„Sperrt die Unsicheren in ein Konzentrationslager“
Das Standardwerk „Der Gulag“ der Historikerin Anne Applebaum liegt jetzt zum ersten Mal ungekürzt auf Deutsch vor. In einer öffentlichen Debatte mit schiefen historischen Parallelen und vielen Leerstellen ist diesem Werk über den kommunistischen Terror größtmögliche Verbreitung zu wünschen.
Die Amerikanerin Anne Applebaum, in diesem Jahr ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, gehört zu den einflussreichsten Autorinnen der westlichen Welt. Ihre Werke passen nicht ganz in die Kategorie Sachbuch. ‘Politische Erzählung‘ wäre angemessener. Mit der Art und Weise, in der sie Vorgänge darstellt und deutet, gibt sie manchen Debatten die entscheidende Richtung. Mit „Twilight of Democracy“, deutsch: „Die Verlockung des Autoritären“ legte sie ein Buch vor über die Bedrohung der alten westlichen Ordnung, die sie mit dem Begriff ‘liberale Demokratie‘ fasst, durch die „autoritäre Versuchung“. Diese Bedrohung beziehungsweise Verführung geht für sie allerdings nur von Figuren wie Donald Trump, Viktor Orbán und damals noch den Anführern der polnischen PiS aus. Dass eine orthodoxe bis totalitäre Neolinke viele Universitäten und andere Institutionen fest im Griff hält, dass so genannte Nichtregierungsorganisationen mit Hilfe finanzkräftiger Stiftungen eine unkontrollierte Macht ausüben, erwähnt die Autorin nur ganz am Rand. An der Zersetzung bürgerlicher Ordnungen tragen ihrer Ansicht nach ausschließlich populistische Aufsteiger die Schuld. Für sie stellt ein Donald Trump auch kein Symptom gesellschaftlicher Entwicklungen dar, sondern die mehr oder weniger ursachenlose Ursache eines Zerfallsprozesses.
Neben dieser konventionellen, aber einflussreichen Mustererzählung gibt es ein Werk Applebaums, dem man einen größtmöglichen Einfluss auf die öffentliche Debatte wünschen muss: „Der Gulag“, ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis, erschien 2024 noch einmal auf Deutsch. Jeder weiß mit den Ortsbezeichnungen Auschwitz und Treblinka etwas anzufangen. Aber trotz Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ kann kaum jemand auch nur die bekanntesten sowjetischen Lager nennen. Die Solowezki-Inseln, Workuta, Perm und Magadan gehören bis heute zu einem politisch unkartierten Gebiet. Mit Heinrich Himmler und Adolf Eichmann verbinden selbst historisch Geringgebildete vage Vorstellungen. Aber wer waren Naftali Frenkel, Nikolai Jeschow und Genrich Jagoda? Dass der Schatten Hitlers heute über allem rechts der Mitte hängt und bizarre Zerrbilder erzeugt, während ein auch nur annähernd ähnlicher historischer Schatten für die gesamte Linkssphäre schlicht nicht existiert, prägt die politischen Kämpfe überall im Westen. Ohne diese Konstellation wäre die ungeheure moralische Aufladung der alten wie der Neolinken nicht möglich.
Applebaums „Gulag“, ein in zehn Jahren mit Archivrecherche und Anhörung von Zeitzeugen zusammengetragenes Standardwerk, kann diese Ignoranz zwar nicht beseitigen, aber erschüttern. Gleich zu Beginn erinnert Applebaum daran, dass sich das letzte Lager des Gulagsystems, Perm-36, noch bis 1992 in Betrieb befand. Es geht in ihrem Buch also nicht um längst erkaltete, sondern nur etwas abgekühlte Geschichte.
Das Straflagersystem, dessen Grundstein die siegreichen Bolschewiki schon 1917 legten, stellte trotz der langen russischen Gewaltgeschichte etwas historisch Neues dar. Verbannungslager existierten schon in der Zarenzeit, aber in einem sehr viel kleineren und milderen Ausmaß. „Im Jahr 1906“, schreibt Applebaum, „gab es circa sechstausend Verurteilte, 1916, am Vorabend der Revolution, waren es 26 600.“ Zwangsweise siedelte das Zarenreich zwischen 1824 und 1889 zwar 720 000 Menschen nach Sibirien um, um das vorher fast menschenleere Land zu erschließen. Die meisten dieser Unglücklichen konnten allerdings mit ihren Familien in ärmlichen Siedlungen leben. Das kommunistische Lagerreich wuchs nicht nur schnell zu einer ganz anderen Größe heran, es diente auch nicht in erster Linie dazu, Sklavenarbeit zu organisieren. Sondern es diente als Formungsinstrument für eine Ordnung neuer Art. Und das von Anfang an. Applebaum zitiert eine Weisung Lenins von 1918, der als Reaktion auf einen lokalen Aufstand gegen die bolschewistische Herrschaft an die dortigen Kommissare schrieb: „Sperrt die Unsicheren in ein Konzentrationslager.“ Als „unsicher“ galt den neuen Machthabern anders als im Zarenreich jeder, der nicht ausdrücklich auf ihrer Seite stand. Stalin erweiterte den Feindeskreis lediglich, indem er auch treue, ja fanatische Diener des Systems verfolgen und ermorden ließ. Solschenizyn beklagte zurecht, dass bei Anbruch des nachstalinistischen Tauwetters vor allem diese kommunistischen Opfer des Gulags zu Wort kamen, weshalb sich der Eindruck festsetzte, die Verfolgung hätte vor allem ihnen gegolten. In Wirklichkeit bildeten sie nur eine kleine Gruppe unter den Inhaftierten und Getöteten.
Das Gulag-Imperium lag in den Händen der Tscheka, der „Außerordentlichen Kommission“, deren Name betonte, dass hier weder Rechtsvorstellungen galten, wie sie das reformierte Zarenreich kannte, noch die Deklamationen von Menschenwürde und Gerechtigkeit in kommunistischen Reden und Schriften. Wer in eins der Lager eintrat, dessen Leben unterlag ausschließlich dem, was Mitarbeiter der Tscheka für angemessen hielten.
Die totale Willkür bedeutete allerdings nicht, dass es keine Ordnung gab. Einen längeren Exkurs widmet Applebaum einem der monströsesten Menschen des an furchtbaren Figuren wirklich nicht armen 20. Jahrhunderts: Naftali Frenkel. Der 1883 in Haifa geborene und erst in den Zwanzigern in die Sowjetunion gekommene Kaufmann landete wegen seiner kapitalistischen Handelstätigkeit zunächst selbst im Lager, tat sich dort mit Vorschlägen zur effizienteren Organisation hervor, und schuf damit aus den relativ chaotischen Anfängen die Art Lager, in deren Mittelpunkt die Vernichtung durch Arbeit stand. Als schnell aufgestiegener Verantwortlicher für alle Gulags im karelischen Gebiet teilte er die Häftlinge in drei Gruppen: geeignet für schwere Arbeit, für leichte Arbeit und für Arbeit ungeeignet, die „Invaliden“. Für diese Kategorien legte er jeweils die Verpflegungsrationen fest, was in der Praxis den „Invaliden“ fast jede Überlebenschance nahm. Zum anderen setzte er die Normen so hoch an, dass sich auch viele der überhaupt einigermaßen verpflegten Häftlinge buchstäblich zu Tode arbeiteten.
Mit Detailfülle belegt Applebaum, wie gering der wirtschaftliche Nutzen des Gulagsystems für das Regime trotzdem ausfiel. Sämtliche Arbeitsgeräte, mit denen beispielsweise zehntausende Zwangsarbeiter den Weißmeerkanal bis 1933 errichteten, hatten sie selbst herzustellen, von primitiven Holzschaufeln und Hacken bis zu Gerüsten. Sie schufen unter ungeheuren Menschenopfern ein Bauwerk, das ein Bruchteil gut verpflegter freier Arbeiter besser gegraben hätte. Wegen seines geringen Tiefgangs von gerade vier Metern konnten Hochseeschiffe ihn nicht passieren, was die Wasserstraße weder ökonomisch noch strategisch bedeutsam machte. Der Sinn des Systems, das Millionen Menschen durchliefen, und in dem Millionen einen meist namenlosen Tod starben, lag in der totalen Unterwerfung der sowjetischen Gesellschaft, ab 1940 auch der okkupierten baltischen Staaten. Die Botschaft lautete, dass es jeden treffen konnte. Das, was an Informationen über die Lager durchsickerte, überzeugte alle Kreise und Milieus der Bevölkerung davon, dass der sofortige Erschießungstod – während der großen Säuberung, der „Jeschowschtschina“ zehntausendfach verhängt – noch nicht zum schlimmstmöglichen Schicksal gehörte. Stalin, der das Lagersystem von Lenin übernahm und zu seinem Werkzeug machte, verfolgte damit nicht das Ziel, einen bestimmten Teil der Bevölkerung auszulöschen. Diesen Unterschied zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern stellen alle Historiker heraus, auch Applebaum. Doch es finden sich etliche Parallelen; beispielsweise beschreibt die Autorin anhand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten, dass ein erheblicher Teil der hungernden Häftlinge schon den Transport in überfüllten Güterwagen zu den Lagern nicht überlebte. Sie zitiert aus Dokumenten, in denen Funktionäre zu hohe Todesraten bei den Transporten rügten, nicht aus Mitleid, sondern weil sie solche Vorkommnisse als Verschwendung von Arbeitskraft einstuften. Andererseits hielten sie die Arbeitskräfte wiederum nicht für so wertvoll, dass sie die Bedingungen durchgreifend verbesserten. Die hohen Todesraten in den Waggons und den Lagern selbst gehörten zum Kalkül. Die Gulags töteten anders und aus anderen Motiven als die deutschen Todeslager. Die Gesamtzahl ihrer Opfer lag aber höher, erstens wegen der Ausdehnung des Gulag-Imperiums, aber vor allem wegen seiner Dauer. Zwischen 1930 und 1953 durchliefen schätzungsweise 18 Millionen Menschen das Gulag-System.
Aus dem außerordentlich gründlichen, quellenreichen, auf 736 Seiten angelegten sowie mit zahlreichen Illustrationen versehenen Werk erfährt der Leser auch, warum die neue Sowjetführung nach Stalins Tod 1954 die ersten Schritte unternahm, um die Straf- und Todesmaschinerie zu demontieren: Damals schafften sie die Sonderlager ab, führten den Acht-Stunden-Tag für die Lagerarbeit ein, erlaubten den Häftlingen, Briefe zu schreiben und den Angehörigen, auch Päckchen zu schicken. Der Grund für die Lockerung lag in der Ökonomie: Wie die Gulag-Funktionäre in einer Revision feststellten, schürften ihre Gefangenen zwar Gold, Nickel und viele andere Rohstoffe, sie stellten Industriegüter her, es gab sogar ein Lager in Moskau, in dem hoch qualifizierte Gefangene Flugzeuge konstruierten – aber obwohl das gigantische Reich Schätze lieferte und die Arbeitskräfte ihm nie ausgingen, deckte sein Ertrag nicht annähernd die Kosten von Apparat inklusive Wachmannschaften, geschweige denn, dass die Gulags die Staatskasse füllten. Das System vernichtete Menschen, Ressourcen, Glück und tausende Jahre an Lebenszeit. Es produzierte nur eins: relative Stabilität für eine Ordnung, die ausschließlich ihren Funktionären und dem einen oder anderen privilegierten Intellektuellen etwas bot.
Applebaum beschreibt die Entstehung des Gulag, seinen Höhepunkt und seinen allmählichen Verfall im „Tauwetter“ der Chruschtschow-Zeit; sie dokumentiert auch, mit welcher Grausamkeit selbst die abgemilderte Lagermaschinerie noch in den siebziger Jahren Menschen brach. Nie gab es einen Prozess gegen die Verantwortlichen, denn das hätte bedeutet, ehemalige und noch aktive Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei zuallererst vor Gericht zu stellen. Niemals kam wenigstens so etwas wie eine Wahrheitskommission zusammen, wie es sie in Südafrika gab. Der Terror gegen die eigene Bevölkerung und unterworfene Völker endete nicht in einem großen Zusammenbruch. Er lief in immer flacheren Wellen aus. Warum es in Russland nie eine aufklärende Auseinandersetzung über die totalitäre Vergangenheit gab (um den abgenutzten Begriff „Aufarbeitung“ einmal zu vermeiden), erklärt die Historikerin plausibel: Nicht nur die Elite wollte so etwas unbedingt vermeiden, denn die meisten ihrer Mitglieder stammten nach dem Zusammenbruch des Staates aus dem Milieu der alten Herrscher. Es gab auch in der russischen Bevölkerungsmehrheit keinen Willen dazu: Dort galt und gilt die Sowjetära als ärmliche, aber immerhin imperiale Zeit. Als das alte Staatswesen 1991 in die Grube fuhr, nahm es seine mörderische Geschichte gewissermaßen mit sich. Ein großes öffentliches Gespräch über die Verbrechen, meint Applebaum, komme deshalb vielen Russen so vor, als würde man „übel über einen Toten reden“. Um mit Kafka zu reden: „Die Wunde schloss sich müde.“
In ihrem Buch „Twilight of Democracy”, siehe oben, fehlen die linksautoritären Regierungen in Mexiko, Nicaragua und Venezuela, die Hamas-Bewunderer im Westen und die bis ins politisch-mediale Zentrum vorgerückten Rufe nach Meinungskontrolle und Exklusion „falscher” politischer Bewegungen nicht einfach. Es handelt sich um ein ausführliches Umgehungsmanöver. Applebaums „Gulag“ steht als gut erzähltes Standardwerk für sich. Aber sein Leser kann auch mühelos an Gegenwartsphänomenen bei allen Unterschieden und Abstufungen im Detail die Verbindungslinien zu dem beschriebenen kommunistischen Terror erkennen, die auf einen gemeinsamen Punkt zulaufen: die Überzeugung, jeden vermeintlichen oder echten Feind des deklaratorischen Fortschritts der halluzinierten Gerechtigkeit bekämpfen zu dürfen, ohne sich dabei irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen. Das Buch arbeitet gleichzeitig das Spezifische heraus: Auch ein Hugo Chávez ist eben kein Stalin, sein Geheimdienstchef kein Jagoda. Aber zu dieser Feststellung gehört ein komplementärer Teil, der lautet: Es ist genauso grotesk, einen Donald Trump, einen Viktor Orbán und einen Björn Höcke ernsthaft auf eine Ebene mit Hitler und Himmler zu stellen. Neben der Geschichte des Nationalsozialismus muss in Zukunft die Bewusstmachung des kommunistischen Totalitarismus stehen. Erst beides zusammen ergibt eine historische Wahrheit. Und erst diese Doppelperspektive verhindert die Banalisierung des einen wie des anderen.
Anne Applebaum, Der Gulag, Pantheon, 736 Seiten, 22 Euro
Harald Martenstein ist Meister der kleinen Form. „Es wird Nacht, Señorita“ versammelt Kolumnen, die zwischen politischer Aufladung und Alltagsbeobachtung, Komik und Ernst oszillieren. Alle zusammen ergeben einen Bilderbogen der Zeit
Harald Martenstein gehört zu den altgedienten Kolumnenschreibern des Landes. Er geht dieser Tätigkeit schon so lange nach, dass er, wie er in seinem jüngsten Kolumnenbuch „Es wird Nacht, Señorita“ mitteilt, am Beginn seiner Karriere noch Worte wie „Beinkleid“ und „Spargeltarzan“ in unironischer Absicht verwendete. Über viele Jahre gehörten seine kurzen Stücke auch zum Angebot des Tagesspiegel, bis dessen Chefredaktion 2022 – es ging um Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen und ein ganz bestimmtes Detail darin – den Text nicht nur von der Onlineseite löschte, sondern sich auch noch umfangreich davon distanzierte (die Kolumne, um die es damals ging, dokumentiert er samt Nachwirkungen in dem Buch).
Der 1953 geborene Autor schreibt seitdem Kolumnen für die Welt, bei der angestammten Zeit blieb er allerdings bis heute. Aus dieser Zeitung stammen sämtliche Texte des neuen Bandes. Sie stehen jeweils für sich, bilden allerdings in Teilserien größere Themenkreise. Zu den Vorzügen von „Es wird Nacht, Señorita“ gehört, dass die Sammlung auch eingestreute Kommentare von Zeit-Lesern enthält. Einer lautet, Martensteins Beiträge in dieser Zeitung, das sei wie Kardinal Woelki in den St.-Pauli-Nachrichten. Ob der Vergleich das Verhältnis zwischen Predigt und dem unterhaltsamen Teil wirklich angemessen erfasst, kann dahinstehen. Den Kontrast trifft er jedenfalls recht gut. Der erste Abschnitt in “Es wird Nacht, Señorita“ widmet sich dem, was auf Englisch virtue signalling heißt, also der demonstrativen Herausstellung von Tugendhaftigkeit, die sich in den vergangenen zehn Jahren auch in Deutschland zum gesellschaftlich bedeutsamen Brauch entwickelte. Wahrscheinlich lesen deshalb so viele Martenstein, weil er nicht polemisiert – was beide Seiten auf Dauer ermüden würde –, sondern beobachtet und beschreibt aus einem gewissermaßen ethnologischen Blickwinkel: Woher kommt ein bestimmter Typus? Wie sind seine Sitten und Gebräuche entstanden?
Beispielsweise die eines Theaterregisseurs, der sich auf einer Party mit dem Autor unterhält und konsequent gendert, obwohl keine Dritten zuhören, die sich durch das generische Maskulinum ausgeschlossen fühlen könnten. Möglicherweise gehört der Kulturmensch zu den Leuten, die den so genannten Glottisschlag grundsätzlich immer anwenden, um ihn nicht im falschen Augenblick zu vergessen. „‘Glottis‘ klingt nach ‘Berg in der Ostschweiz‘“, lernt der Leser, „ist aber Teil des Larynx, letzterer verbindet den Pharynx mit der Trachea“. Mit ähnlichem Interesse, die Sache zu verstehen, schreibt er auch über Straßenblockierer der „Letzten Generation“, die er genaugenommen nicht sieht, weil er selbst ziemlich weit hinten im Stau steht, den sie gerade in Berlin verursachen. In fast allen seiner Skizzen wirft er lebenspraktische Fragen auf, in diesem Fall nach dem CO2-Ausstoß einer Straßenvollsperrung durch Bürgerkinder. Tatsächlich, das fällt dem Leser auf, gibt es zur Kohlendioxidbelastung durch alles Mögliche erstaunlich exakte Berechnungen, von Kindern bis zu einem Liter Milch, aber nicht zu diesen Aktionen, die ihren Urhebern zufolge zur Globalklimarettung geschehen.
Sehr oft befasst sich der Kolumnist mit Erscheinungen, die ihm gegen den Strich gehen, die er bisweilen sogar für verhängnisvoll hält. Aber nie wünscht er sich die anderen weg oder stumm. Neutral beobachtet er allerdings auch nicht. Das liegt vermutlich an seinem juvenilen und kurzen Ausflug in die politische Radikalität, dem er eine Art Immunschutz gegen das Totalitäre jedweder Richtung verdankt. „Mir sind alle Bewegungen unheimlich“, schreibt Martenstein, „die sich nur fürs ganz Große interessieren, für die Weltrettung, für den Sieg einer politischen Theorie, die angeblich alle Probleme löst, für die einzig wahre Religion.“
Das Überthema Nummer zwei lautet Canceln, also das Beiseitedrängen bestimmter Meinungen durch Leute, die sich selbst für uneingeschränkt meinungsberechtigt halten. „Von der Cancel Culture“, heißt es in einem Text, „sagen ja manche hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Über die Stadt Bielefeld behaupten Spaßvögel das Gleiche. In beiden Fällen ist die Beweislage dünn. Dazu laufen einfach zu viele Bielefelder und zu viele Gecancelte da draußen herum.“ In diesem Abschnitt finden sich unter anderem eine Hommage an den britischen Autor Roald Dahl, der heute professionellen Textdurchflöhern nicht mehr zumutbar erscheint, es folgt eine kleine Abhandlung über die spät entdeckten Sünden des Malers William Turner, danach die Würdigung der Professorin Susan Arndt, Kuratorin einer Liste unkorrekter beziehungsweise nicht mehr sagbarer Begriffe, zu der beispielsweise das „Hä-Wort“ gehört. Via angefügten Kommentars des Autors erfährt man, dass sich die Wissenschaftlerin wegen dieses Textes bei der Zeit beschwerte. In der Folge entstand daraus ein Streitgespräch zwischen ihr und Martenstein. Es gibt also auch gute Konsequenzen, wenigstens ab und zu. Was es mit dem inkriminierten Hä-Wort auf sich hat, müssen künftige Leser des Buchs bitte selbst herausfinden. Um die Beleidigung von Schwerhörigen geht es jedenfalls nicht.
Gesellschaftlich-politische Phänomene allein füllen noch kein Kolumnistenleben, also auch keinen Sammelband. Er handelt deshalb auch von Tinder, dem Ende der Münchner Schickeria und anderen neueren Entwicklungen. Auch von dem unerwarteten Problem seines Sohnes beim Erwerb des Seepferdchens. Nicht alle Stücke wirken komisch, etwa, wenn er darüber schreibt, wie leicht es dem sehr wohlmeinenden Autor eines christlichen Magazins von der Hand geht, seine weltanschaulichen Gegner als „Tumor“ zu bezeichnen. Oder, wenn Martenstein von seiner dementen Mutter erzählt. Erst durch die Variation von Themen und Tonlagen entsteht ein Bilderbogen, der die Gegenwart illustriert. Im Idealfall färbt etwas von der Gelassenheit vieler Texte auf den Leser ab.
Nicht wenige Leute kaufen die Zeit gerüchteweise nur wegen des wöchentlichen Martensteins. Für alle anderen gibt es seine Kolumnenbücher.
Harald Martenstein, Es wird Nacht, Señorita: Gedanken über die Beglückungen der Gegenwart, C.Bertelsmann, 224 Seiten, 22 Euro
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Oskar Krempl
10. November, 2024Was den Gulag von Anne Applebaum betrifft, bleibt zu hoffen, daß es dieses Mal eine vollständige Version ist, denn die gebundene Version von 2023 aus dem Siedler Verlag war es nicht.
“Die deutsche Ausgabe wurde mit Einverständnis der Autorin gekürzt”
Seitdem bevorzuge ich Originalausgaben.
Oskar Krempl
10. November, 2024Ich korrigiere mich, die deutsche Ausgabe war von 2003.
Thomas Veigel Dr.
11. November, 2024Bei der Vollständigkeit des Werks von Solschenizyn fragt man sich, warum das Rad unbedingt das zweite Mal erfunden werden muss. Man hätte sich einen Vergleich gewünscht. Was hat Applebaum an zusätzlicher Erkenntnis zu liefern?
Werner Bläser
11. November, 2024Darf ich auf ein Buch von 2022 hinweisen? Ich meine Konstantin Kisins “An Immigrant’s Love Letter to the West”. Der Autor beschreibt hier die irrationale, fast fetischistisch anmutende Selbstquälerei, in die der Westen verfallen ist, inklusive Cancel Culture und die Gefahren für freie Rede. Kisin, aus Russland stammend, ist eigentlich von Beruf Comedian – allerdings einer der todernsten Sorte. Man könnte ihn vielleicht am ehesten mit Harald Schmidt vergleichen. Für einige Appetithäppchen kann man auf seine zahlreichen klugen, amüsanten Youtube-Videos zurückgreifen. Sein Video über den “Cobra Effect” (Why good intentions don’t solve problems) könnte man geradezu als eines modernen Edmund Burke würdige Fundamentalkritik an der Haltung wohlmeinender linker Dilettanten ansehen, die gute Absichten mit absoluter Inkompetenz paaren.
Andreas Rochow
12. November, 2024Anne Applebaums “Gulag” könnte das Fundament für folgende Argumentation sein, mit der man der Verharmlosung und Verherrlichung der “proletarischen Weltrevolution” entgegnen kann.
1.) Leninverehrer wie der kürzluch verstorbene Schauspieler Peter Sodann, der in einem Interview sagte, dass wer in seiner Wohnung Negatives über Wladimir Iljitsch sage, von ihm die Tür gewiesen bekomme, müssen die Wahrheit ertragen: Es ist nicht Stalin, der die gute Sowjetherschaft mit Verbannungen und Massenmord “verdorben” hat! Der Sowjetkommunismus war bereits in seiner Entstehung unmenschlich und blutig; es gibt keinen Grund, Lenin diesbezüglich als Saubermann zu exkulpieren.
2.) Für die Methode des Massenmordes und der industriellen Massenvernichtung – aus welchen Motiven heraus auch immer – haben die Nazis keineswegs das Urheberrecht. Bereits im 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatten die Sowjetrussen praktische Erfahrungen mit der Massenvernichtung von Menschen gesammelt. Wenn man dem Romancier Robert Merle (“Der Tod ist mein Beruf”) Glauben schenken kann, waren es pragmatische russische Massenmörder, die ihren deutschen KZ-Kollegen anschaulich erklärten, wie man Leichenberge am besten durch vollständige Verbrennung entsorgen kann.
3.) Es ist bisher in keiner real existierenden sozialistsch-kommunistischen Gesellschaft jemals gelungen, sich den hehren kommunistischen Zielen ohne Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu nähern. Das gründet darauf, dass der kommunistischen Idee der Antihumanismus immanent ist. Die “sozialistische Einheits-Persönlichkeit” ist nur durch totale Indoktrination unter Entzug von Menschenrechten herstellbar’ Den Rest erledigt eine mörderische Selektion!
4.) Wir müssen aufpassen, das das, was die Fans der “künstlichen Intelligenz”, der totalen Digitalisierung und der transhumanistischen Möglichkeiten anstreben, nicht zum modernen, nämlich “digitalen” Antihumanismus verkommt! Ansätze zu totalitären Projekten wie “Klimarettung”, zum “Kampf gegen Rächtz” oder gegen Trump, Orbán oder Höcke oder den “Putin-Russen” lassen das befürchten.
Werner Bläser
13. November, 2024Und noch eine “olle Kamelle”, aber brandaktuell. Nicht nur Gramsci hat Gefängnishefte geschrieben. Auch Dietrich Bonhoeffer. Und daraus lässt sich – unter anderem – so etwas wie eine Theorie der Dummheit lesen. Scheint mir gerade in diesen Zeiten zu passen wie die Faust aufs Hirn. Kostprobe:
“Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend… Offenkundig ist das Versagen der „Vernünftigen“, die in bester Absicht und naiver Verkennung der Wirklichkeit das aus den Fugen gegangene Gebälk mit etwas Vernunft wieder zusammenbiegen zu können meinen. In ihrem mangelnden Sehvermögen wollen sie allen Seiten Recht widerfahren lassen und werden so durch die aufeinanderprallenden Gewalten zerrieben, ohne das Geringste ausgerichtet zu haben…
Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos.”
(D. Bonhoeffer, “Nach 10 Jahren”, geschrieben um 1943/43).