Und wo liegt unser Notre Dame?
In ihrem Roman „Das Haus“ stellt Monika Maron die Frage, welche Minimalvorräte an Gemeinsamkeiten unsere Gegenwart noch bietet. Und sie erzählt vom Altern. Beiden Themen kann niemand ausweichen. Das macht ihr Buch so aktuell
„Ich wollte in das Haus nicht einziehen.“ Dieser Satz steht ganz am Anfang von Monika Marons Roman wie ein Warnhinweis. Und er markiert die zentrale Beziehung des Buchs, die zwischen der Ich-Erzählerin Eva und dem Schlösschen in Bossin. Es liegt in der Nähe von Berlin, aber eben auch ausreichend entfernt von der Stadt. Einer kleinen Gesellschaft erscheint es als guter Platz für eine Alterskommune. Der Erbin Katharina erscheint das Anwesen zu groß für sich allein. Wie sich dann herausstellt, bietet es aber auch zu wenig Platz für die unterschiedlichen Charaktere, die dort einziehen.
Der Roman entwirft die Konstellation der abgeschlossenen Gesellschaft, die sich in der Literatur nicht ganz selten findet, am prominentesten in Thomas Manns „Zauberberg“, in Vicki Baums „Menschen im Hotel“ und William Goldings „Lord of the Flies“. Kein Autor baut mit seinem Personal an einem isolierten Ort die Gesellschaft als Ganzes nach. Dann besäße die besondere Konstellation auch wenig Sinn. Aber jede geschlossene Gruppe schwingt mit der Welt, die sowieso nie ganz draußen bleibt, ob im Sanatorium oder auf einer Insel. Das gilt natürlich auch für den Roman einer Autorin, die in ihren Büchern fast immer das Private mit dem verbindet, was in der Gesellschaft stattfindet, ohne dass das eine einfach als Chiffre für das andere stehen würde. Welche Signale von draußen dringen nun in das Landgut, in dem die Bewohner aus unterschiedlichen Motiven einen Rückzugsort sehen, manche sogar ihre Rettung?
“Das Haus war schöner, als ich es mir nach den Fotos vorgestellt hatte“, heißt es im inneren Monolog von Eva, als sie einzieht, „ein langgezogener Bau mit schmucklosen Säulen links und rechts der Treppe, die zu dem überdachten Eingang führten, die in der oberen Etage symmetrisch angeordneten Fenster ließen auf ausreichende Zimmer schließen, darüber drei Gaubenfenster, die wie schläfrige Augen aus dem Dach in die Landschaft blickten.“
Niemand, das stellt sich ziemlich schnell heraus, kommt ohne Last und ganz unbeschädigt in dieses Bossiner Gutshaus. Hinter der Eigentümerin Katharina liegt eine Ehe, die sie als Bedrückung empfunden hatte und an deren Ende sie sich fühlte „wie von Ganzkörpergips befreit“. Der Naturwissenschaftler Johannes Bertram, von seiner jüngeren Frau verlassen, braucht einen Ort, an dem er als ungewollt Einzelner leben kann ohne zu vereinsamen. So ähnlich geht es auch Michael Jahnke und der Buchhändlerin Mary – beide halten nach dem Tod ihrer Ehemänner den Einzug in die Kommune für besser, als allein in der Großstadt zu bleiben. Sylvie, Evas Freundin, die sich am Anfang begeistert vom Landleben zeigt, behält, wie sich herausstellt, ihre Berliner Stadtwohnung. Auch sie betritt das Brandenburger Idyll also nur auf Widerruf. Nur ein Ehepaar gehört zu der Runde, die Müllers, wobei eigentlich nur er den Umzug wegen seiner Krankheit will; seine Frau folgt ihm widerwillig. Für die Ich-Erzählerin gibt es einen äußeren Anlass, die Dauerbauarbeiten in dem Berliner Haus, in dem sie bisher lebte. Außerdem erklärt sie Bossin für sich von vornherein als Provisorium, das sie auch wieder verlassen will. Sie nähert sich dieser Zwischenlösung allerdings erst einmal an. Ein wenig ähnelt Evas vorsichtiges Herantasten an eine Liebesgeschichte im Alter, in der jemand versucht, sich an einen vielleicht nicht idealen, aber immerhin möglichen Partner zu gewöhnen. Nur, dass hier das Haus mit seiner Kommune den Platz eines Gefährten einnimmt.
Bei Anton Tschechow heißt es: “Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert”. In Marons neuem Roman kündigt sich das Verhängnis in den Abendnachrichten an. Am Abend von Evas Einzug stürzt jemand in die Weintrinkerrunde mit dem Ruf: „Notre Dame brennt!“ Die Mitglieder der Kommune versammeln sich vor dem Fernseher und schnell kommt die Frage auf, ob es eigentlich ein deutsches Gegenstück zu dem Pariser Dom gibt, einem Symbolort, der nicht allen, aber zumindest sehr vielen etwas bedeutet. Johannes, der aus Dresden stammt, nennt die Frauenkirche, die anderen werfen andere Orte in die Debatte. Aber sie merken, dass nichts diese Stelle wirklich füllt. Zu dem Ereignis der Brandkatastrophe gehörten damals auch Bilder von Zuschauern, oft sehr jungen, die angesichts der Flammen vor der Kathedrale niederknieten und beteten. Wo würden Menschen in Deutschland anfangen, öffentlich zu beten? Beim zweiten Brand der Frauenkirche? Einige vielleicht. Mit dieser Szene stellt sich die Frage dieses Romans, was eigentlich eine Gemeinschaft zusammenhält, im Kleinen und generell. Statt eine Antwort zu geben, die sich so einfach und selbst auf etwas kompliziertere Weise eben nicht geben lässt, umkreist die Autorin dieses Zentrum, in dem sie eine Gravitationskraft vermutet. Ihr unausgesprochenes Mantra lautet: Aber es muss doch etwas geben. Die Erzählerin weist instinktiv den Gedanken zurück, der Brand in Paris sei vielleicht nur ein Unfall: „So oder so, hatte Katharina gesagt, sei er ein Zeichen. Und warum wollte ich, dass es ein Anschlag war, damit er eine Bedeutung hat? Und wenn es doch nur Fahrlässigkeit war, ein glühender Zigarettenrest, ein defektes Kabel, wäre das kein Zeichen? Vielleicht war gerade das, die Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Symbol von unser aller Schicksal, wie der Präsident gesagt hat, vielleicht lag ja gerade darin die Bedeutung, ohne die man diese sonst vollkommen sinnlose Zerstörung nicht ertragen konnte.“
Nach diesem ersten Auftritt eines Feuers soll es in „Das Haus“ noch zwei weitere Brände geben. Aber erst einmal stellen die Alterskommunarden unfreiwillig fest, dass es selbst in ihrer ziemlich homogenen Gemeinschaft – alle besitzen bürgerliche Manieren, alle sind älter und abgeklärt – nur sehr schwache Kräfte existieren, die ihre Wohngemeinschaft zusammenhalten. Ein banaler Streit treibt die Runde fast auseinander. Katharina, von Beruf Tierärztin, nimmt einen pflegebedürftigen Pudel auf, Frau Müller legt dagegen Protest ein, angeblich wegen einer Allergie, in Wirklichkeit wegen ihrer Hundeangst. Und Katharina stellt fest, was eigentlich jeder weiß: nämlich, dass es sich um ihr Haus handelt. Das, die Erinnerung daran, in Bossin Gast und nicht ideeller Mitbesitzer zu sein, führt bei einigen schon zur gründlichen Verbitterung.
Monika Maron nähert sich der Frage, wovon im Bossiner Zirkel und in der Welt draußen noch Bindekraft ausgehen könnte. Dafür lässt sie die einzelnen Möglichkeiten (beziehungsweise Unmöglichkeiten) aufscheinen. Liebe oder zumindest erotisches Interesse kommt kurz ins Spiel, als ein deutlich jüngerer Autor von Kriminalromanen, ein Bekannter Evas, auf dem Landgut aufkreuzt. Jeder Bewohner des Hauses reagiert in dezenter Weise auf ihn. Es kommt zu keiner Affäre; der Durchreisende verschwindet auch wieder, genauso wie die Familie der Müllers mit vielen Kindern, die für einen Moment die Szenerie beleben. Zur Religion pflegt keiner der Bewohner ein tröstendes Verhältnis. Auch hier blitzt nur sehr kurz etwas auf, als Eva sich an die Begegnung mit einem seltsamen Heiligen in Berlin auf der Straße erinnert, der sie segnet.
Neben den Klassikern Liebe, Familie und Religion, die leider nicht oder nur in kleinster Dosierung zur Verfügung stehen, bietet auch die große politische Gesellschaft wenig an, auf das sich mehrere Gruppen und Milieus einigen könnten. Noch nicht einmal die Schlösschenbewohner. Ob es nun darum geht, mit welchem Recht Erben (also Katharina mit ihrem Landhaus) das besitzen sollen, was ihnen zufällt, ob um Klimakatastrophismus und andere Themen: Jeder im Haus gibt seine Ansicht zu Protokoll, dabei bleibt es aber auch.
Die Handlung spielt in der Zeit vor Corona. Und nur deshalb, das darf der Leser jedenfalls vermuten, führen die Risse nicht zum Bruch. Das, was mittlerweile das ganze Land prägt, die Enge des öffentlichen Debattenraums, die Verhärtung, dieses Klima dringt auch in Bossin ein, obwohl die Bewohner versuchen, sich von dem Leben draußen zurückzuziehen. An einer Stelle wirft jemand in den Gesprächen die Frage auf, ob es in Deutschland einen Autor wie Michel Houellebecq geben könnte. Wobei die Frage nicht auf einen Schriftsteller zielt, der hier so ähnlich schreibt wie der französische Romancier, sondern, ob ihn zumindest Teile der politischen und medialen Öffentlichkeit als wichtige literarische Figur anerkennen würden – was in Frankreich immerhin der Fall ist – statt ihm nur das dümmliche Etikett ‚umstritten‘ aufzupappen. Nein, da einigt sich die Runde ausnahmsweise schnell, diesen deutschen Houellebecq gäbe es wahrscheinlich nicht.
Im Kern des Romans steht der nicht ausbuchstabierte Befund, dass es ein Minimum an Gemeinsamkeiten braucht, damit eine kleine und erst recht große Gesellschaft nicht zerbröselt. Und dass ein Mangel an Bindungen, wenn er einmal einritt, sich nur sehr schwer wieder beheben lässt. Möglicherweise überhaupt nicht.
„Das Haus“ handelt von einem zweiten Großthema, das eng mit dem ersten zusammenhängt, Alter und Einsamkeit. Eva verlässt eben nicht nur wegen des Baulärms Berlin. Die Ich-Erzählerin bleibt in Bossin distanziert zu den anderen. Und sie hält auch Distanz zu sich selbst. „Ich interessierte mich nicht mehr sonderlich für mich, ich wusste inzwischen zu gut über mich Bescheid“, heißt es an einer Stelle. In der Alterskommune fühlt sie sich etwas fehl am Platz. Aber welcher Platz wäre der richtige? „Nein, das war nichts für mich, das wusste ich auch.“, sagt sie sich. „Aber was war noch etwas für mich? Ich hatte keinen Beruf mehr, keine Wohnung, eigentlich auch keine Familie, meine Tochter wohnte am anderen Ende von Deutschland, mein Enkelsohn studierte in Wien. Vielleicht war Bossin genau der richtige Ort, um sich diese Frage zu stellen. Was soll aus diesem Rest des Lebens werden, in dem man nicht mehr sein durfte, wer man bis dahin war. Einmal in der Woche ins Theater gehen und ins Kino, einmal im Monat ins Konzert, Bücher und Zeitungen lesen, um das zu simulieren, was gesellschaftliche Teilhabe genannt wurde, obwohl man längst unter der Rubrik Rentner geführt wurde, als jemand, der den öffentlichen Haushalt belastete, vermutlich bald ein Pflegefall sein würde, vielleicht sogar dement, jemand, der Schuld war an mangelndem Pflegepersonal oder der in einer zu großen Wohnung lebte, die von jungen Familien gebraucht wurde.“
In „Das Haus“ erzählt Monika Maron in ihrem lakonischen Ton, den ihre Leser aus anderen Büchern kennen, auch mit einer Selbstdistanz, die an ihre Hauptfigur erinnert – mit dem wichtigen Unterschied, dass sich die Autorin durchaus für ihr Romanpersonal interessiert. Zur Lakonie kommt eine dunklere Einfärbung als in „Munin“ oder „Artur Lanz“. Auf die Fragen nach dem Minimalvorrat an Gemeinsamkeiten, danach, was bei Einsamkeit tröstet, gibt es keine erlösenden Antworten. Aber die muss ein Autor, eine Autorin auch gar nicht liefern. Monika Maron erzählt so, dass der Leser die Fragen für sich selbst stellt.
Das Finale des Romans versöhnt nicht. Aber es führt buchstäblich ins Offene.
„Das Haus“, Monika Maron, Hoffmann und Campe, 211 Seiten, 25 Euro
Dieser Text erschien auch in Tichys Einblick.
Nicht einmal ein Huhn bei der Jahresendfeier
Die 1992 im Westen geborene Charlotte Gneuß schreibt einen Roman, der in der DDR spielen soll. Das geht gründlich schief. Trotzdem lässt sich an „Gittersee“ einiges über die Bedingungen von Literatur lernen – und über den Literaturbetrieb der Gegenwart
Falls Sie noch nichts über den neuesten Literaturskandal vernommen haben, dann lesen Sie es hier zusammengefasst und mit einigen Anmerkungen versehen, die nötig sind, um überhaupt zu verstehen, warum das eine oder andere Medium die Begleitumstände des Romans „Gittersee“ von Charlotte Gneuß zum Skandalon hochstufte. Als Gneuß‘ Manuskript noch beim Fischer-Verlag in Frankfurt lag, verfasste Ingo Schulze („Simple Stories“), ebenfalls Fischer-Autor, eine interne Anmerkungsliste. Üblicherweise geben freundschaftlich verbundene Autoren einander privat, diskret und ohne institutionelle Umwege Hinweise. Dieser Fall lag etwas anders.
Denn die 1992 in Ludwigsburg geborene Gneuß lässt ihren Debütroman in einem Dresden des Jahres 1976 spielen. Der gebürtige Dresdner Schulze, Jahrgang 1962, sollte offenbar die Rolle eines halboffiziellen Gutachters übernehmen, was er auch tat, indem er 24 Mängel auflistete, vom falschen Wortgebrauch bis zur unpassenden Schilderung. Diese Liste wiederum fand ihren Weg zur Jury des Deutschen Buchpreises, „Gittersee“ aber nicht von der Long- auf die Shortlist.
Feuilletonisten, grundsätzlich immer daran interessiert, Locken auf einer Strohpuppe zu drehen, vermuteten erstens einen Zusammenhang und zweitens ein Überthema. Und das lautete, zumindest im Tagesspiegel: „Darf eine Schriftstellerin, die nie in der DDR gelebt hat, über diese schreiben?“ Die FAZ, die praktischerweise auch als erste Schulzes Liste in die Öffentlichkeit brachte, frug: „Darf sie das?“ Und die NZZ: „Wem gehört die DDR?.
Die Affäre ließ sich – Leser ahnen es schon – über ein paar Umwege mit dem Diskurs-Diskurs über kulturelle Aneignung und Identität verkoppeln. „Muss Literatur authentisch sein? Verliert ein Roman an literarischem Wert, wenn darin beschriebene Details nicht deckungsgleich sind mit den vermeintlichen Tatsachen?“ will der Deutschlandfunk wissen, ein ausgewiesenes Medium, wenn es darum geht, Fragen zu stellen, auf die niemand käme, der sich ernsthaft für Literatur interessiert. Die Besonderheit dieser Strohmanndebatte besteht darin, dass es weit und breit niemanden gibt, der behauptet, Gneuß dürfte als 31-jährige südwestdeutsche Autorin nicht über die DDR der siebziger Jahre schreiben. Belletristik und Sachbuch können auch die allermeisten im Leserpublikum noch ganz gut auseinanderhalten. Autoren dürfen alles. Ob sie es können, steht auf anderen Blättern, nämlich denen zwischen Vorder- und Rückseite ihrer Bücher.
In Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ bombardiert der Held Tyrone Slothrop aus einem Heißluftballon heraus ein Flugzeug erfolgreich mit Buttercremetorten, in Rudyard Kiplings „Kim“ setzen sich die Scherben eines zersprungenen Krugs wieder zusammen, Michail Bulgakow lässt in „Meister und Margarita“ einen sprechenden und menschengroßen schwarzer Kater als Teufelsbegleiter durch Moskau spazieren. Zur Literatur gehören Romane mit wundersamen Einsprengseln und ausgedehnter Phantastik, aber auch eine andere Sorte, in der es nicht weniger großartige Werke gibt – Beschreibungen von Orten, Sprache, Milieus, mit der ein Buch eine ganze Welt ein für alle Mal aufbewahrt. In Tomasi di Lampedusas „Gattopardo“ erhebt sich noch einmal die alte Gesellschaft Siziliens. Schreiben konnte den Roman nur ein Autor, der die großen und kleinsten kulturellen Gesten dieser Zeit, dieser Milieus im Innersten kannte und sie so festhielt, dass auch heute jeder Leser die innere Wahrheit des Romans sofort erkennt, ganz egal, ob er ihn auf Mandarin, Englisch oder Deutsch liest.
Es gibt kein besseres Buch, um zu lernen, was Gesellschaft eigentlich bedeutet; wie Kultur und Zeit sich ineinander verschränken. Ganz Ähnliches gilt für Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Evelyn Waughs „Wiedersehen mit Brideshead“. Hier schreiben Autoren über ihre Welt und über sie hinaus. Wer sich über Sizilien um 1860, das deutsche Bürgertum und das alte Ivy-League-England informieren möchte, muss diese Romane natürlich nicht lesen. Er kann auch zu Sachbüchern greifen. Aber niemand muss Lampedusa, Mann und Waugh überhaupt lesen. Man liest sie nicht zu Informationszwecken, also zu dem, was in Roland Barthes Wahrnehmungsmodell studio heißt, dort umschrieben mit „höflichem Interesse“. Sondern deshalb, weil sie die Qualität des punctum besitzen, für Barthes der Gegenpol zu studio: die plötzliche Durchdringung; das, was uns als Leser auch nach Jahrzehnten und Jahrhunderten in unserer eigenen Persönlichkeit trifft. Ohne innere Wahrheit gibt es diese Durchschlagskraft nicht. Um schon so viel zu verraten: Gneuß‘ „Gittersee“ gehört weder zur Kategorie studio noch zu punctum, weder zur phantastischen Erfindung noch zu den Romanen, die eine vergangene Zeit einkapseln.
Auf Schulzes Liste stand beispielsweise die ursprüngliche Formulierung „Jahresendfeier“; der Autor aus Dresden wies darauf hin, auch in der DDR sei das Wort ‚Weihnachtsfeier‘ üblich gewesen. Es handelt sich nicht um eine Kleinigkeit. Der Begriff „geflügelte Jahresendfigur“ kursierte in dem Oststaat tatsächlich – allerdings als Parodie der umstandskrämerischen und meist auch unbeholfenen Funktionärs- und Belehrungssprache, die ihre Botschaft in ihren Wendungen direkt einzuschreiben pflegte, etwa in ‚antifaschistischer Schutzwall‘ oder ‚Partei der Arbeiterklasse‘, in deren Führungszirkel kein einziger Arbeiter saß. Aus diesem Grund, das nebenbei, reagieren viele ältere Ostdeutsche auch mit stärkerer Abwehr auf Sprache mit bewusstseinsformender Absicht als Westdeutsche, etwa beim Gendern. Wohlmeinende Diskursmeister im Westen attestieren ihnen unter anderem deshalb ein Modernisierungsdefizit.
Nach 1990 hörten viele Westdeutsche von der geflügelten Jahresendfigur und deren Varianten, verstanden aber den Hintergrund nicht. Der Autor dieser Besprechung musste sich schon mehrmals anhören, in der DDR sei doch nicht Weihnachtsengel und Weihnachtfeier gesagt worden, die Leute hätten doch einen ganz anderen Begriff benutzt. Das Beispiel zeigt, wie Gesellschaft und Sprache zusammenhängen, wie es neben der Sprache des herrschenden Milieus eine von unten gab, sehr oft in Gestalt von Spott, der schon immer die Kommunikation der Unteren gegen die Oberen prägte. Der Autorenkollege wies Gneuß auch darauf hin, dass es sich bei der Elbe, in der eine ihrer Figuren ein Bad nimmt, in den siebziger Jahren um eine Kloake handelte (an vielen Tagen trieben Schaumblasen an der Oberfläche, verursacht von eingeleiteten Chemieabfällen). Natürlich kann eine Autorin ihren Helden auch in diese Brühe schicken. Dann muss sie das Bad allerdings auch entsprechend begründen und beschreiben. Aus zweiter Hand lassen sich all diese Dinge lernen. Es stellt sich nur die Frage, warum sich eine Autorin partout auf einem Schauplatz tummeln will, auf dem sie sich alles verdolmetschen lassen muss.
Ja, warum? Eine mögliche Antwort gibt es am Ende dieses Textes.
Je größer die Entfernung zwischen Autor und dem, was er beschreibt, desto eher fordert das Buch einen treibenden Plot bis hin zur Kolportage, in der Ort und Zeit nur die Kulisse stellen, falls nicht die Phantastik sowieso alles neu erfindet. In Wolfgang Herrndorfs wundervollem „Tschick“ beispielsweise treibt der klassische Road Novel-Sog die Handlung ganz von selbst voran: zwei Jungs im geklauten Lada, später kommt ein Mädchen dazu. Dass Herrndorf nicht Auto fahren konnte, weder Spätaussiedler noch schwul war und überhaupt nur selten aus Berlin herauskam, schadet dem Buch nicht im Mindesten. „Tschick“ lässt sich gut mit „Gittersee“ vergleichen; dort spielt die 16-jährige Karin die Hauptrolle, außerdem zwei etwas ältere Jungen. Motorisierte Fortbewegung kommt auch vor.
Gneuß konnte sich, obwohl es bei ihr auch um die Stasi, Verrat und einen Mordanschlag geht, nicht zwischen einem plotbestimmten Roman mit Zug zur Kolportage und der literarischen Beschwörung einer vergangenen Welt entscheiden. Sie versucht beides und es geht in beiden Richtungen schief. Die Autorin entscheidet sich auch nicht dafür, wer in „Gittersee“ eigentlich sprechen soll. In „Tschick“ gibt Herrndorf seinem 14-jähren Icherzähler Maik von Anfang an eine glaubwürdige Stimme, die das Buch trägt. Gneuß versucht einerseits, den Tonfall einer 16-Jährigen durch forcierte Unbeholfenheit zu imitieren. Wenn Karin sich an ihren verschwundenen Freund Paul erinnert, dann klingt das so: „Zum Beispiel erinnerte ich mich an diese Situation mit Paul, in der ich etwas gesagt hatte, er aber hatte daraufhin mit der Hand am Mund Pupsgeräusche gemacht, und ich hatte gefragt, wie geht das, und er hatte es mir gezeigt, und ich hatte es nachgemacht, aber es gelang mir nicht, und da hatte ich gesagt, egal, wo waren wir stehen geblieben, und er wusste es nicht mehr, und an diese Situation zum Beispiel erinnerte ich mich und wurde traurig.“ Das wechselt sie ab mit Landschafts- und Interieurschilderungen, die schlecht zur Gedankenwelt eines pubertierenden Mädchens passen, egal ob aus Dresden oder Ludwigsburg: „Am Morgen kroch der Nebel vom Fluss hinauf, wurde tagsüber vom Wind vertrieben und ließ sich nachts auf den Wiesen nieder, um den frühen Pflichtmenschen aufzulauern.“
Gelegentlich verschmilzt die Stimme der Heldin mit dem um literarischen Mehrwert bemühten Gneuß-Ton, etwa, wenn sie Karin tiefsinnen lässt: „Seit Paul fortgegangen war, war jeder Tag ein Tag ohne ihn.“ Nur sehr ab und an blitzen hübsche Mikrostellen auf, etwa, wenn Paul vor Karin kniet, in deren Haaren Pappelsamen hängen: „Verehrte Sommerschneekönigin, würden Sie mir bitte auf den Leim gehen?“ Leider spielt diese halbwegs interessante Figur im Fortgang des Romans eine immer kleinere Rolle.
Wenn es weder in der Form noch in der Erzählperspektive eine Konsistenz gibt, könnte die Autorin das immerhin mit Spannung wettzumachen versuchen. Aber ein Sog, eine Neugier auf den Fortgang der Ereignisse entsteht nicht, trotz Kriminal- und Geheimdienstelementen. Das scheitert an vielerlei, zuallererst aber am fehlenden Handwerk. Gleich am Anfang lässt sie ihre Mordgeschichte stattfinden, in der jemand einen Motorradfahrer mit einem zwischen zwei Straßenbäumen gespannten Draht erledigt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine brauchbare Methode. Nur kommen dabei nie und nimmer Motorrad und Fahrer übereinander zu liegen, egal, auf welcher Höhe der Draht ihn trifft. „Der Körper, der zur Hand gehört, wird von einem Motorrad bedeckt“, heißt es da. „Das Motorrad strahlt gelbes Licht über Mantel und Hand und Schal. Aus dem Schal sickert Blut.“ Strahlt nicht eher der Scheinwerfer das Licht aus? Wie kann der Scheinwerfer eines liegenden Motorrads den Mantel eines Menschen beleuchten, der eingeklemmt unter der Maschine liegt? Und sickert das Blut nicht eher aus dessen Körper und unter dem Schal hervor? Ganz abgesehen davon trägt es wenig zur Spannung bei, den Namen des Attentäters schon auf Seite eins auszuplaudern, statt kleine Spuren zu legen.
Die Handlung lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Karins Geliebter Paul verschwindet, offenbar flieht er in den Westen, Genaueres erfährt der Leser nicht. Der Stasi-Offizier Wickwalz setzt Karin als angebliche Mitwisserin unter Druck, verpflichtet sie als Informantin und setzt sie auf Rühle an, den gemeinsamen Freund der beiden. In „Gittersee“ tragen die meisten Figuren nur Nachnamen. Zum Glück, anderenfalls ließen sich etliche davon überhaupt nicht auseinanderhalten. Die DDR-Accessoires streut Gneuß gleichmäßig über den Text: die Dauerwelle der Lehrerin, den Schwalbe-Motorroller, die in Archiven gut recherchierbaren Lehrinhalte der Schulstunden. Ihre Lehrer treten ausnahmslos als weitgehend eigenschaftslose Nachnamenträger auf, die bei ihren Schülern die Bodenschätze der DDR abfragen und Kenntnisse über den Klassenfeind vermitteln. Wie nehmen die Belehrten das wahr? Gibt es den einen oder anderen, der die offizielle Sprache – siehe Jahresendfeier – ironisiert? Die DDR besaß vieles nicht, aber ein unbestreitbar großes komisches Potential, beispielhaft nachzulesen in Jochen Schmidts Beschreibung des Russischunterrichts, in Michael Klonovskys „Land der Wunder“ oder in Thomas Brussigs „Helden wie wir“. Aber dazu braucht es eben die Kenntnis des Geflechts von offizieller und privater Gesellschaft und doppelbödiger Sprache.
Vermutlich hat Gneuß generell kein Händchen für Humor, sonst wäre ihr dieser Mangel in einem Roman aufgefallen, der vorwiegend unter Jugendlichen spielt. Auch in der DDR von 1976 wurde in dieser Altersklasse öfter gewitzelt, gehöhnt und parodiert als unter Erwachsenen. Die wenigen Komikzutaten stammen bei Gneuß ebenfalls aus zweiter Hand, Radio-Eriwan-Witze, die Paul und Rühle einander zurufen. Wobei, einen komischen Satz gibt es doch, ganz ohne DDR-Bezug: „Nicht einmal ein Huhn lief über die Straße.“ Aber das reicht nicht für ein ganzes Buch. Dort finden sich auch Grotesken, die den Rezensenten völlig ratlos zurücklassen, etwa: „Marie umarmte mich so fest, dass mir ein Wirbel durch den Körper fiel.“
Und das, was die Autorin in den Plot einzubetten versucht? Irgendwie geht es um den Konflikt der Heldin, die nun ohne den flüchtigen Paul lebt, dafür aber in den Bann des Stasi-Wickwalz gerät, der ihr das Gefühl gibt, schon zu den Erwachsenen und außerdem zu einem mächtigen Geheimunternehmen zu gehören. Das liest sich dann so: „Wickwalz sprach ja mit mir wie mit einer ganzen Person. Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“ So geht es über die Seiten. Gneuß schafft es kaum, das, wovon sie erzählen will, in Handlung aufzulösen. Was auch schwerfällt, wenn eine Autorin nur ein sehr schematisch gezeichnetes Personal auftreten lässt. Spätestens hier stellt sich nicht mehr die Frage nach Kenntnis der geschilderten Lebensumstände, sondern nach dem generellen Erzähltalent. An keinem Punkt bekommt der Leser das Gefühl, hier dränge eine Geschichte nach draußen, von der die Autorin meint, sie müsse unbedingt erzählt werden. Stattdessen kämpft sie sich zäh voran, angedickt durch unentwegte Informationen, die weder etwas zur Atmosphäre, zur Handlung noch zur Figurenzeichnung beitragen. Wir erfahren beispielsweise, dass Karins Vater um fünf von der Arbeit kommt, und dass ein Auto „sofort“ losfährt, nachdem Karin ausgestiegen ist. Als würde das zur Leservergrämung noch nicht genügen, spickt Gneuß ihren Text mit aberdutzenden Wiederholungsschleifen. Die Mitteilung „die Kleine schrie“ – es geht um Karins namenlose kleine Schwester – ereilt den Leser nicht zwei- und auch nicht fünfmal, sondern mit der Ausdauer einer chinesischen Tropfenfolter. Genauso wie die stereotyp wiederholte Wendung, dass sich Wickwalzens Mundwinkel beim Lächeln nach oben biegen. Bei Thomas Bernhard und anderen Autoren dienen Wiederholungen der Rhythmisierung des Textes. Bei Gneuß besteht ihre einzige Funktion darin, selbst noch den Gutmütigsten weit vor Schluss zu ermatten.
Vor diesem Hintergrund drängt sich zumindest die Vermutung auf, dass Gneuß versucht, ihre Defizite durch Exotismus zu kaschieren, durch eine Expedition in ein Land, das es zum Glück nicht mehr gibt. Gewagtes Experiment, junge Autorin aus dem Südwesten schreibt über die DDR von 1976 – so etwas kommt als Verkaufsargument sowohl im Feuilleton als auch bei Juroren an. Die Jury des Jürgen-Ponto-Preises konnte die Autorin immerhin überzeugen. In deren Begründung heißt es: „In einem Buchherbst beeindruckender Debüts ist Gittersee dasjenige, das aus der Geschichte von vorne auf uns zukommt. Die 1992 geborene Autorin zeigt mit wenigen Strichen tiefe Verflechtungen, gravierende Momente, auseinanderdriftende Miniaturen. Die Leben, die wir in Gittersee als Lesende streifen, lassen uns nicht mehr los. Der offene Ausgang des Buches und das unausgeschriebene Fortleben der Handelnden sind Cliffhanger in unsere destabilisierte Gegenwart.“
Auch diesem Jurorentext hätte ein Lektor gut getan.
Sowohl das Buch selbst, der herbeigeredete Skandal als auch die Lobpreisungen für „Gittersee“ müsste eine Debatte nicht nur über die Qualität von Literatur auslösen, sondern auch über den Begleitbetrieb von Feuilleton und Jurys, über die Sucht der Branche nach Jungautorinnen, um die sich eine Geschichte spinnen lässt. In der Welt – dieser Hinweis an Literaturagenten als ganz kleiner Einschub – erschien vor wenigen Tagen ein Beitrag, in dem ein Mann seine jahrelange Kokainsucht einschließlich seiner Befreiung von der Abhängigkeit erzählt. Das Stück überragt unter dem reinen Gesichtspunkt der Textqualität das Debüt von Gneuß um Längen. Hier schreibt jemand, der eine Geschichte in sich trägt, die unbedingt nach draußen will. Aber Vorsicht, Agenten, Verleger, Kritiker: Es handelt sich um einen mittelalten weißen Ostdeutschen aus der Arbeiterschicht.
Der Osten als amorphes Gebilde entstand erst nach dem Ende der DDR. Er bleibt eine Obsession des Westens, Projektionsfläche, seit einigen Jahren funktioniert er auch als innerdeutscher basket of deplorables und wie sich an „Gittersee“ zeigt – als literarischer Kostümfundus. Eigentlich böte der Rückblick auf die DDR gerade jetzt hervorragendes Anschauungsmaterial dafür, dass sich autoritäre Systeme nicht nur durch groben vertikalen Druck stabilisieren, sondern auch durch Anpassung, durch kleine Belohnungen und Strafen auf der niederen Ebene, durch abgeleitete Macht, durch organisierte Illusion, durch Sprachpolitik. Ein Buch, in dem die Geschichte zwar nicht von vorn auf uns zukommt, aber die Gegenwart überschreibt, gibt es schon: Uwe Tellkamps „Schlaf in den Uhren“. Dort lenkt eine fürsorgliche Großbürokratie eine leicht verfremdete gesamtdeutsche Gesellschaft zu ihrem Besten. Auch hier hielten sich die meisten Rezensenten nicht mit Fragen des Handwerks und der Perspektive auf, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Wenn sie über den „Schlaf in den Uhren“ schrieben, dann besprachen sie fast durchweg den Autor, nicht den Roman. Und das fast immer mit den gleichen rechts-und abgedriftet– Textbausteinen.
Kaum etwas innerhalb des alteingesessenen Medienbetriebs wirkt so öde und berechenbar wie die Literaturkritik. Zum Glück gibt es eine lebendige Literatur. Auch für „Gittersee“ gibt es in der literarischen Landschaft einen Platz. Der Roman erzählt so gut wie nichts über die DDR. Aber auf seine sehr spezielle Weise das eine oder andere über die gesamtdeutsche Gegenwart, den Cliffhanger schlechthin.
„Gittersee“, Charlotte Gneuß, Fischer, 231 Seiten, 22 Euro
Kein verspäteter Held
Martin Walsers familiäre Vergangenheitsschau „Ein springender Brunnen“ besitzt in Zeiten der Geschichts-Umschreibung hohe Aktualität. Jürgen Schmid unterzieht den autobiographischen Text des kürzlich verstorbenen Autors einer erneuten Lektüre – und vergleicht ihn mit Büchern, die mit den Vorfahren abrechnen
von Jürgen Schmid
Im Juli 2023 starb Martin Walser, einer der prägenden Autoren der Bundesrepublik. Aus seinen Romanen sticht einer heraus, der es in der aktuellen geschichtspolitischen Debatte verdient, aufmerksam gelesen zu werden: „Ein springender Brunnen“ von 1998. Er beteiligt sich nicht an den üblichen Schuldinszenierungen, er versucht vielmehr, Geschichte darzustellen, ohne das Leben der Vorfahren als Steinbruch für eine gegenwärtige Agenda zu missbrauchen.
Einen solchen Akt der Geschichtspolitik und Geschichtsumdeutung erlebte die Öffentlichkeit, als Politiker und Journalisten dekretierten, der 8. Mai 1945 müsse ausschließlich als „Tag der Befreiung“ gesehen werden, was unausgesprochen auch einschließt, schon die Deutschen damals hätten den Zusammenbruch des NS-Reiches ausnahmslos so empfinden müssen. Dass die Geschichtspolitiker damit die Massenbewegung, die der Nationalsozialismus zweifellos war, hinter einer ahistorischen Formel verschwinden ließen, fiel ihnen selbst offenbar gar nicht auf. Mit den gleichen abstrakten Formeln, die vor allem die eigene Tugendhaftigkeit demonstrieren, erklärten Nachnachgeborene vor kurzem in einer Münchner Straßenumbenennungsdebatte Erich Kästner zur moralisch fragwürdigen Figur, weil er, der nie die geringste Sympathie für den Nationalsozialismus zeigte, nicht wie andere Autoren emigriert sei.
Womit wir mitten in jener Erscheinung sind, unter der unsere Zeit am meisten leidet: einer Wertebewirtschaftung, der es nicht um Werte geht, sondern um den persönlichen Profit derer, die bestimmte Werte verwalten.
Die moralisch überhebliche Vergangenheitsausbeutung, die Instrumentalisierung von Geschichte „für gegenwärtige Zwecke“ (Martin Walser), ragt besonders hervor aus dem Furor der Tugendjakobiner, die das „Nazi-Eine“ (Peter Sloterdijk) als Keule gegen alles zu schwingen bereit sind, das ihnen aus irgendwelchen Gründen missfällt. Wer sich den Usancen dieses sich selbst „linksliberal“ nennenden Mainstreams widersetzt, fällt schnell aus dem Konsens. So ging es dem Schriftsteller Martin Walser, als er 1998 seinen autobiographischen Roman „Ein springender Brunnen“ veröffentlichte. Damals konzentrierte sich die Kritik vor allem auf das Fehlen des Wortes „Auschwitz“. Wir werden auf Walsers Autobiographie zurückkommen – nach dem kurzen Blick auf zwei andere Bücher aus der alten Bundesrepublik, die genau diese Vergangenheitsbewältigung als persönlichen Reinigungs- und Selbsterhöhungsakt vollzogen, den Walser dem Publikum eben nicht liefern wollte.
Hinrichtung eines Schweigenden – die Vater-Anklage des Christoph Meckel
„Er erhielt wiederholt Besuch von zivilen Personen, die ihn in die Partei verpflichten wollten – er lehnte ab. Er wies die erwünschte Mitarbeit an der Kulturpropaganda der NSDAP zurück. Reichsschrifttumskammer war keine Verführung für ihn.“ Wer ein Charakterbild so zeichnet wie Christoph Meckel (1935-2020), der könnte eigentlich stolz sein auf die Widerständigkeit dessen, den er porträtiert, seinen eigenen Vater, den Schriftsteller Eberhard Meckel (1907-1969). Weit gefehlt. Solche Sätze stehen in einer der schärfsten Abrechnungen mit der Vätergeneration des Dritten Reichs, deren „Unerbittlichkeit“ den Bremer Literaturpreis zugesprochen bekam.
„Suchbild. Über meinen Vater“ (1980) ist eine einzige Invektive, nicht nur gegen den Vater, sondern überhaupt gegen alles Eigene und gegen jede Normalität: „Die Welt meines Vaters ist die Landschaft Badens zwischen Karlsruhe und Basel“ – was als vermeintlich objektive Landesbeschreibung beginnt, mit agrarischer Detailfreudigkeit von Klima über Obst zu Wein wandernd, bekommt unvermittelt einen zynischen Zungenschlag zum „Hochmut des provinziellen Dickschädels mit Begriffen wie Scholle und Bodenständigkeit“. Auf absurde Pauschalverurteilungen des „breitärschig-selbstgerechte[n] Heimatgefühl[s] mit Männerchören, Frauenchören und Blaskapellen“ folgen Beschuldigungen gegen „die entwicklungsfeindliche Gesinnung für Grund und Boden, Besitz und Überlieferung, Anstand und Ordnung“. Selbst die bloße Existenz von „Feuerwehrvereinen“ und „Wandervereinen“ gerät in diesem Text unter Verdacht.
In Meckels „Suchbild“ kann die Selbstkonstruktion eines verspäteten Helden studiert werden, eines Urteilenden, der in fatalen Konflikten nicht selbst bestehen und widerstehen musste, sondern mit triefender Selbstgerechtigkeit richtet – über einen Mann, der sich in seinen „Notizen“, einer Art Tagebuch, das der Sohn zugänglich macht, mehrfach über „ein ekelhaftes Säbelrasseln“ empört, das Hitler 1938 inszenierte, und das der Chronist „unwürdig“ fand. Ein Mann, der im Oktober 1939 den „Entschluß“ fasst, „nichts, kein Wort, keine Zeile zu schreiben, was aus diesem Krieg Nutzen zieht oder ihm dient.“ Was also wirft der Sohn dem Vater vor? Dass dieser statt Partei- und Kriegspropaganda „ruhige Verse in traditioneller Manier“ schrieb; dass „das Kommunistische Manifest nicht in seiner Bibliothek stand“. Es gehört zu den Topoi der Abrechnungsliteratur, den Vätern vorzuwerfen, was sie nicht gelesen und nicht getan haben. Bei Meckel klingt das so: „Die expressionistischen und dadaistischen Explosionen, Majakowski und die sozialistische Poesie [usw.] – er schien das alles nicht gebrauchen zu können“. Unverzeihlich aus Sicht des Sohnes, dass der Vater stattdessen an Hebel und Goethe festhielt.
Gereicht es dem Vater in den Augen des Sohnes zur Ehre, dass er Hitler als „Skandal für das Vaterland“ abkanzelte, als „Popanz“ und „lärmende[n] Falschgeist“, die Partei als „abscheulich“ und „vulgär“? Nein, denn er „verkroch sich [zusammen mit seinen Freunden Günter Eich, Martin Raschke und Horst Lange] im Ewigen, Immergültigen, Überzeitlichen“, in „Naturgedichten“. Alles, was der Vater tut, bietet dem Sohn Anlass zu herabsetzendem Spott. Beispielsweise, wenn er sich über dessen Angewohnheit auslässt, „die ersten oder letzten Ahornblätter des Jahres“ als „Lesezeichen in Büchern“ zu sammeln, „versehen mit Datum und Ortsangabe“. Dass der Vater trostbedürftig ist, stößt den Sohn ab. Sucht er Glück, wird ihm eine zu „triviale“ Glücksvorstellung attestiert; seine Heimatliebe habe „Gefühle verkocht“. Jede emotionale Regung hält der Sohn dem Vater vor, als wäre es Belastungsmaterial.
Christoph Meckel und seine Laudatoren wollten „den Durchschnittstyp einer Generation“ abgeurteilt sehen als Wegbereiter für alle Verbrechen zwischen 1933 und 1945, die diese Generation „schweigend deckte“, weil sie sie – so die Rezension im Spiegel – „für geboten und anständig hielt“. Abgesehen von dem denkerischen Kurzschluss, Schweigen als Zustimmung zu werten, drängt das „Suchbild“ seinem Leser eine ganz andere Frage auf: Wären alle so gewesen wie Eberhard Meckel – hätte es dann die Entartungen des Nationalsozialismus überhaupt gegeben?
Hatte es ein 45-jähriger, im Literaturbetrieb bereits längst Etablierter wirklich nötig, seine Schriftstellerkarriere durch solcherart Moralbewirtschaftung aufzumöbeln? Oder gehörte es zu einer linken Intellektuellenvita einfach dazu, eine Schuld der Väter zu bekennen, ob diese nun vorlag oder nicht? Jedenfalls ist die Causa Meckel (ein Fall des Sohnes, wohlgemerkt, nicht des Vaters, wie der Sohn suggeriert) dazu angetan, eine gängige Schablone linker Moraldoktrin bloßzulegen: Jene einseitige Suche, ja dieses nachgerade suchtvolle Verlangen nach dem moralischen Versagen der Vorfahren – zum eigenen Nutzen und Frommen.
Verleumdung im Auftrag des Enkels – der Vatermord der Ruth Rehmann
Ruth Rehmann (1922-2016) gehört zu den wenigen Frauen, die früh eine Rolle in der Gruppe 47 gespielt haben. Bekannt wurde sie aber erst spät mit ihrem „Mann auf der Kanzel“, dem sie 1979 „Fragen“ stellte, zu einem Zeitpunkt, als er schon fast 40 Jahren tot war. Die Rede ist vom Vater der Autorin.
Die Rehmann-Töchter, Enkelinnen eines Pfarrers, den sie nie erlebt haben, kennen – man schreibt die 1970er Jahre – nur Pfarrer, die sich „im Religionsunterricht auf das gestrige Fernsehprogramm beziehen“ und statt „vom Vater im Himmel“ von „sozialem Engagement“ predigen. „Mein Vater war anders“, schiebt Ruth Rehmann dem zeitgeistigen Befund hinterher – und bemüht sich auf 223 Seiten, die scheinbare Neutralität dieser Bemerkung mit jeder Menge übler Nachrede zu füllen. So wird der Vater, ein konservativer rheinischer Pfarrer, Jahrgang 1875, des präfaschistoiden Antimodernismus geziehen mit dem Anfangsverdacht: „Im ganzen Haus keine Spur Bauhaus und Blauer Reiter“. Zum Anklagepunkt Rückwärtsgewandtheit gehört die Aufzählung dessen, was die pfarrhäuslichen Bücherregale in den 1920er Jahren enthalten: „Kunstbücher über Dürer, Spitzweg, Richter und über Römisches“. Weitere Anwürfe in diesem Stil sind Legion, etwa bezüglich des Musikgeschmacks: „Kein Ton von Bruckner, Mahler, Pfitzner, Strauss, Ravel, Debussy, Hindemith.“ Unverzeihlich desweiteren: „Kein Shaw, Ibsen, Strindberg“, dafür „Lyrik von Rückert, Uhland, Lenau“. Außerdem liest der Vater seiner Familie aus „Luthers Tischreden“ vor und – horribile dictu – „Bismarcks Briefen“. Wer solche Präferenzen hat, unter Ausklammerung all dessen, was gutzuheißen wäre, so der Subtext, über dessen Biographie schwebt „die Ahnung eines Verhängnisses“, wie es im Klappentext heißt.
Der Rehmann-Sohn, so erfährt man weiter, hat den großväterlichen Schreibtisch mit Schrankaufsatz übernommen, „ehemals mit Theologie vollgestopft, jetzt von Thomas zur Ablage von Marx, Engels, Lenin benutzt“ (lies: gereinigt und aufgewertet). Auch wenn man es kaum glauben mag, so holzschnittartig fängt die Abrechnung mit dem Vater an, schon auf Seite drei. Der Spät-Leninist, „3. Semester Geschichte“, „möchte erfahren, wie mein Vater mit den Lebensdaten 1875-1940 sich zum Nationalsozialismus verhalten hat.“ Wobei gleich der nächste Satz verrät, dass er das nicht mehr erfahren muss, weil er es schon weiß: „Die Pfaffen hätten eine höchst fragwürdige Rolle gespielt“.
Die Frau, die solch pennälerhafte Sentenzen für ein großes Publikum zu Papier bringt, stand damals im 57. Lebensjahr. Die Zeit, in der ihr literarischer Stern aufzugehen schien, lag damals schon weit zurück. 1958 hatte sie, intelligent-aparte Erscheinung, Multitalent als studierte Kunsthistorikerin und Geigerin, Lehrerin, Dolmetscherin, Übersetzerin, als „die Entdeckung“ (Hans Schwab-Felisch) gegolten, ohne den hohen Erwartungen tatsächlich gerecht zu werden. Alles sollte sich ändern mit ihrer Vaterbefragung, von der Kritik als „eindringliches Geschichtsbuch“ (Die Zeit) gefeiert.
Allerdings gibt die Geschichte dem geschmähten Vater Recht, nicht der anklagenden Tochter, der das überhaupt nicht aufzufallen scheint in ihrem Abrechnungsfuror. Im Dezember 1933 spricht sich Ruth Rehmanns Vater, wie sie selbst es schildert, öffentlich gegen die „sogenannte Glaubensbewegung“ der „Deutschen Christen“ aus, weil diese sich „mit Riesenschritten von unserem Heiland wegbewegt, ihn verlässt, verrät, verleugnet“. Als eine Gruppe von SA-Männern drohend den Saal betritt, stimmt der Pfarrer demonstrativ die dritte Strophe des Reformationsliedes „Eine feste Burg ist unser Gott“ an: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr.“ Rehmann genügt diese Standhaftigkeit nicht. Sie erzählt die Geschichte in einem Kontext, in dem sie an ihrem Vater kein gutes Haar lassen will. Ein Presbyter hingegen, der sich mit anderen Gemeindemitgliedern gegen den Willen des Pfarrers der „Bekennenden Kirche“ anschloss, zollt seinem innergemeindlichen Gegner in der Rückschau hohen Respekt – er habe ihn „gern gehabt“. Und fügt hinzu: „Wie alle“.
Rehmanns Vater erweist sich als ein Seelsorger, der in bedrängter Zeit die Spaltung seiner Kirchengemeinde verhindern wollte, ohne sich weltanschaulich zu korrumpieren. Denn er verwarf klar die Lehre der „Deutschen Christen“, was durchaus einem Verweigerungsakt gleichkam, während es ihm nicht möglich war, einen Schritt weiter zu gehen und sich der „Bekennenden Kirche“ anzuschließen, weil er nicht gegen die „Obrigkeit“ arbeiten könne. Die nachgeborene Tochter interessiert sich nicht für diese Ambivalenz im Leben ihres Vaters, vermutlich, weil ihr der Begriff Ambivalenz fremd ist. Sie, die sich nie in einer auch nur ähnlichen Situation befand, bricht demonstrativ den Stab über ihrem Vater.
Der Typus des verspäteten Helden
Es offenbart grundsätzlich eine Charakterschwäche, seine Eltern öffentlich zu denunzieren. Kinder von tatsächlichen NS-Tätern unterzogen ihre Eltern und sich selbst gelegentlich einer Examination in Buchform, manchmal mit Erkenntnisgewinn, manchmal mit mageren Ergebnissen. Aber weitgehend unbescholtene Leben im Dritten Reich in den Schmutz zu ziehen, wie dies Meckel und Rehmann tun – dahinter steckt kein Aufklärungswille, sondern höchst profanes Interesse an der Instrumentalisierung von Vergangenheit. Dazu kommt ein gerüttet Maß an Undankbarkeit. Ruth Rehmann war die erklärte Lieblingstochter ihres Vaters, den sie zu seelsorgerlichen Hausbesuchen begleiten durfte. Meckel verdankte seine früh erfolgreiche Schriftstellerkarriere – mit 21 erschien sein erster Gedichtband, mit 26 konnte er bei der DVA publizieren – auch dem Namen des Vaters. (Übrigens folgte auf die Abrechnung mit dem Vater noch das „‚Suchbild. Meine Mutter’ [2002], „von der er sich zeitlebens ungeliebt fühlte, und der er geistige Enge und Frigidität vorwarf“, so Wikipedia.)
Meckel und Rehmann haben ihren Vätern unwillentlich Denkmäler gesetzt. Es ist höchste Zeit, die Abrechner einer Kritik zu unterziehen. Und diejenigen zu würdigen, die sich wie Martin Walser nicht als verspätete Helden im antifaschistischen Kampf inszenieren, sondern ihre Eltern verstehen wollen, so gut das eben menschenmöglich ist.
Versuch über eine Mutter – Martin Walsers Vergangenheitssondierung
Mit dieser Absicht nähert sich Martin Walser dem Vergangenen. Sein „Springender Brunnen“ erschien vor 25 Jahren als verspäteter und höchst eigenwilliger Beitrag zur Nachkriegsliteratur. „Der Eintritt der Mutter in die Partei“ – so lautet die Überschrift zu jenem Kapitel, das Martin Walser seiner frühesten Kindheit widmet, einer Zeitspanne, die 1933 endet, politisch mit der „Machtergreifung“, autobiographisch mit seiner Einschulung.
Vergleicht man den literarischen Vatermord anderer Autoren mit Walsers Erzählung über seine Mutter, die Ende 1932 „in die Partei“ eingetreten war, dann zeigen sich zwei divergierende Geschichtsdarstellungen: Dort die kalt selbstgerechte Vernutzung von Schicksalen, hier die beschreibende Darstellung eines Lebenslaufs. Walser denunziert seine Figuren nicht, er klagt nicht an. Er versucht tatsächlich, die Geschichte der Eltern zu schreiben, ihre Motive zu ergründen, während Meckel und Rehmann im Grunde nur Selbstporträts anfertigen.
Walser zeigt den Kriegsinvaliden, einen Bauern, der nicht mehr wirklich wirtschaften kann mit seiner an der Front zerschossenen Hüfte, schließlich im Bankenkrach alles Ersparte verliert, und seinen Hof unverschuldet vor dem Ruin sieht. „O Gebhard“, so Johanns (d.i. Martin Walser) Großvater, „das kommt wieder anders“. „Gebhard“, sagt der NSDAP-Ortsgruppenleiter, „du trittst ein, der Hitler reißt uns alle raus“. – Walser zeigt den Zimmermann, dessen Anwesen zwangsversteigert wurde und der bald darauf im Braunhemd zu sehen ist. – Walser zeigt seine Mutter, die als Gastwirtin in Wasserburg am Bodensee vor lauter Schulden und Teuerung nicht mehr ein weiß noch aus. Sie tritt nicht aus weltanschaulicher Überzeugung in die NSDAP ein, schon gar nicht aus Fanatismus, sondern in der Erwartung, hier einen Ausweg für sich und die Familie zu finden. In Walsers Beschreibung zeigen sich Gründe, warum die Vorfahren so gehandelt haben, wie sie es taten. Fast könnte man sagen, der Autor habe eine Art Volkskunde betrieben, als er seine Autobiographie verfasste. Noch eindrucksvoller hat das Hans Fallada in „Kleiner Mann, was nun?“ getan.
Wer so vorgeht, der legt Gründe bloß, ohne sie zu suchen. Meckel und Rehmann wissen, dass es für bestimmte Handlungsweisen keine Gründe geben kann und darf. Sie wollen nicht erkunden, wie es war, sondern finden, was für sie ohnehin schon feststeht. Meckel etwa beschreibt zwar ausführlich, wie sein Vater versuchte, sein Leben zu bewältigen. Aber im Gegensatz zu Walser tut er das nicht teilnehmend. Er will den Vater in der Kümmerlichkeit seines Gefühlslebens bloßstellen – und gleichzeitig dessen Bewältigungsmechanismen zur Voraussetzung seiner angeblichen Verführbarkeit erklären.
Bei Walser ist die Mutter „eine Verzweifelte“. Ende 1932 geht es um die nackte Existenz, der Familienrat tagt: „Die Mutter fing an zu sprechen. Aber gleich so hoch, wie Johann sie noch nie sprechen gehört hatte. Die Gewerbe- und Landwirtschaftsbank habe ihre Schalter geschlossen, Mina [die Wirtshaus-Köchin] sehe von ihrem Ersparten nichts mehr, Losers Gebhard von seinen dreiundzwanzigtausend nichts mehr … den Bauern werde das Milchgeld nicht ausbezahlt … heute sei der Gerichtsvollzieher im Haus gewesen, vorsorgliche Zwangspfändungen, Kassenschrank, Vertiko, Eisschrank im Gang, das Klavier, Strom nur noch gegen Geldeinwurf in den Automaten … Gärtner Hartmanns hätten das Vergleichsverfahren beantragt gehabt, umsonst, jetzt sei das Konkursverfahren eröffnet.“ Als Verzweifelte unter Verzweifelten gerät sie „in die Partei“. Doch wie verhält sie sich am Abend der „Machtergreifung“, als die NSDAP-Ortsgruppe Wasserburg in ihrer Gastwirtschaft feiert? „Die Mutter hatte das Parteiabzeichen, das Herr Minn [der Ortsgruppenleiter] an Dreikönig [also ein paar Wochen zuvor] ins Haus gebracht hatte, noch nie getragen. Auch heute nicht.“
Anders als Meckel und Rehmann gesteht Walser den Menschen, die er beschreibt, ein Leben zu, das nicht nur gelebt worden ist, um später auf die Einstellung zum Nationalsozialismus abgeprüft werden zu können. In Walsers Familie, im Gasthaus, im Dorf spielen die Menschen Klavier, glauben an Schutzengel, erklettern Wörterbäume, ernten Äpfel. Sie kommen zurecht oder eben nicht. Sie handeln sympathisch, menschlich oder fragwürdig. Millionen Deutsche wurden in den Dreißigern zu Parteigängern Hitlers, aus den unterschiedlichsten Gründen und Lebenslagen heraus. Und viele blieben es bis 1945. Aus der großen Frage, wie und warum das geschehen konnte, ergeben sich tausende kleinere Fragen. Hier gibt es auch aus der Perspektive des Jahres 2023 immer noch viel zu verstehen und neu zu erkunden. Aus welchen Motiven Meckel, Rehmann und andere Nachgeborene mit ihren Eltern abrechnen, lässt sich dagegen ziemlich leicht deuten.
Martin Walsers „Springender Brunnen“ bewirtschaftet die Geschichte nicht, sondern erzählt sie aus sich heraus. Walser belehrt seine Protagonisten nicht aus der Position des moralisch Überlegenen, sondern lässt sie machen, was sie eben tun. Eine Wohltat.
„Ein springender Brunnen“, Martin Walser, Suhrkamp, 415 Seiten, 26,95 Euro
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.
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Die Redaktion