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Der Journalist des goldenen Zeitalters, der Journalist der Zukunft

Zum Tod von Lewis H. Lapham

Wer den Journalismus von innen und vor allem über Jahrzehnte kennt, teilt ihn in das goldene, das silberne und die nächsten Zeitalter bis zu dem aktuellen ein (die Materialwahl für die Metapher erfordert ein bisschen Phantasie).

Sowohl Leser als auch Schreiber sollten sich ab und zu daran erinnern, dass es dieses sagenhafte Zeitalter tatsächlich einmal gab, in dem die besten Journalisten sich ohne Übertreibung Autoren und ihre Texte Prosa nennen konnten. Und gerade den großen Gestalten der Branche kam es in aller Regel nicht in den Sinn, sich selbst für berufene Gesellschaftslenker zu halten. Ihr Ehrgeiz richtete sich darauf, die Gesellschaft zu beschreiben. Das kostet schon Mühe genug, und es fällt paradoxerweise besonders schwer, wenn jemand über die Mittel der Beobachtungsgabe verfügt, idealerweise auch über eine Prise Witz.

Unter den Großen der Branche ragt einer heraus, der es auf wunderbare Weise schaffte, das goldene Zeitalter des Journalismus für sich und seine Leser bis in die Gegenwart zu verlängern, indem er in einem Alter, in dem andere sich zurückziehen, eine Zeitschrift ganz nach seinem Ideal eines Mediums gründete: Lapham’s Quarterly. Im Jahr 2007 ein bibliophil ausgestattetes, gedrucktes Magazin auf den Markt zu bringen, das jedes Vierteljahr neu in die universelle Geschichte eintauchte – eine kühnere Gegenbewegung zum Hauptstrom des Journalismus konnte es gar nicht geben. Lewis Henry Lapham, geboren 1935 in San Francisco, verkörperte schon vorher über mehr als vierzig Jahre eine ganz bestimmte Vorstellung von Journalismus, Autorenschaft und Stil, die zu jeder Zeit Seltenheitswert besaß.

Lapham stammte aus einer der Bürgerdynastien, die er später so kenntnisreich, gewitzt und gleichzeitig distanziert in seinem Klassiker “Money and Class in America“ beschreiben sollte. Sein Großvater, von 1942 an Bürgermeister von San Francisco, gehörte als Reeder der American-Hawaiian Steamship Company auch zu den reichsten Männern der Stadt. Das eröffnete dem Enkel die damals klassische Grand Tour: Geschichtsstudium in Cambridge, wo er als junger Mann C. S. Lewis und Sylvia Plath begegnete, Abschluss schließlich in Yale. Statt ins akademische Leben, in ein Großunternehmen oder den öffentlichen Dienst – beides hätte bei seiner Herkunft näher gelegen – zog es ihn zum “San Francisco Examiner“, zur Lokalberichterstattung, um, wie er viel später im Rückblick sagte, dort „eine Bildung“ zu erhalten, eine, die ihm keine Ivy-League-Universitäten bieten konnten: Einblick in ganz andere Milieus und Lebensbereiche weit jenseits seiner goldenen privilegierten Jugend in Pacific Heights.

Beim “Examiner“ erlebte er 1959 auch den ersten Hinauswurf seines Lebens, und das wegen seiner Eigenart, zu allen Themen Distanz zu halten, auch zu sich selbst. Die Umstände dieser Entlassung erzählen eine für ihn typische Geschichte: In der Redaktion war versehentlich der Korrekturabzug einer 12-seitigen Fotostrecke mit dem Titel “Los Angeles, Athens of the West“ gelandet, die eigentlich zum Schwesterblatt “Los Angeles Examiner“ gehörte. Die Chefredakteure gaben ihrem Redakteur sechs Stunden Zeit für einen großen journalistischen Gegenschlag, mit dem er die kulturelle Ehre ihrer Stadt retten sollte, der Metropole, die Leute ihrer tonangebenden Kreise meist nur The City nannten.

Eine Stunde vor Redaktionsschluss teilte Lapham seinen Vorgesetzten mit, dass es sich um eine unerfüllbare Aufgabe handelte, selbst für ihn, der seine Geburtsstadt durchaus liebte. Denn dort im Süden, beim ewigen Rivalen, lebten damals Igor Strawinsky, Aldous Huxley und Christopher Isherwood; dass Arnold Schönberg dort seine letzten Jahre und Thomas Mann die Exilzeit verbracht hatten, lag noch nicht lange zurück. Das intellektuelle Aufgebot San Franciscos bestand damals nach Laphams Urteil hauptsächlich aus Herb Caens liebevollen Klatschkolumnen, einem zweitklassigen Opernhaus und der Anwesenheit von Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti, dem Gründer des City Lights-Buchladens. Aus diesem Material, meinte er, ließe sich nur bei stark herabgedimmter Urteilsfähigkeit eine Hymne auf das geistige Leben an der Bay fabrizieren. In einem Interview in “Paris Review“ erzählte er, was dann passierte: „Der Chef verfiel in ein schreckliches und ungläubiges Schweigen, dann erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, um zu sagen, ich hätte die Sünde begangen, eine gute Geschichte auf Fakten zu überprüfen. Ich könne nicht erwarten, es im Zeitungsgeschäfts zu irgendetwas zu bringen.

Im gleichen Gespräch schildert er den Bedeutungswandel des Journalismus, der in den sechziger Jahren stattfand. Als Lapham nach seiner Westküstenerfahrung 1960 zur “Herald Tribune“ nach New York ging, fragte ihn eine junge Frau auf einer Cocktailparty nach seinem Beruf, worauf er antwortete: “Newspaperman“. Seine Gesprächspartnerin, erinnerte er sich, habe ihn leicht amüsiert angeschaut und gefragt: „Und was machen Sie, wenn Sie erwachsen sind?“ Journalismus habe damals trotz der ökonomisch goldenen Zeiten für das Metier weder als besonders glamourös noch als mächtig gegolten. Geändert, so Lapham, hätte sich das erst Anfang der Sechziger: „Mit dem Erscheinen Kennedys (auf der politischen Bühne) drängte ein Schwall von Ivy-League-Absolventen in den Journalismus, die mit der Idee kamen, den Politikern moralisch, intellektuell und sozial überlegen zu sein.“ Und damit auch die Selbstglorifizierung von Medienleuten, die immer mehr dazu neigten, Vorgänge nicht nur zu beschreiben, sondern sich selbst zum Thema zu machen.

Dazu drängte es ihn nie; sein langes Gespräch mit Frank Bidart in “Paris Review“ 2019 bildete eine Ausnahme. Und selbst dort, als er jenseits der Achtzig auf den Journalismus und ein wenig auch auf sich selbst zurückblickte, tat er es nicht im Triumph, wozu er allen Grund gehabt hätte, sondern mit einem beneidenswerten Abstand zu sich selbst. In diesem Interview fiel sein großartiger Satz: „Es hat einen großen Teil meines Lebens ausgemacht, zu lernen, was ich nicht bin.“

Worin die goldenen Zeiten der Branche eigentlich bestanden, verstehen Jüngere am besten, wenn sie sich in Lewis Laphams frühe Texte und ihre Entstehungsgeschichte vertiefen. Die “Post“ beauftragte ihn, über Thelonious Monk zu schreiben, die “Saturnday Evening Post“ mit einem Bericht über die Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons. Allerdings ohne jede Vorgabe zu dem Inhalt, Umfang und ohne festes Ablieferungsdatum. Die Chefradakteure vertrauten einfach darauf, dass ein Reporter, der sich durch luziden Geist und guten Stil auszeichnete, schon selbst erkennen würde, wo die Geschichte lag und mit einem guten Text zurückkommen würde. Losziehen ohne jede These, mit einer geduldigen Redaktion im Rücken, mit Zeit und Geld – dieser Luxus, eigentlich ein diamantenes Zeitalter, ging schon vor Jahrzehnten unter. Der grundlegende Punkt liegt darin, dass sich heute zwar viele Medienleute nach der Bezahlung und dem Spesenkonto von damals sehnen, aber komischerweise fast nie nach der fantastischen Freiheit dieser journalistischen Antike. Der vermutlich letzte Journalist, dem seine Redaktion in materieller Hinsicht einen Blankoscheck ausstellte, dürfte Claas Relotius beim Spiegel gewesen sein, allerdings unter der unausgesprochenen, weil ohnehin klaren Bedingung, dass er die Erwartungen seiner Chefs immer zu mindestens hundert, meist aber zu einhundertfünfzig Prozent erfüllte. Bekanntlich schrieb er sein Stück über angeblich untergehende Südseeinseln, die in Wirklichkeit nicht untergehen, und die er niemals betreten hatte, in einem hoffentlich erstklassigen kalifornischen Hotelzimmer.

Bevor er mit 72 Jahren sein Magazin gründete, verband jeder den Namen Lewis Lapham mit Amerikas zweitältester Zeitschrift, dem Magazin “Harper’s“, das er mit einer kurzen Unterbrechung drei Jahrzehnte lang als Herausgeber prägte. Wobei seine eigentliche Ära 1983 begann, als er die Erlaubnis erhielt, das Heft völlig neu zu gestalten. Er machte “Harper’s“ zu einer einmaligen journalistisch-literarischen Bühne, auf der viele Autoren ihre ersten großen Auftritte absolvierten. Hier erschien David Foster Wallaces Essay über Tennis, bis heute das Beste, was je ein Autor über diesen Sport zu Papier gebracht hat, außerdem seine Kreuzfahrtreportage, dort erschienen unter dem Titel “Shipping Out“, später in Wallaces Erzählungsband als titelgebendes Stück “A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“, deutsch: „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“. Das Stück machte jeden weiteren Text über Kreuzfahrten überflüssig.

Diese und viele andere Stücke, die heute taufrisch und klassisch zugleich wirken, entstanden ursprünglich als journalistische Arbeiten. Bei diesem Gedanken sollte man tief ein- und langsam wieder ausatmen.
“Harper’s“ blieb auch nach Lapham ein Magazin mit einem untrüglichen Blick der Redaktion für Textqualität und es druckte, was die meisten anderen amerikanischen oder westeuropäischen Medien unter keinen Umständen veröffentlicht hätten, beispielsweise Michel Houellebecqs Essay: „Donald Trump ist ein guter Präsident“.

In Marcel Prousts „Recherche“ meint Charles Swann an einer Stelle, es wäre doch ein reizvoller Gedanke, eine aktuelle Zeitschrift mit Texten von Diderot, Swift, Racine und Herodot zu füllen, so, als würden sie zum zeitgenössischen Autorenstamm gehören, und dafür den politischen und gesellschaftlichen Klatsch in dicken Folianten unterzubringen, wo er ruhig verstauben könnte. Denn viele alte und uralte Texte, so Swann, könnten den Blick des Lesers für die Gegenwart viel schärfer stellen als die meisten Tagesproduktionen. Diesem eigentlich unmöglichen Medium nach Swanns Idee kommt nichts so nah wie “Laphams Quarterly“. Dort behandelte er tatsächlich Klassiker wie Autoren, ein zweitausend Jahre altes chinesisches Gedicht konnte neben Texten von Montaigne, Huxley und Hannah Arendt stehen, ab und an dazwischen schrieb auch ein lebender Autor.

Durch jede der monothematischen Ausgaben – Humor, Luck, Scandal, Swindle & Fraud, Time, Desaster, das ganze Alphabet der Existenz – zog sich ein eigenständiges Band von Illustrationen. Auch hier platzierten Lapham und seine Mitarbeiter eine 500 Jahre alte persische Miniatur neben einer Fotografie aus dem 21. Jahrhundert – und man staunte über die Spannung, die dadurch entstand. Aber was heißt schon ‘monothematisch‘? Jedes einzelne Vierteljahresheft, enzyklopädisch, kaleidoskopisch, nahm und nimmt seine Leser immer noch auf eine Bildungsreise, auf eine andere Art der Grand Tour für jeweils gut 20 Dollar. Sie navigieren sich durch die Beiträge und Bilder nach dem Serendipity-Prinzip, also der weder ganz zufälligen noch ganz vorhersehbaren Begegnung. Dieses Magazin bleibt Laphams Denkmal. Er zeigte damit, wie weit das Gebiet des Journalismus reicht. Und zwar auf Papier, in diesem Jahrhundert. Lapham war Konservativer und Avantgardist in einer Person.

Die beiden Bedingungen des goldenen journalistischen Zeitalters kommen nicht mehr zusammen, sie existieren zwar, aber strikt getrennt. Wer über tiefe Taschen verfügt, um Plattformen und Medien zu finanzieren – der deutsche Staat, vulgo zwangsweise der Steuerzahler im Falle von Correctiv, die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung im Fall des Spiegel und anderer Blätter, geben ihr Geld mit klaren Erwartungen, die sie nicht unbedingt ausbuchstabieren müssen (unvergessen, wie der Spiegel in seiner Titelgeschichte das empörend unmoralische Treiben der Multimilliardäre anprangerte, in dem nur eine prominente Person fehlte, sowohl auf dem Cover als auch im Text.)

Denjenigen, die das freie Schreiben und Editieren ausreizen, fehlt wieder das Geld. Auch Lapham’s Quarterly lebte nicht nur vom Verkaufspreis, sondern Spenden, die nicht von Stiftungen kamen, sondern von einem Teil der Leser, die eine freiwillige Zuwendung für eine gute Investition hielten. Möglicherweise repräsentierte der Schöpfer dieses singulären Magazins nicht nur die Vergangenheit des Journalismus, sondern auch ein Stück seiner Zukunft. In Deutschland blieb er, der viele Texte deutscher Autoren aufnahm und auf Bilder deutscher Künstler zurückgriff, weitgehend unbekannt. Von ”Money and Class in America”, erstmals erschienen 1988, wieder aufgelegt 2018, einem Buch, das allein schon durch seine elegante Sprache zu den großen amerikanischen Werken gehört, existiert bis heute keine deutsche Übersetzung.

Lewis Henry Lapham starb am 23. Juli 2024 im Alter von 89 Jahren in Rom.

 

 


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2 Kommentare
  • wolfgang kreipe
    15. August, 2024

    ein exquisiter nachruf über einen journalisten dessen wirken sich die heutigen unter das kopfkissen legen sollten. vielleicht würde das was bringen, obwohl??
    nur als beispiel aus ihrem text “Lapham war Konservativer und Avantgardist in einer Person.” das täte auch dem heutigen journalismus gut.

    danke dafür!

  • Werner Bläser
    16. August, 2024

    Ich muss gestehen, ich kannte Lapham nicht. Shame over me. Aber es gab schon wunderbare Journalisten, auch in Deutschland. Zum Beispiel Raimund Pretzel. Nie gehört? Bekannter war er unter dem Namen Sebastian Haffner, und ich erinnere mich noch sehr gern und mit Wehmut an sein bärbeissiges Gesicht und seine etwas nuschelnde Sprache.
    Er war wirklich ein wichtiger Journalist. Sogar einer mit einer guten Ausbildung, er arbeitete eine Zeitlang als Jurist. Er war einer, der regelrecht Geschichte machte. Als Expat in England zur Nazizeit wurde er eine Zeitlang interniert, schrieb aber dennoch 1940 ein Buch, dass die Sicht der britischen Regierung auf Nazideutschland ganz wesentlich prägte. Churchill machte das Buch zur Pflichtlektüre für seine Minister: “Germany, Jekyll and Hyde”.
    Nach dem Krieg setzte er seine Arbeit in Deutschland fort. Ich habe seine Ausführungen immer mit Genuss gehört (ja, ich bin so alt, dass ich das zum Teil noch mitbekam). Ich stimmte meistens, nicht immer, mit seinen Schlussfolgerungen überein, aber in jedem einzelnen Fall nötigten sie mir höchsten Respekt für sein intellektuelles Niveau ab. Als er 1999 starb, war ich tieftraurig.

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