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Der seltsame Professor Milei

Argentiniens Präsident will beweisen, dass eine Gesellschaft ohne übermächtigen Staat besser funktioniert. Bei seiner Kettensägen-Operation hilft ihm ein Persönlichkeitszug, der normalerweise als Handicap gilt. Südamerika-Kenner Alex Baur zieht ein Jahr nach der Wahl eine Zwischenbilanz

Die Schließung der Zentralbank und die Abschaffung der Landeswährung Peso gehören zu den wichtigsten Versprechen des Libertären Javier Milei. Ein Jahr nach seiner Wahl wartet Argentinien immer noch auf die Liberalisierung des Devisenhandels.

Man könnte es als Versagen deuten. Oder als Prinzipientreue. Milei hält daran fest, dass die Freigabe erst erfolgt, wenn Argentinien über genügend Reserven verfügt, um eine totale Entwertung des Pesos zu vermeiden. Denn ein Währungskollaps käme einer Enteignung gleich: aus libertärer Sicht die Mutter aller Sünden.

Allerdings zweifeln nur wenige daran, dass die Liberalisierung in absehbarer Zeit erfolgt. Die Märkte sind ein untrügliches Zeichen dafür. Der Gap zwischen dem offiziellen und dem realen Dollarkurs sank seit Anfang des Jahres von 60 auf zurzeit rund 20 Prozent. Taktisch wäre es ratsam, wenn der letzte Schritt bald vollzogen würde. Im nächsten Jahr wird die Hälfte des Parlamentes neu gewählt. Javier Milei braucht dringend eine Basis in der Legislative. Doch er hat bereits angekündigt, dass er lieber die Wahlen verliert, als von seinen Prinzipien abzuweichen. Auch daran zweifelt kaum einer in Argentinien. Warum eigentlich? Normalerweise tun Politiker fast alles, um im Amt zu bleiben.

Javier Milei hat so ziemlich alles getan, was jeder Politiker weltweit und insbesondere in Südamerika meidet wie der Teufel das Weihwasser. Seine professoralen, meist vom Blatt abgelesenen Diskurse strotzen nachgerade vor Fachausdrücken und komplexen Formeln, die in einem schrillen Kontrast zu den eruptiven Intermezzi stehen, in denen er seine Gegner mit derben Beleidigungen eindeckt. Mileis Botschaften sind unappetitlich. Statt dem Paradies auf Erden verspricht er harte Zeiten, die erst auf lange Frist einen Aufschwung herbeiführen sollen. Lauter Dinge, die keiner gerne hört.

Dass ein Libertärer ausgerechnet in Peróns Argentinien mit komfortablem Mehr gewählt wurde, kam einem Wunder nahe. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass Javier Milei trotz fehlender Parteibasis im Parlament seine revolutionären Pläne bislang in beachtlichen Teilen umsetzen konnte. Nicht einmal seine treusten Anhänger hatten prophezeit, dass er das notorische Budgetdefizit innerhalb von Wochen zum Verschwinden bringen und die Inflation bändigen würde. Und zwar nachhaltig. Doch der Preis – steigende Armut, Rezession – ist hoch. Gleichwohl hält sich die Zustimmung in der Bevölkerung gemäß Umfragen stabil bei 45 Prozent, ein in Anbetracht der Umstände passabler Wert.

Der Staatschef, in den deutschen Medien irrwitzigerweise mit dem Stempel ‘Rechtspopulist’ versehen, schaffte es, den ersten schuldenfreien Haushalt seit 12 Jahren vorzulegen, der sogar noch einen leichten Überschuss aufweist. Die immer noch hohe Inflation sinkt seit dem Frühjahr 2024 Schritt für Schritt; im September stand sie bei zwar immer noch beachtlichen 209 Prozent zum Vorjahresmonat, im April stand sie allerdings noch bei 292 Prozent.

Die Ausgaben normalisieren sich auch deshalb, weil Milei von den 341 477 öffentlichen Bediensteten, die er bei seinem Amtsantritt vorfand, bisher gut 24 000 feuerte. Dass die Verwaltung bisher trotzdem nicht kollabierte, liegt auch daran, dass Mileis Operation Kettensäge sehr viele Beamte trifft, die Argentinier “Gnocchi” nennen – Bedienstete, die ihren Posten Parteien verdanken und auf der Gehaltsliste stehen, ohne eine konkrete Arbeit zu verrichten. Viele Argentinier tischen Gnocchi traditionell am 29. eines Monats auf – daher stammt die Spottbezeichnung für die Geisterbeamten, deren Tätigkeit nur darin besteht, am Monatsende ihr Salär einzustreichen. Mileis jüngster Streich besteht darin, das Finanzamt in seiner bisherigen Form abzuschaffen und durch eine personell wesentlich schlankere Zollbehörde zu ersetzen, deren Chefs künftig auch deutlich weniger verdienen.

Mileis Stärke hat sicher auch mit der Schwäche seiner Gegner zu tun. Ihr hemmungslos korrupter Linkspopulismus hat die Nation, die früher einmal zu den reichsten Ländern der Welt gehörte, in den Ruin getrieben. Das begreift mittlerweile jeder, der Augen und Ohren im Kopf hat. Der Sozialismus hat längst auch in der Nachbarschaft jeden Glanz verloren. Von Chile über Bolivien, Peru und Kolumbien bis Brasilien ächzt die Bevölkerung unter explodierenden Kriminalitätsraten und einem Zerfall der Institutionen. Ganz zu schweigen von Venezuela und Kuba, einst wohlhabende Länder, die nach Jahrzehnten staatlicher Misswirtschaft am Hungertuch nagen. Der salvadorianische Hardliner Nayib Bukele genießt derweil gemäß Umfragen in ganz Südamerika Zustimmungsraten von über 80 Prozent. Doch das allein erklärt das Phänomen Milei nicht.

Mileis größte Stärke ist vielleicht seine vermeintliche Schwäche: Ein autistischer Charakter. Der Mann mit den Rocker-Allüren, der aus der Zeit gefallen scheint, legt sich mit jedem an, der ihn kritisiert. Er brüskiert ohne Rücksicht auf Verluste. Wo andere taktisch in Deckung gehen, schlägt er wild um sich, oft plump und rechthaberisch. Der Präsident erinnert bisweilen an einen Schwererziehbaren, der am liebsten das tut, wovon ihm alle abraten. Das ist unsympathisch. Doch es wirkt authentisch.

Egal ob man seine Ansichten teilt, man nimmt Milei ab, dass Macht und Ruhm ihn kaltlassen. Er scheint von seinen libertären Idealen nachgerade besessen. In der Praxis legt er gleichwohl einen bemerkenswerten Pragmatismus zutage. Seine einstigen Gegner aus den Reihen des gescheiterten liberalen Ex-Präsidenten Mauricio Macri sind heute seine treusten Verbündeten, sowohl im Parlament wie in der Regierung. Als Chef gibt er die Linie vor. Die Verhandlungen mit der Opposition überlässt er einem farblos technischen Kabinett, das still aber zielstrebig hinter den Kulissen Kompromisse ausbaldowert. Das Ziel ist in Stein gemeißelt, über Abläufe und Modalitäten lässt sich diskutieren.

Man kann sich fragen, ob der gigantische Druck, der auf Javier Milei lastet, ohne den querulatorischen Wesenszug überhaupt auszuhalten wäre. Der Libertäre hat ziemlich alles ins Visier genommen, was keiner vor ihm ernsthaft anzutasten wagte: all die kleinen und großen Privilegien, alte Seilschaften und verfilzte Strukturen, bürokratische Monster, den heiligen Gral der sozialen Gerechtigkeit.

Die größte Herausforderung liegt freilich in dem gigantischen Schuldenberg und einer maroden Wirtschaft, welche ihm seine Vorgänger hinterlassen haben. Es handelt sich um eine Wette gegen die Zeit. Einige Indikatoren weisen darauf hin, dass die Talsohle durchschritten sein könnte: Der IWF prognostiziert ein Wachstum von fünf Prozent im nächsten Jahr. Doch viele Investoren zögern. Sie wollen erst mehr Resultate sehen.

Die große Frage bleibt, ob auch Argentiniens Wähler so viel Geduld haben.

 

 


Alex Baur lebt und arbeitet als Südamerika-Korrespondent der Schweizer Zeitschrift die Weltwoche in Lima/Peru. Im Verlaufe seiner langjährigen journalistischen Karriere schrieb er unter anderem als Reporter und Redakteur für die Neue Zürcher Zeitung, Tages-Anzeiger, Stern und Geo in Zürich und in Hamburg. 

 

 

 

 

 

 

 


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Kommentare anzeigen (9)

  • Zwei Menschheits-Experimente, die sich diametral entgegenstehen:
    1. Das des deutschen Stümpers und machtgeilen, luftigen Phantasten, Robert Habeck, der seinen politischen Gegnern, die in der Sache meistens mehr Ahnung haben als er, gerne den Mund verbietet.
    2. Das des gelehrten, von seinem Fach als Ökonomieprofessor besessenen "Autisten", Xaver Milei, dem Macht und Geltungssucht völlig fremd sind.

    Während der 1. smart und in gesalbten Worten daherkommt, auch vor Lügen nicht zurückschreckt, und mit Milliarden, die andere erarbeitet haben, nur so um sich schmeißt, kommt der 2. eher brachial, eckig und kantig aber bescheiden daher - dennoch oder gerade deshalb hält die Mehrheit ihn für authentisch!
    Habeck ist offensichtlich dabei ein gesamtes, einst gesundes und blühendes Land bis auf die Grundmauern zu ruinieren und damit viele in Elend, Gewalt und eine soziale Dystopie zu führen. Während Milei auf einem guten Weg zu sein scheint, ein ruiniertes Land aus Elend und Gewalt herauszuführen - sicherlich über eine Zeit der Entbehrung hinweg.
    Der Ausgang des 1. Experiments steht längst felsenfest! Der Ausgang des 2. ist trotz vieler erstaunlich positiver Indikatoren offen. Die Frage ist eigentlich nur, haben die Argentinier genug Luft und Zuversicht, den Weg Mileis mit ihm zu Ende zu gehen.

    Bezeichnend, dass der deutsche Fake sich jüngst den Brachialgestus des authentischen Milei mit der Kettensäge zulegen will. Ein Plagiat der besonders perfiden Art.

    • Habeck ist doch nur der Sündenbock. Er steht so dermaßen diametral der FDP gegenüber, die sich vollkommen zurückhält, dass man davon ausgehen muss, dass er brachiale Uhterstützung beim Abriß bekommt. Warum nicht von der deutschen Industrie? Die freut sich, wenn sie ihre Jobs überall verteilen kann,

      • Ich verstehe Ihren Kommentar nicht.
        Natürlich kann auch ein Milei keine Wunder vollbringen. Aber allein dass er die blutsaugenden Nichtsnutze von den hart erarbeiteten Steuertöpfen der Arbeiter absägt, trägt bereits wesentlich zur Gesundung der Haushalte bei. Das Kapital wird eingespart oder frei für wertschöpfende Investitionen. Die Nuchtsnutze und verfaulten Beamten sind genötigt sich ehrliche Arbeit zu suchen! Auch Deutschland wird mit einer Staatsquote von 50% am Ende des RotGrünen Desastrs nur eine Milei'sche Kettensägenpolitik übrig bleiben. Nach den Schweden sind uns die baltischen Kleinstaaten die großen Vorbilder in der Schulpolitik - in der Wirtschaftspolitik wird es dann eben Argentinien sein müssen.

        • Kuba wird seit mehr als 60 Jahren vom US-hörigen Wester massiv boykottiert. Kuba ist seit diesen 60 Jahren wie ein Pestkranker wirtschaftlich isoliert.
          Ein Schreiber, der Kuba unter diesen Umständen eine Misswirtschaft unterstellt, ist kein Journalist sondern ein ideologischer Propagandist.

      • Nein, Habeck ist nicht der Sündenbock, sondern der Sünder - fast hätte ich geschrieben "der Bock", weil er alles verbockt. Wie kann man jemanden als "Sündenbock" bezeichnen, der einen Wärmepumpen-Graichen aus der von Milliardären gesponserten Agora als 'spiritus rector' in seinem Ministerium einsetzt, wirkliche Experten kaltstellt, und alles, wirklich alles, dafür tut, Deutschland mit seiner grünsozialistischen Irrsinnsideologie zu ruinieren?
        Und angesichts seines leicht debilen Grinsens bei vielen Interviews, in denen er schlechte News präsentieren muss (oder ist nicht die Lage schlecht, sondern nur die Zahlen??), könnte man gar den Verdacht hegen, dass ihm das Ganze auch noch Spass macht.
        Wenn er mit dem indischen Wirtschaftsminister zusammen U-Bahn fährt, hört er nicht zu, fläzt sich in seinen Sitz, während sein Gesprächspartner steht, und meint, als der etwas ihm Unbekanntes zum Thema Sanktionen gegen China erzählt (aus dem riesigen Universum des ihm Unbekannten), dass er nun vielleicht doch zuhören müsse.
        Dann phantasiert er die Vorstellung eines vielen hundert Milliarden schweren Fonds zusammen, mit denen giesskannenmässig alle möglichen Investitionen in Deutschland subventioniert werden sollten.
        Manchmal fällt es mir bei solch monströsen Schnapsideen schwer, an Hanlon's Razor zu glauben. Selbst abgrundtiefe wirtschaftspolitische Dummheit sollte eigentlich nicht ausreichen, so einen Wahnsinn auszubrüten.
        Habeck übertrifft in seinen politischen Kindergartenphantasien fast alles, was argentinische Politiker vor Milei angerichtet haben - die standen bei vielen Gelegenheit vor wirklich schwierigen Problemen und man könnte denen wenigstens teilweise (!) mildernde Umstände für falsche Richtungsweisungen zugestehen.
        Habeck und Konsorten hingegen haben die Probleme, die von der vergrünten Merkel gesät wurden, erst zum Wachsen und vollen Blühen gebracht - unter tätiger Mithilfe aus von der Leyens Brüssel. Wobei es keinen grossen Sinn macht, hier zwischen den Verursachern zu unterscheiden - es ist immer derselbe grünsozialistische Murks, der allem zugrunde liegt.
        Habecks Grüne, und wohl auch zum nicht geringen Teil SPD und Teile der entkernten und opportunistischen CDU werden einmal in die Geschichte eingehen als Figuren, die Deutschland in eine seiner schwersten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise geführt haben.
        Wenn die CDU nicht die Kraft aufbringt, konzeptionell das Ruder herumzureissen (ich bezweifle das), dann wird es wohl nicht anders als mit einem kräftigen Durchschütteln der gesamten deutschen Parteienlandschaft abgehen, ähnlich der Krise des politischen Systems in Italien in den 90iger und sogar ähnlich der tödlichen Krise der DDR Ende der 80iger.
        Ein Spion des BND mit tiefen Einblicken in die DDR-Wirtschaft meldete damals nach Pullach: "Die Karre rast auf die Wand zu." VW hat diese Wand jetzt schon einmal erreicht. Weitere spektakuläre Opfer werden folgen, Schlag auf Schlag.
        Man kann nur hoffen, dass diese Krise als eine Art Katharsis und Lernhilfe für deutsche Wähler dienen kann. Lernziel: Wähle keine Idioten.

  • Vielen Dank für diesen kritischen Artikel. Manchmal ist mir die Zustimmung zu Milei zu groß und ehrlich: Wer glaubt denn an Wunder? Aber da klingt doch leichte Hoffnung für Argentien raus.

  • Auf Twitter gibt es einen deutschen Kanal, der mE gut dazu berichtet: JavierMileiDE_Kommentar.

    Bei Kontrafunk war die Woche in Wirtschaft und Gesellschaft Prof. Bagus zu Besuch, Anlaß war sein neues Buch zu Milei.

    Beide kommen mE zu einer sehr positiven Einschätzung seiner Erfolge und auch der öffentlichen Zustimmung.

    Ansonsten - Danke an den Autor und PublicoMag!

  • Ich wünsche mir alte und neue Informationen und Geschichten zu Argentinien, um das Vorhaben von von Javier Milei (für mich) besser beurteilen zu können. Bitte keine säuerlichen Kommentare von jenseits der Anden.

    Mir ist übrigens ein Rätsel, mit welchen Mitarbeitern den Wandel in der öffentlichen Verwaltung ins Werk setzt (und setzen will). (Loyalität? Muß man sich die Beamten nicht als von Kirchners Gnaden vorstellen?)

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