Stuckrad-Barre und Michael Klonovsky treten hier unter ihren Klarnahmen und weitgehend unverfremdet auf.
Dann allerdings schwenkt das Buch auf eine andere Spur ein: Der mittlere Teil handelt von einem noch wesentlicheren Begriffspaar als Glaube und Verrat, nämlich Leben und Tod, und das nicht abstrakt, sondern erzählt an der seltsamen Beziehung von Hausmann zu der etwas älteren Französin Natalie, die sich auf ihren Freitod vorbereitet. Sie tut das nicht, weil sie an einer unheilbaren Krankheit leiden würde. Sondern am Alter, am Verlust ihrer Schönheit, auch an der Einsamkeit. Hausmann sieht es als seine Mission als Katholik an, sie davon abzubringen. Aber mit Natalie hat er keine papierne Gestalt vor sich, die dem Autor nur dazu dienen würde, seine Argumentationskünste vorzuführen. Diese 78-jährige Frau in Paris steckt, so paradox es klingt, voller Leben. Wenn sie ihren Todeswunsch begründet, kann ihr der unverbesserlich Gläubige gar nicht so viel entgegensetzen, auch wenn er natürlich sein Bestes versucht. Spätestens hier wird „Armageddon“ von Kolportage zum Roman. Es zeigt sich Matusseks Leidenschaft für Lebensläufe.
Im Armageddon-Finale mit dem Gewehr kommt Hausmann selbst dem Tod immer näher, beziehungsweise: Der Tod in Gestalt des Lederjackenmanns vom Romananfang nähert sich ihm. Ihm, der ausgezogen ist, um das Alter Ego des Autors zu töten, gibt er eine eigene Geschichte, in der es sogar sympathische Seiten gibt. Mit diesem Schützen wäre Versöhnung möglich. So, wie sich Hausmann auch grundsätzlich mit dem Tod arrangieren könnte. Ihm ist in seinem Leben nicht viel fremd geblieben. In früheren Zeiten neigte er eher nach links, dorthin also, wo es nicht „Armageddon“ hieß, sondern „auf zum letzten Gefecht“ – was aber so ziemlich das gleiche meinte.
Mit dem einen oder anderen früheren Gefährten und Feind aus den Medien dagegen arrangiert er sich eher nicht. Aber auch in diesen Passagen redet er sich etwas von der Seele und das durchaus mit guter Wirkung für alle Beteiligten. Matthias Matussek-Hausmann muss nämlich nicht zum Scharfschützengewehr greifen, um abzurechnen. Dazu setzt er sich an die Tastatur.
Matthias Matussek, „Armageddon“
Europa Verlag, 287 Seiten, 22 Euro
Wirklichkeit lässt sich nicht beliebig verleugnen
In „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ warnt der Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck vor dem Zerfall der Gesellschaft in Opfer- und Schuldgemeinschaften
von Jürgen Schmid
„Bestimmt gibt es hier keine Moral, auch keine wahre Fröhlichkeit, wenn auch viel Lärm.“ Was William Thackeray 1848 über den „Jahrmarkt der Eitelkeit“ schrieb, liest sich im Jahr 2023 wie eine Beschreibung der moralinüberschwemmten Gegenwart, deren Hysteriesound hauptsächlich von humorbefreitem Personal intoniert wird. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Autor und Verlag für eine Analyse spätbundesrepublikanischer Jetztzeit einen Titel gewählt haben, der an Thackeray denken lässt.
Den Jahrmarkt unserer Zeit kann man unterschiedlich benennen und deuten. Ihn bevölkern jedenfalls die immergleichen Charaktere: Norbert Bolz nennt seine Marketender Aussteller von „Wokeness“ – das, was sie verkörpern „Tyrannei der Wehleidigen“. Für Peter Sloterdijk sind die Schausteller Träger eines „globalisierte[n] jakobinische[n] Empfinden[s]“, die nicht lange suchen müssen, um „Empörungsgründe“ zu entdecken. Aktuelle Marktobjekte des Jakobinertums, so Sloterdijk in „Wer noch kein Grau gedacht hat“ (2022), seien „passiv-aggressive Spielarten des Feminismus“, welche „aus der Menge der Frauen die Klasse der Belästigten hervorheb[en]“ und die „juvenile Woke-Ideologie“, „die ihre unduldsame Empfindlichkeit gegen Symbole unwillkommener Unterschiede vor sich herträgt.“
Opfergemeinschaft statt Bürgergesellschaft
Empfindlichkeit für Unterschiede: Die Formulierung klingt wie eine Synonymisierung dessen, was Bernd Ahrbeck – lange Jahre Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, heute an der International Psychoanalytic University – als Ideologie von Gleichmachern herausstellt. In seinem Essay „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“, der vor dem Weg „von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft“ (so der Untertitel) warnt, finden sich weitere Formulierungsvarianten für etwas, was viele täglich erleben, aber nicht wirklich einordnen können: „gesteigerte Empfindlichkeiten“ (S. 13), „Betroffenheit“ (S. 103), „Sensibilitäten“ (S. 137), kurz, die Nabelschau Überempfindsamer. Erfasst ist damit ein zentrales Problem des „Wertewestens“, wo Egoismen von Befindlichkeitsaposteln gesellschaftszerstörend wirken. Eine „Ich will Ich“-Mentalität schickt sich an, alles wie in einem Säurebad zu zersetzen.
Ein Wort zieht sich wie ein roter Faden durch die Befindlichkeiten jener Sozialingenieure, die als „chattering class“ unsere Gesellschaft „gerechter machen“ wollen – dieses Wort heißt: Konstrukt. Bei Ahrbeck ist es zentral. Die Welt wurde erbaut auf „Konstrukten“ einer Gruppe (Weiße), die sich damit zu Nutznießern gemacht haben auf Kosten aller anderen (der Opfer), weshalb diese Konstrukte (alle Werte und Traditionen) dekonstruiert werden müssen – so das Narrativ der Befindlichen. Eine Zusammenfassung von Ahrbecks Buch könnte mit einem Bonmot von Michael Klonovsky lauten: Es gibt Tonangeber, „die Geschlecht und Volk für ein Konstrukt halten, die EU und Gender aber nicht“.
Alles ist diesen Sozialingenieuren „Sprechakt“. Alles, was nicht gefällt, kann demzufolge durch Umbenennung gebannt werden. Für Gerechtigkeitsbaumeister ist es essenziell, dass es schlechte Schüler nicht gibt. Kommt man nicht umhin, eine Leistung als schlecht zu bezeichnen, treten sie als moralhütende und gerechtigkeitherstellende Sprachpolizei auf den Plan, um das „Konstrukt des ‚schlechten Schülers’“ (S. 57) als eine Erfindung übelwollender Menschen zu entlarven. Die Nivellierung des Anforderungsprofils und ein Zaubertrick namens Sprechakt schaffen den schlechten Schüler ab.
Aber, so lehrt es der Psychoanalytiker Ahrbeck: „Die Wirklichkeit lässt sich nicht beliebig verleugnen und durch Begriffsentsorgung in ein neues Format pressen.“ Am Beispiel der „Inklusion“ kann leicht demonstriert werden, wie Wirklichkeitsleugner vorgehen – und warum sie an der Realität scheitern müssen. Denn versagen würden „Neuschöpfungen, die dem Konstrukt des unterscheidungslosen Menschen verpflichtet sind“. Ihre Hilflosigkeit zeigt sich zum Beispiel, wenn psychisch schwer belastete Kinder und Jugendliche als ‚verhaltensoriginell’ umbenannt werden.
Ein roter Faden der Kritik an diesen (De)Konstruktionen der Befindlichen leitet den Leser durch Ahrbecks tour de force des Elends unserer Zeit: Das Aufdecken von Widersprüchen in der Sozialingenieurslehre, das Sprengen aller Grenzen bei gleichzeitiger Errichtung neuer Grenzen, die „tiefe Gräben“ bilden. Ein eklatanter Widerspruch: Jene, die ständig „Konstrukte“ orten, greifen zur „Selbstkonstruktion“ – fluider Geschlechter etwa –, die sie unter dem Stichwort „freie Entfaltung“ für sich reklamieren. Ebenso auffällig: Diejenigen, die alles Mögliche „sichtbar machen“ wollen (Frauen, Schwule, Transsexuelle, People of Colour), streben danach, Unliebsames „durch Differenznivellierung“ zum Verschwinden zu bringen.
Treffend beschreibt Ahrbeck die Dialektik des Befindlichkeitskults – „wie stark ein durch Sensibilitäten aufgerüsteter Machtanspruch sein kann, wie sehr er sich dadurch Bedeutung verschafft, dass er andere in das grelle Licht des moralisch Illegitimen stellt“. Das destruktive Potential, das den Befindlichkeitskonstrukteuren innewohnt, ist enorm, ihre Gruppenbildung funktioniert nur ex negativo, sie benötigen als unabdingbaren Kitt stets ein Feindbild, das außerhalb gehalten werden muss, ja durch dessen Ausgrenzung sie erst zusammenrücken.
Das Kapitel „Gerechtigkeit“ dechiffriert einen alten sozialistischen Traum, nach dem es gerecht nur zugehen kann bei völliger Gleichheit aller mit allen, im Bildungswesen angeblich nur im Gesamtschulsystem. Dabei könnte es absolute Gerechtigkeit nur im Lande Utopia geben, also dem Nicht-Ort. Im Bereich des Möglichen liegt „Chancengerechtigkeit“ – Ahrbeck zeigt sie auf. Die Möglichkeit ergreifen, das erfordert Einsatz und Willen; eine Selbstläufergerechtigkeit, wie sie von postmodernen Klassenkämpfern angestrebt wird, ist weder gerecht noch erstrebenswert. Die zentrale Differenz in der Debatte um Inklusion bestehe in der Frage, ob es Ergebnisgleichheit geben soll oder Chancengleichheit. Letzteres heißt, dass jeder die gleichen Startvoraussetzungen hat, während die andere Position eine Relativierung (mindestens) des Leistungsbegriffes erfordert. Eine bessere Gesellschaft entsteht so nicht.
Der Terror der Befindlichkeiten hat die Wissenschaften (ein Pluralwort!) kontaminiert, den Journalismus und zuletzt die Politik: „Feministische“ Außenpolitik statt interessengeleiteter; hysterischer Panikmodus statt analytischer Gesundheitspolitik. Die Angehörigen der „Generation beleidigt“ – so ein im „Jahrmarkt“ oft zitierter Buchtitel von Caroline Fourest, für die schon die Ausübung eines hochdotierten Bundestagsmandats ein „Opfer“ ihrer Jugend darstellt (so die Grünen-Abgeordnete Emilia Fester) – haben es sich in den Medienredaktionen bequem gemacht. Der Anteil von linksgrün Empfindsamen unter ARD-Nachwuchsredakteuren wurde mit weit über 90 Prozent ermittelt. Warum sollten diese Beleidigten eine Aufklärungsschrift über Folgen des Beleidigtseins bewerben?
Es gibt zwei Varianten, mit „umstrittenen“ Kritikern umzugehen: Die eine wurde im Verriss-Zirkus gegen Uwe Tellkamps neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ gegeben, mit Argumenten ausschließlich ad hominem, nie in der Sache. Die andere heißt Verschweigen, als wäre etwas nicht existent, wenn darüber nicht geredet wird. Das jedenfalls widerfuhr dem „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“, genauso wie früheren Schriften des Autors. Ahrbeck, seinerzeit Professor für Verhaltensgestörtenpädagogik, hatte 2011 sein Buch „Der Umgang mit Behinderung“ veröffentlicht. Drei Jahre später legte er mit „Inklusion – eine Kritik“ nach. Beides Plädoyers dafür, Fähigkeiten differenziert statt idealisierend zu betrachten, weil „elementare Unterschiede zwischen Menschen nicht beliebig zur Disposition gestellt werden können.“ Bei Behinderten sollten stattdessen „relevante Lebenseinschränkungen anerkannt werden ebenso wie ihre unübersehbaren sozialen Folgen.“ Dass „so jemand“ ins Schussfeld der Gleichmachungsbefindlichen gerät, versteht sich.
Resonanz – Fehlanzeige
Das Schweigen der Befindlichen tönt vielsagend. Es gibt sehr wenige Besprechungen des „Jahrmarkts“. Auf der Verlagshomepage findet sich eine Pressestimme aus einem pädagogischen Verbandsorgan. Die lokale Hannoversche Allgemeine brachte nicht viel mehr als ein Zitat. Bleiben Rezensionen in der Schweizer Weltwoche (dort hinter Bezahlschranke), im Cicero (online und Print) sowie auf Sezession im Netz (die einzig substantielle aus der Feder des Lehrers Heino Bosselmann). Sicherlich nicht die Resonanz, die sich Autor und Verlag bei einem so brisanten Thema gewünscht haben. Warum interessieren sich die anderen Medien nicht dafür? Der Verlag weiß es auch nicht.
Wissenschaftlich beschränkt sich die Resonanz bisher auf die Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN). Der erste Satz dort: „Der Name Bernd Ahrbeck ist im Einflussbereich der VHN bekannt.“ Was soll das heißen? Dass die VHN beobachtet, wer bei Themen, die sie bearbeitet, etwas von der VHN-Lehre Abweichendes vorbringt, um ihren „Einfluss“ einzusetzen, diese abweichenden Stimmen – ja: was? – einzuordnen? „Inklusionskritiker“, so Ahrbeck, würden „moralisch attackiert bis hin zur Ausstoßung“. Mehrfach verweist er auf ein Problem, das die Wissenschaften zerstört: die unheilige Verbindung von Forschung und politischem Aktivismus.
Christian Mürner will in Ahrbeck einen Kritiker seiner eigenen Position als eine Art „Inklusionsleugner“ framen und damit diskreditieren. Der Rezensent weist dazu die Kernthese, es gäbe „Befindlichkeiten“ auf Seiten der vom Autor Kritisierten, argumentlos zurück, um den Befund gegen den Autor zu wenden: Dieser würde durch seine Kritik nur die eigene Befindlichkeit demonstrieren. Die von berechtigter Kritik Ertappten mimen verfolgte Unschuld, stellen den mit guten Argumenten Kritisierenden ins Unrecht, um sogleich, wenn der Diffamierte auf Diffamierung hinweist, ihm zuzurufen: „Seht her, diese Mimose erträgt keine Kritik!“ Die VHN behauptet apodiktisch, Ahrbecks Essay liefere „keinen perspektivischen Befund für angemessene Auseinandersetzungen“. Und ob er das tut.
Nicht alles, was von vielen beschwiegen wird, sollte man a priori als interessant ansehen. Aber manchmal spricht das Schweigen doch beredt. Der Wegschaureflex dürfte schon durch den Klappentext ausgelöst worden sein: „Einen höheren Grad an Gleichberechtigung als in unserer Gesellschaft hat es kaum je in der Geschichte gegeben.“ Aha, ein Leugner der Unterprivilegierung. „In den gegenwärtigen Debatten scheint es häufig so, als seien noch nie so viele Menschen diskriminiert worden wie heute.“ Ein Ewiggestriger, der „strukturelle“ Diskriminierung nicht sehen will. „Beständig drängen neue Interessengruppen mit Forderungen nach Entschädigung an die Öffentlichkeit, ein regelrechter Wettkampf, wem die größte Opferrolle gebührt, ist entbrannt.“ Unerhört, Opfer von Rassismus, Sexismus etc. zu verhöhnen. „Gegen die Interessen und Lebensvorstellungen einer überwältigenden Mehrheit streben kleine Gruppierungen, getrieben von politischem Sendungsbewusstsein, den fundamentalen gesellschaftlichen Wandel und ein neues kulturelles Selbstverständnis an.“
Ein leises Buch – zu leise?
Bernd Ahrbeck hat ein leises Buch geschrieben. Keine Leisetreterei, wohlgemerkt, denn der Autor vertritt durchaus klar erkennbar eine Meinung. Aber er referiert die Sachverhalte unaufgeregt, sachlich, nüchtern, bürgerlich in Stil und Gestus, fast distanziert, obgleich man ihm seinen (kritischen) Standpunkt schon ablauschen kann. Damit setzt er einen wohltuenden Kontrast zur aktionistischen Hysterie der „Identitätslinken“ (Sandra Kostner) und „Selbstgerechten“ (Sahra Wagenknecht). Aber ein Essay, das schon in seinem Genre der bürgerliche Entwurf einer Diskussionskultur sein will – kann es überhaupt wahrgenommen werden im Rummel der Befindlichkeiten?
Denn auf dem Jahrmarkt wird geschrien. Da sind die Farben knallig. Gegen schrille Lautsprecher und Krawallwillige soll eine sprachlich und formal gediegene Position bestehen? Ein Buch tritt an gegen Sticker-Propaganda, die den öffentlichen Raum vermüllt, gegen den Twitter-Mob, gegen YouTube-Influencer, die es unter der „Zerstörung“ (Rezo) von etwas, das ihnen nicht passt, nicht machen.
Ein weiterer Einwand: Der Begriff „Opfergemeinschaft“ des Untertitels greift etwas zu kurz und widerspricht in seinem Singular den bereits in der Kapiteleinteilung aufgedröselten vielfältigen Opfergemeinschaften. „Gerechtigkeit“ beschäftigt sich mit den Opfern des Klassismus wie der bedauernswerten Zeit-Redakteurin Anna Mayr; „Inklusion“ mit vermeintlich ausgeschlossenen Behinderten; „Sexualpädagogik“ und „Transgender“ mit angeblicher Ausgrenzung der LGBTQIA+-Bewegung – letzteres mit Opfern, die zur Generierung ihres Opferstatus erst mit eigenen Begriffen ausgestattet werden müssen; „Identitätspolitik“ mit den Opfern, die jetzt „PoC“ genannt werden. „Vergangenheit“ schließlich mit den opferschaffenden Untaten des (weißen) Kolonialismus. Es gibt nicht die eine homogene „Opfergemeinschaft“. Zum Wesen des Erwachtseins gehört die Segmentierung der Gesellschaft in eine unendliche Zahl von Opfergemeinschaften, die intersektionelle Opferhäufungen in einzelnen Personen behaupten, die untereinander in Wettbewerb treten um die höchste Position innerhalb ausdifferenzierter Opferhierarchien.
Ahrbeck benennt den Knackpunkt selbst: Wer profitiert von Diskursverengung, Betroffenheitskult und Hypermoral? Der Jahrmarkt unserer Zeit ist vom Autor in umfassender Analyse abgeschritten, die Schaustellerbuden lärmender Marketender treffend porträtiert, aber die Frage „Cui bono?“ bleibt ohne Antwort. Diese läge im Kapitalisierungspotential, das allen „Befindlichkeiten“ innewohnt. Für sämtliche Opfergruppen (und für die, die sich zu ihren Fürsprechern machen) ist der Erwerb von „Kapital“ ein Kernantrieb: Die Bewirtschaftung von identitätspolitischen Themen ist hochgradig lukrativ, wenn Social Credits winken, Wählerstimmen für die befindlichste Partei, nicht zuletzt: bestens dotierte Jobs in regierungsfinanzierten NGOs, Denkfabriken und „zivilgesellschaftlichen“ Institutionen aller Art.
Der Autor selbst benennt im Gespräch schließlich einen weiteren Punkt, den man stärker herausheben müsste: Ob hinter dem lautstarken Getrommel, bei Queerness etwa, überhaupt die ganze Gruppierung stehe, in deren Namen Lärm geschlagen werde. Es sei eine Anmaßung, zu behaupten, da würde jemand für alle sprechen, die dieses und jenes Merkmal aufweisen. Wie richtig eine solche Einschätzung liegt, zeigt sich immer wieder. Protest aus den eigenen Reihen schallt den Befindlichen genug entgegen: „Freiheit ist keine Metapher“ (2018) ist sicher einer der intelligentesten und hörbarsten dieser Widersprüche aus dem linken queeren Milieu.
Bürgerliches Hoffnungszeichen
Der Autor des „Jahrmarkts“ bekennt, sein Ziel sei, prägnant zu formulieren, nie aber so, dass damit neue Spaltungen heraufbeschworen werden. Seine Methode ist die abwägende Darstellung des Für und Wider. Durchaus erfrischend, dass hier einer mal nicht identitätslinke Hysterie mit konservativer Gegenhysterie meint kontern zu müssen – gemäß Reiz-Reaktions-Schema. Sondern bei sich bleibt nach dem Motto: Wer bürgerliche Werte verteidigt, sollte auch einen erkennbar bürgerlichen Ton pflegen. Ahrbecks Buch bedient auch nicht die Zeitkrankheit Distanzeritis. Es verzichtet auf den Kotau gegenüber dem Zeitgeist, auf abgrenzende Tritte gegen „rechts“.
Die westlichen Gesellschaften kranken „an einem Mangel an Respekt. Respekt vor Leistung, Disziplin, Mut, Pflichtbewusstsein, Glaube, Alter, Recht und Tradition“, so befand Peter Sloterdijk unlängst. Wo das „Gift der gesellschaftlichen Spaltung“ wirke, drohe Gefahr – denn: „Wäre das Werk vollendet, gäbe es keine Gesellschaft mehr.“
Vielleicht muss ein bürgerlicher Kritiker wie Bernd Ahrbeck bei seinen Bemühungen um Respekt in Kauf nehmen, respektlose Rempeleien derer zu ernten, die den Respekt abschaffen wollen. Eine wichtige Markierung jedenfalls hat Ahrbeck mit seinem Diskussionsbeitrag gesetzt.
Nicht zuletzt durch sein Vorbild durch konstruktiven, respektvollen Stil.
Bernd Ahrbeck, „Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft“
zu Klampen Verlag, 156 Seiten, 16 Euro
Als die zweite Diktatur kam
In „Der kurze Sommer der Freiheit“ erinnert Klaus-Rüder Mai an junge Menschen, die in der Frühzeit der DDR gegen die Diktatur opponierten – und zeichnet an ihren Biografien die kurze Übergangszeit nach, in der manches, um mit Ulbricht zu sprechen, noch „demokratisch aussah“
„Zurecht bekannt und Teil unserer Erinnerungskultur ist die mutige Tat und das Schicksal der Studentin Sophie Scholl. Doch wer war Herbert Belter?“ Mit dieser Frage eröffnet Klaus-Rüdiger Mai sein Buch „Der kurze Sommer der Freiheit“. Den meisten dürften Namen wie Herbert Belter oder Werner Ihmels vor der Lektüre des Buchs nichts gesagt haben. Danach kennt der Leser ihre Geschichte und die etlicher anderer junger Männer und Frauen, die im Osten zwischen 1945 und 1953 versuchten, den Marsch in die Diktatur aufzuhalten. Allein dafür verdient Mais Buch Verbreitung.
Worum geht es in den kurzen Lebensgeschichten dieser bisher nahezu Unbekannten? Herbert Belter, Jahrgang 1929, glaubte an die Möglichkeit, als Student an der Universität Leipzig mit Gleichgesinnten das Abgleiten der DDR in die autoritäre Ordnung bekämpfen zu können – mit Mitteln, die im Rückblick anrührend und heroisch zugleich anmuten. Der junge Student, übrigens SED-Mitglied, lieferte drei Artikel über Ereignisse in Leipzig an den RIAS. Außerdem holte er SED-kritische Flugschriften aus Westberlin ab. In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1950 verteilten Belter und sein Freund Helmut du Mênil in Leipzig Flugblätter. Deutsche Sicherheitskräfte verhafteten die beiden, dann auch andere junge Männer aus ihrem Umkreis und überstellten sie dem sowjetischen Sicherheitsapparat. Der machte aus dem Fall des Studenten die „Gruppe Belter“ (die es so stringent wahrscheinlich gar nicht gab).
Es handelte sich damals nicht um die ersten Verhaftungen an der Leipziger Universität. Werner Ihmels, ein junger Theologiestudent, geriet schon 1947 in die Fänge des Sicherheitsapparats, weil er offen gegen die beginnende Gleichschaltung in der Sowjetischen Besatzungszone und besonders an der Hochschule protestierte. Er hätte sich beinahe retten können – die politische Polizei nahm ihn auf dem Leipziger Hauptbahnhof fest, als er die Stadt verlassen wollte, um auf die Universität Tübingen zu wechseln. Ihmels starb mit 23 Jahren an Lungentuberkulose im „Gelben Elend“, dem Zuchthaus Bautzen.
„Der kurze Sommer der Freiheit“ skizziert neben den Biografien dieser und vieler anderer Oppositioneller die kurze und in der Geschichtsschreibung bisher kaum beleuchtete Zeit, in der sowjetische Besatzungsmacht und KPD-, ab 1946 SED-Kader die von Anfang an geplante Diktatur errichteten – allerdings Schritt für Schritt. Wie das zu geschehen hatte, schärfte der spätere SED-Generalsekretär Walter Ulbricht seinen Genossen mit den legendären Worten ein: „Es muss demokratisch aussehen – aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Das Buch erinnert daran, dass es zunächst auch in der Sowjetischen Zone nichtkommunistische Parteien gab (die nach und nach gleichgeschaltet oder wie die SPD geschluckt wurden), und dass bis 1948 einigermaßen freie Wahlen stattfanden. Mai zeichnet nach, wie die KPD mit kühler Berechnung auf die Gründung eines eigenen Jugendverbandes verzichtete, vorgeblich, um dem formal überparteilichen Verband „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) nicht im Weg zu stehen. Schon in den späten Vierzigern formte die Partei die FDJ dann zielgerichtet in den Staatsjugendverband der Staatspartei um. Mai zeigt hier auch interessante Parallelen zur Entwicklung der Hitlerjugend, die sich nach 1933 auch zunächst offen für bündische Jugendliche zeigte, um dann nach und nach gleichzuschalten.
Nein, die reelle Chance, auf eine freie Gesellschaft, das stellte der Autor fest, existierte in der östlichen Zone von Anfang an nicht. Aber es gab auch dort – eben wegen dieser Täuschungsmanöver – nach der NS-Zeit gerade bei vielen Jüngeren die Hoffnung auf eine nichtdiktatorische Gesellschaft. Beziehungsweise den Unglauben, dass auf eine Diktatur gleich die nächste folgen würde.
Mais Verdienst besteht auch darin, persönliche Zeugnisse der frühen Oppositionellen zu zitieren, die für ihre Überzeugung mit dem Leben oder jahrelangen Freiheitsstrafen bezahlten. Etwa zitiert er das Gnadengesuch, das der 21-jährige Belter kurz vor seiner Erschießung an den Obersten Sowjet richtete. Ein Grab für ihn gibt es nicht – seine Asche wurde in einem Massengrab in Donskoje verscharrt. Das Buch enthält auch ein Faksimile eines Kassibers an die Eltern, das Ihmels aus dem Zuchthaus Bautzen schmuggeln konnte. „Macht euch weder Sorgen noch Vorwürfe“, heißt es dort: „Es war gut so“.
Klaus-Rüdiger Mai, „Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde“
Herder, 320 Seiten, 22 Euro
Bürgersein beginnt im Inneren
Hannah Arendts Text „Die Freiheit, frei zu sein“ ist eine späte Entdeckung – und kommt trotzdem gerade rechtzeitig
Ein bis vor Kurzem nicht auf Deutsch publizierter, also übersehener Text von Hannah Arendt – kann es so etwas geben? Ihr Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ erschien tatsächlich erst 2018 in ihrer Muttersprache (und gleichzeitig erstmals auf Englisch, nämlich 2018 in dem Sammelband „Tinking Without a Banister: Essays in Understanding“ bei Schocken, New York). Die Philosophin betrachtet zunächst den Begriff der Revolution näher, wobei sie, ganz anders als die meisten europäischen Historiker und Soziologen, die französische Revolution von 1789 und -92, die in den Jakobinerterror abglitt, als Modell einer gescheiterten, die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Herrschaft dagegen als Beispiel einer gelungenen Revolution deutet. Schon mit dieser Perspektive beweist sie Originalität, mit der Einordnung der beiden Ereignisse erst recht. „Die Französische Revolution“, so Arendt, „mündete in eine Katastrophe und wurde zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte; die Amerikanische Revolution war ein triumphaler Erfolg und blieb eine lokale Angelegenheit.“
Von der Revolutions- kommt ihr Essay auf die Freiheitsgeschichte: Sie unterscheidet zwischen der Befreiung von absolutistischer beziehungsweise kolonialer Bedrückung einerseits, also der Freiheit von bestimmten Umständen und dem nächsten Schritt, der Ausformung des Bürgergedankens, also der Freiheit zu einer bestimmten Lebensform, der „Freiheit, sich an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, Freiheit des Tuns“, wie es bei ihr heißt. Bürgersein, so Arendts Fazit, beginnt mit diesem Bewusstsein. Und es fällt auch mit ihm.
Die Unterscheidung in negative und positive Freiheit – wann wäre die Erinnerung an diese Differenz wichtiger als in Zeiten, in denen Politiker einander ermahnen, „die Bürger“ müssten „besser mitgenommen werden“?
Bürger, würde Arendt heute wahrscheinlich schreiben, sind kein Transportgut der Regierung. Das sollten die Regierenden wissen – die Regierten aber auch.
Hannah Arendt „Die Freiheit, frei zu sein“
Herder, 61 Seiten, 9 Euro
Die Rezension des Buchs von Matthias Matussek erschien in ähnlicher Form bei Tichys Einblick.
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Danke für den Hinweis auf K.J. Mai. Ich hatte das Glück, in der Nach-68er-Zeit über das Buch von E.und E. Müller: "... stürmt die Festung Wissenschaft" zu stolpern. Da wurde mir deutlich, dass alles, was ich seinerzeit erlebte - Kampf gegen Rechts, Staats-Antifa, Lückenpresse, kirchliche Anbiederung, Cancel Culture usw. - schon ein Vierteljahrhundert früher in der SBZ da gewesen war. So wie es ja auch heute, ein halbes Jahrhundert später, wieder da ist. Und dass man damit rechnen muss, dass alles das ein ähnliches Ende nehmen kann wie in der SBZ. Die SED-Diktatur entstand von innen heraus, als natürliches Arbeitsergebnis der neuen Jakobiner; die sowjetische Besatzung war nicht mehr als eine günstige Randbedingung.
Es kann auch nicht schaden, wieder einmal in Edmund Burke's "Betrachtungen über die französische Revolution" hineinzuschauen, auch wenn das Büchlein schon etwas älter ist. Sicher, da gibt es einiges, das klar überholt ist - aber der Kern von Burke's Überlegungen ist nach wie vor für jeden Konservativen gültig. -
- Zu Klonovsky: Seine 'acta' sind gallig, das ist wahr. Aber wie sollte ein Demokrat heutzutage denn nicht gallig sein? Linke versuchen, alles, was ihrer Definition nach "rechts" ist, zu perhorreszieren, als moralisch schlecht und verboten hinzustellen. Ist den Menschen denn nicht klar, was das in der Praxis bedeutet? Hier wird der Versuch gemacht, nicht einzelne Meinungen punktuell niederzumachen: Es wird versucht, die ganze rechte Hälfte des politischen Spektrums auszulöschen, so dass nur noch eine linke Einheitsmeinung übrigbleibt.
Das bedeutet: ABSCHAFFUNG DER DEMOKRATIE, nicht mehr und nicht weniger. Wie soll man da nicht gallig werden? Galligwerden ist da erste Bürgerpflicht.
Vielen Dank für die "leseappetitanregende" Vorstellung dieser offenbar durchweg lesenswerten Bücher. Das Buch von Klaus-Rüdiger Mai würde gut zu einem Buch passen, das ich mir zur Zeit (eher zufällig) anhöre: "Rummelplatz" von Werner Bräunig. Warum anhören: weil ich besser höre als sehe. Wie wäre es mal mit Hörbuch-Besprechungen? "Rummelplatz" wird übrigens ganz hervorragend von dem Schauspieler Jörg Gudzuhn vorgelesen.