Alexander Wendt: Zwei Jubiläen, zwei Geschenkideen zum Wiederlesen oder Entdecken
Jahrhundertwerk, gewaltiger Schlussakkord einer Epoche – 100 Jahre „Zauberberg“
Es braucht natürlich keinen äußeren Anlass, um zu lesen. Aber schon jede Empfehlung kommt von außen und egal wer und was uns zu einem Buch führt: Nach guten Leseerfahrungen suchen die allermeisten. Warum sollte also der hundertste Jahrestag eines Romans nicht den Anstoß geben? Das opus magnum steht wahrscheinlich bei manchen auf der Liste der ewig aufgeschobenen, weil umfangreichen Werken oder auf dem Zettel der unbedingt wiederzulesenden Bücher: Vor fast genau einhundert Jahren, im November 1924, erschien Thomas Manns „Zauberberg“ bei S. Fischer. Mann gehörte damals, nach den „Buddenbrooks“, den Erzählungen und den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu den einflussreichsten deutschsprachigen Autoren. Trotzdem schrieb er an seinen Kollegen André Gide, seine, Manns, „Stellung in der Welt“ sei erst durch den „Zauberberg“ geschaffen worden, „dessen rein narrative Eigenschaften doch seinen analytischen so weit die Waage halten, um das Ganze als Komposition und Kunstwerk haltbar zu machen“. Zu diesem Selbstkommentar sah er sich genötigt, nachdem ihm die Schwedische Akademie den Nobelpreis 1925 nicht etwa für seinen gerade veröffentlichten Tausendseiter verliehen hatte, den er zurecht für den vorläufigen Höhepunkt seiner Kunst hielt, sondern für seinen sicherlich ebenfalls hervorragenden, aber damals schon 24 Jahre alten Roman über den Untergang einer Familie. Ein Akademiemitglied veranschlagte sogar Manns Essay „Friedrich und die große Koalition“ von 1914 künstlerisch höher als das Romanwerk, das den jungen Hans Castorp aus dem Flachland in die Höhe eines Schweizer Lungensanatoriums führt.
Das Riesenpanorama, das der Autor Kapitel für Kapitel aufbaut, bildet die eine erzählerische Schicht, aber eben noch nicht Komposition und Kunstwerk als Ganzes. Seinen Helden Castorp stattet sein Schöpfer (der ihm ganz zum Schluss sagt: „Du warst simpel“) absichtsvoll nicht mit überragenden Gedanken und Fähigkeiten aus. Er spielt eher die Rolle eines Mediums, das sich dort oben in Davos langsam verändert. Die Betonung liegt auf ‘allmählich‘; Castorp, der eigentlich nur zu einem Kurzbesuch beim kranken Vetter Joachim vorbeischauen will, bleibt schließlich sieben Jahre. Für ihn entfaltet sich oben in der dünnen Luft die Liebe als großes, aber unerfülltes Erlebnis. Schon die Doppelgestalt seiner Leidenschaft, ihr Echoeffekt gehört zu den schönsten literarischen Erfindungen in deutscher Sprache. Denn in Clawdia Chauchat begegnet unser Held einer Frau, die in vielem die Züge eines vor Jahren von ihm heimlich geliebten Mitschülers trägt. Thomas Manns Hauptfigur wirkt in dem Figurentableau noch am wenigsten von allen (auch) komisch, dafür fast alle anderen um so mehr. Hofrat Behrens, die Mexikanerin ALLE-BEIDE, Mynheer Peeperkorn, der humanistische Großsprecher Settembrini, selbst sein düsterer Gegenspieler Naphta – sie entfalten vor allem ihre komische Seite, manche wie Peeperkorn sofort, andere erst nach und nach. Überhaupt nach und nach: Man muss sich unbedingt langsam durch dieses Großwerk lesen. Ansonsten entgeht einem viel von Manns Komik. Und noch etwas anderes. Wie gesagt, die äußeren Ereignisse bilden nur eine Schicht des Romans. Gleich unter der Komik liegt Seite für Seite der Tod. Die Charaktere mit ihren Passionen und lächerlichen Seiten leben in dem Bewusstsein, dass der Zauberberg ihre letzte Station sein könnte. Für viele von ihnen trifft das auch zu. Die Sphären von Komik und Sterben bewegen sich hier gegenläufig und untrennbar, ähnlich wie aus einem Stück geschnittene Contrefait-Kugeln. Erst dieses Kompositionsprinzip macht das Kunstwerk aus, zusammen mit einem zweiten ungeheuren Kunstgriff: Auf den letzten fünf Seiten sprengt Thomas Mann die hermetische Kapsel des Sanatoriums. Er stürzt damit sein ganzes Erzählgebäude um. Nicht, um es zu verwerfen, aber wir sehen es schlagartig aus einer zweiten Perspektive. Dieser kurze, gewaltige Schlussakkord macht den Roman zum Jahrhundertwerk. Denn er erzählt damit von einem Epochenbruch, vom Ende des alten Europas im Jahr 1914. Das erklärt auch die Zurückhaltung, mit der viele Zeitgenossen den „Zauberberg“ bei seiner Premiere beurteilten, nicht nur in Stockholm. Für sie lag der große Traditionsabriss damals gerade zehn Jahre zurück und damit noch viel zu nah, als dass ihn die meisten schon hätten erkennen können. Der gerade knapp fünfzigjährige Romanschöpfer schwebte schon in einer Betrachtungshöhe, auf die fast alle anderen erst noch kommen mussten.
Auch deshalb, weil er gerade aus der Entfernung seine Großartigkeit entfaltet, sollte man den „Zauberberg“ 2024 lesen. Oder wiederlesen.
Thomas Mann, Der Zauberberg, Fischer, 1008 Seiten, 20 Euro
Die Entdeckung der fantastischen Welt, jeden Monat neu – 70 Jahre „Mosaik“, 100 Jahre Hannes Hegen
Bestimmte Namen eignen sich hervorragend, um sehr schnell herauszufinden, ob jemand zu einer bestimmten Zeit im Osten oder Westen aufwuchs. Erwähnt jemand Hannes Hegen, der 2025 seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, dann kommen ältere Ostler ins Erzählen, werfen einander ihre Erinnerungen zu und hören so schnell nicht wieder auf. Den meisten Westdeutschen sagt der Name bis heute nichts. Für das Werk Hannes Hegens – eigentlich Johannes Hegenbarth – gibt es im nächsten Jahr noch zwei andere runde Erinnerungsmarken: Vor 70 Jahren erschien die erste Ausgabe des „Mosaik“, das im Osten fast jeder Junge – es war eine radikale Jungsangelegenheit – Monat für Monat las, wobei ‚lesen‘ nicht ganz ausdrückt, worum es ging: Die allermeisten tauchten in jede neue Folge der genialischen Bildergeschichten ein, reisten zusammen mit den drei Helden Dig, Dag und Digedag um die Welt und durch die Epochen, und wer über etwas anwendungsfähige Phantasie verfügte, spann die Geschichten in den vier langen Wochen bis zur nächsten Ausgabe selbständig weiter. Die Abenteuer der drei kleinwüchsigen Koboldgestalten, weder Kinder noch Erwachsene und keinem Altersprozess unterworfen, legte der Autor als Endlosserie an. Dann endete sie aber doch, nämlich 1975. Es gibt also demnächst auch den fünfzigsten Jahrestag des plötzlichen Digedag-Finales zu betrauern.
Die „Mosaik“-Hefte erschienen im „Verlag Junge Welt“, der zum kommunistischen Jugendverband gehörte. Hegen produzierte sie mit seinen Mitarbeitern allerdings als freier Unternehmer, und zwar ganz nach seinen Vorstellungen. In der DDR gab es neben den Regeln auch immer Ausnahmen. Diese wundersame Geschichte gehörte dazu; Staat und Partei tasteten die Stellung des privatkapitalistischen Sonderlings nie an. Sie erkannten, dass er etwas Außerordentliches schuf: eine Comicserie, die in ihrem erzählerischen Sog und der zeichnerischen Qualität beispielsweise Hergés schon ziemlich gute Tintin-Serie noch weit überragte. Dazu kam bei Hegen ein bewundernswertes Maß an historischer Bildung, Detailkenntnis und Lust an der Darstellung, egal, ob seine drei Helden am Hof des Sultans von Bagdad gastierten, mit Ritter Runkel von Rübenstein durch das mittelalterliche Europa bis nach Venedig zogen oder auf dem Mississippi-Raddampfer durch die USA der Bürgerkriegszeit schipperten. An Hegens präzisem Vogelperspektivblick auf den Canale Grande beispielsweise kann sich ein Venedig-Tourist problemlos orientieren. Mehrere Generationen von Ostdeutschen (auch der Autor) sammelten ihr Weltwissen ganz nebenbei in den „Mosaik“-Heften auf. Das fiel besonders leicht, denn ihr Erfinder verband die Bildung mit Witz und ganzen Kaskaden fantastischer Einfälle (man denke nur an ihr aus Orientteppichen zusammengebautes Luftschiff, mit dem sie über Bagdad fliegen). Der Maler Neo Rauch bezog die Anregungen für seine frühen Zeichnungen aus Hegens Bildern; in einigen Arbeiten Rauchs lassen sich kleine Referenzen an die Comicserie entdecken.
Angesichts der riesigen Popularität des „Mosaik“ wünschten sich die Funktionäre, Hegen möge in seiner Wundermischung auch ein bisschen sozialistische Didaktik untermengen. Ganz unauffällig, nur eine Prise. Der Unternehmer weigerte sich, er wusste genau, dass seine Leser die Hefte gerade deshalb liebten, weil sie ihnen eine große propagandafreie Welt öffneten. Seine Digedags reisten nicht nach Petrograd, um dort bei der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 mitzuhelfen, sondern konsequent süd- oder westwärts. Irgendwann wollte sich der Zeichner die ständige Quengelei von FDJ-und SED-Leuten nicht mehr anhören. Er kündigte Ende 1974 zu 1975 seinen Vertrag mit dem Verlag Junge Welt. Interessanterweise tastete der Staat auch sein privates Markenrecht an den Digedags nicht an. Die „Mosaik“-Zeichner arbeiteten unter neuer Leitung weiter und produzierten die Bildgeschichten mit drei neuen Figuren, den Abrafaxen. Obwohl sie den Digedags ähnelten, und sich am Grundmuster – die drei reisen durch die Zeit und um die Welt – nichts änderte, erreichte die Nachfolgeserie nie auch nur annähernd den alten Witz und Erfindungsreichtum. Einige „Mosaik“-Leser verschmähten die neue Serie ganz, andere lasen sie weiter, aber ohne Begeisterung. Auch heute lässt sich überall auf Flohmärkten der Qualitätsabriss besichtigen: Wenn dort jemand „Mosaik“-Exemplare anbietet, dann fast immer aus der Abrafax-Reihe. Die Originale aus der Ära vor 1975 gibt es nur extrem selten zu kaufen – und wenn, dann zu saftigen Preisen.
Für einen Bruchteil dieses Geldes lassen sich Bände erwerben, die große „Mosaik“-Episoden zusammenfassen, etwa „Die Digedags in Amerika“. Leser von damals können noch einmal in ihre Erlebnisse zwischen Zehn und Fünfzehn eintauchen, viele westdeutsche Comic-Liebhaber eine große Entdeckung machen. Nur die Spannung von einem Heft zum nächsten, die man damals aushalten musste, die Schulhofgeschäfte, um an verpasste ältere Ausgaben zu kommen – das bringt uns niemand mehr zurück.
Jürgen Schmid erinnert an das, was im Spiegel-Literaturkanon fehlt
Zur Frankfurter Buchmesse stellte das Hamburger Demokratiesturmgeschütz „Die 100 besten deutschsprachigen Romane der letzten 100 Jahre“ vor. Der „Spiegel-Kanon“ will offenkundig den Literaturbetrieb weitgehend feminisieren, wenn er für die letzten zwanzig Romanjahrgänge 17 Schriftstellerinnen nominiert. Bereits im Herbst 2019 avancierte „Frauenlesen“ neben der Klimahysterie zum Lieblingskind des wohlmeinenden Medienmilieus; in diesem Zug verkündete SZ-Kolumnist Till Raether, ein Jahr lang alle Romane von Muriel Spark zu lesen, um der Unterrepräsentation schreibender Frauen im Patriarchat entgegenzutreten. Nun liest ein halbwegs normaler Mensch Literatur nicht, um einen korrekten Geschlechterproporz herzustellen, sondern nach den Kriterien sprachlicher Qualität, Dringlichkeit des Dargestellten und Repräsentativität des Stoffes für seine Zeit. Meine diesjährigen Weihnachtsempfehlungen für Publico-Leser sind daher ein Reparaturversuch an blinden Flecken in der Auswahl von Spiegel-Redakteuren (zwei Männer), die gegen die toxische Männerwelt ankanonisieren.
Eine starke katholische Stimme
Im Kulturkampf, der eine besonders aggressive Speerspitze ausgebildet hat gegen die katholische Kirche und das, was an ihr noch traditionell ist, lässt das linksliberale Milieu alles rechts liegen, was eine nicht-denunziatorische Sicht auf dieses Glaubensgebäude zeichnet – wie diese Autorin, die 1971 hochbetagt im Allgäu starb:
Gertrud von le Fort, Gutsbesitzerstochter aus hugenottischem Adel, in der Mitte ihres Lebens zum Katholizismus konvertierte Protestantin, Zentralgestalt katholischer Erneuerung, deren Werk die „Bewährung der christlichen Persönlichkeit in einer säkularisierten Welt“ umkreist, auch und gerade in ihrem Konversionsroman „Das Schweißtuch der Veronika“ (1928). Letzte Neuauflage 1991 bei dtv, in großer Auswahl antiquarisch verfügbar. Im Buchhandel dagegen: Le Forts „Hymnen an die Kirche“ (1924, bei Echter), eine mystische Dichtung, wie sie im Hier und Jetzt fremder nicht sein könnte.
Gertrud von le Fort, Hymnen an die Kirche, Echter, 144 Seiten, 7,26 Euro
Schwimmen gegen Ströme; Mut, der kostet
Monika Maron, Flugasche (1981) – meinungsstark und unbeirrbar, damit anstößig für das Establishment in zwei deutschen Staaten, die sich demokratisch nennen. Ihr erster Roman „Flugasche“, in der DDR unerwünscht, bricht ein damaliges Tabu: industrielle Umweltzerstörung, über die im Arbeiter- und Bauernparadies nicht gesprochen werden durfte. Zugleich eine fulminante Kritik des Medienbetriebs. – Nach Rauswurf bei S. Fischer nun bei Hoffmann und Campe.
Monika Maron, Flugasche, Hoffmann und Campe, 256 Seiten, 24 Euro
Juli Zeh, Corpus Delicti (2009) – Hygienestaatsdystopie vor Etablierung des realen Hygienestaats im Zeichen von Corona, Schullektüre noch in Zeiten von Lockdown, Ausgangssperren und Impfdiktat. Eine gespenstische Vorwegnahme dessen, was nie hätte passieren dürfen, und das aus der Feder einer Juristin, die immer gerne aneckt, mit abweichenden Meinungen zu Freiheitseinschränkungen im Kampf gegen den Terror oder in der Ukrainekriegsfrage, aber dabei (meist mit Erfolg) versucht, sich im Kanon der medial zustimmungsfähigen Meinungen zu halten.
Juli Zeh, Corpus Delicti: Ein Prozess, btb Verlag, 272 Seiten, 11 Euro
Das Leben der Vielen, von Menschen auf dem Land und Bauern, die es (fast) nicht mehr gibt
Zugegeben: Anspruchsvolles über Land- und Bauernleben aus der Nachkriegszeit zu finden, als ein sogenannter „Strukturwandel“ alle Landwirtschaft mit menschlichem Maß zerstörte, ist – von der überbordenden Heimatromansparte abgesehen – nicht ganz leicht. Aber es gibt die guten Bücher, die hochwertig darstellen, was Wohlmeinende nur noch denunzieren, vor allem dann, wenn Landwirte auf politisch unwillkommene Weise für ihre Interessen demonstrieren.
Anna Wimschneider, Herbstmilch (1984) – Bauernleben in der beginnenden Moderne, aus erster Hand. Eine Lebensgeschichte, die anmutet, als spiele sie in längst vergangenen Epochen, dabei war das, was die Niederbayerin erzählt, zur Zeit der Erstausgabe vielfach noch gelebte Wirklichkeit. Hier trifft der Spiegel – obgleich sein Kanon das Buch nicht führt – das Richtige: „Frank und frei“ erzähle die Bäuerin, „ohne Klischees und Seufzerbrücken“.
Anna Wimschneider, Herbstmilch, Piper Taschenbuch, 160 Seiten, 1,33 Euro
Ruth Rehmann, Die Schwaigerin (1987) – Während Rehmanns Abrechnung mit ihrem Vater moralisch überheblich wirkt, erweist sich die Gruppe 47-Autorin in ihrem Lebensbild einer Bäuerin als einfühlsame Beobachterin eines Menschenlebens, das aus Müh’ und Arbeit besteht, und ohne Klage getragen wird. Zuletzt erschienen 2005 bei dtv, heute nur noch antiquarisch erwerbbar.
Ruth Rehmann, Die Schwaigerin, Carl Hanser, 224 Seiten, 2,51 Euro
Dörte Hansen, Altes Land (2015) – erzählt von einer Zeit, wo der Bauer schon nicht mehr selbstverständlich dazugehört zum Dorf und sein Tun Kritik auf sich zieht; wo Frauen emanzipiert leben, aber nicht im handelsüblichen Sinn; wo ein Kriegsheimkehrerschicksal zutiefst berührend und die Härte eines Heimatvertriebenenloses geschildert wird (eine der irrwitzigsten Fehlstellen im „Spiegel-Kanon“, dessen Auswahl suggeriert, deutsche Ostgebiete hätten nie existiert, Flucht und Vertreibung von 14 Millionen Menschen hätten nicht stattgefunden).
Dörte Hansen, Altes Land, Albrecht Knaus Verlag, 288 Seiten, 14 Euro
Es dürfte sich lohnen, dem qualitätsmedialen Wüten, das bei erneutem Aufflammen der Bauernproteste wieder zu erwarten ist, eine authentische Sicht aufs Landleben entgegenzuhalten – besonders in Hinblick auf das Gedenkjahr „500 Jahre Bauernkrieg“ 2025.
Günther Scholdts Geschenktipp: Letzte Bahnfahrt durch Deutschland
Gern nenne ich als Geschenkanregung den Schriftsteller Volker Mohr, der abseits von Mainstream-Aufmerksamkeit im sympathischen Nischenverlag Loco (Schaffhausen) seit Jahrzehnten reizvolle Erzählwelten formt. Seine Bücher charakterisiert ein antitotalitärer Grundzug, den die Corona-Panhysterie politisch zuspitzte („Unter Menschen“, 2021). Zum Kennenlernen des Autors empfehle ich jedoch ein noch lieferbares Werk, das bereits 2017 erschien: „Die letzte Fahrt“. Es handelt sich um ein Plädoyer zum Ausstieg aus unserer bedrückenden Mentalität und eine Deutschland-Allegorie zugleich. Nicht nur, weil sie unfreiwillig auch noch eine realsatirische Pointe besitzt zum Thema: „Travelling with Deutsche Bahn“.
Volker Mohr, Die letzte Fahrt, Loco, 105 Seiten, 17 Euro
Volker Mohr, Unter Menschen, Loco, 133 Seiten, 19,40 Euro
Bernd Zeller empfiehlt den besten Maler
Das ist jetzt nicht ganz billig und schwankt sogar im Preis, weil die kleinformatigen Ölbilder von Deutschlands bestem Maler Edward Gordon versteigert werden, aber man bezahlt in Euro und kann in fünfzig Jahren bei Bares für Rares das Zwölffache dafür kriegen, und zwar inflationsbereinigt. Dennoch wird man es lieber behalten.
Angucken ist aber gratis, zudem geeignet, den Respekt vor dem subventionierten Kulturbetrieb zu verlieren.
Auch die großen Gemälde werfen die Frage auf, wieso im Vergleich zu ihm alle anderen aktuellen Maler farbenblind sind. Sie wirken, als wenn Monet und Hopper zusammen ein Studio hätten.
Wer nicht regelmäßig auf die Seite guckt, verpasst etwas. Und wer sich kein Original leisten kann, dem seien die schönen Bücher mit den Gemälden empfohlen, auch auf der Seite zu finden – sehr geeignete Geschenke für Menschen, die noch Bilder anschauen.
Edward B. Gordon www.gordon.de A Painting A Day: www.gordon.de/blog/
Jan Dochhorn rät zu einem Spätwerk, das von Nichtheirat und Dankbarkeit handelt
Der Titel verspricht Geschlechterklischees, und diese Erwartung wird nicht enttäuscht. Es geht ums Heiraten bzw. Gott sei Dank am Ende darum, genau dies zu unterlassen – alles ganz Cis und Hetero. Das muß bei Opern üblicherweise so sein, und man lebt damit gut & gerne, denn es ist für Gaudi gesorgt, in erträglicher Dosis auch für Tiefsinn, etwa wenn der schon etwas vergilbte Kapitän Morosus über das Schicksal des alten Mannes sinniert:
Ein Frost sitzt ihm zutiefst im Blut
Und lähmt den rechten Lebensmut,
Und weil er selber starr und kalt,
Macht er die ganze Umwelt alt.
Er kann nicht munter sein, nicht lachen,
Nicht andre froh und freudig machen –
Nur eins hat er der Jugend vor,
Nur eins, mein Kind, kann er allein:
Ein alter Mann kann besser dankbar sein.
Wir haben es hier wohl schon mit dem Spätwerk von Richard Strauss zu tun, aber der wagnerische Musizierpanzer (ein Ausdruck von Strauss) ist noch in voller Aktion; auch ändert sich gefühlt jeden Takt die Tonart. An die Stelle des Expressionistischen ist der Rokoko-Sound getreten. Bayrisch-energisch und im Tiefsten vergnügt erleben wir Strauß ja eigentlich immer; auch Elektra ist nicht depressiv, sondern irgendwie auch gesunde Alpenluft, und hier haben wir das erst recht.
Dankbar nehmen wir zur Kenntnis, daß Strauss seine Libretti gewöhnlich nicht selber schrieb (eine Unart, die Wagner sich leisten konnte, mit der er aber andere Komponisten verdorben hat). Im gegebenen Falle hat er Stefan Zweig engagiert, der sein Geschäft hervorragend verstand. Auf politisch korrekte Einwürfe (Stefan Zweig war Jude) reagierte Strauß mit Sturheit; der Name des Librettisten blieb auf dem Plakat und den Theaterzetteln. Strauss‘ anschließender Rücktritt vom Amt des Präsidenten der Reichsmusikkammer erfolgte aus »gesundheitlichen Gründen«.
Richard Strauss (Komponist); Stefan Zweig (Librettist), Die schweigsame Frau (Oper; Op. 80; 1935), Marek Janowski (Dirigent); Dresden 1996, Warner, 14,99 Euro
Die Redakteurin vom Dienst erinnert an die Leidenschaft, die Leiden schafft
Zu den vielen Verlusten, welche die Neuzeit dem Weibe antut, gehört der Untergang des Liebesbriefs. Feurig ist der Mann mit dem Wort, und so brachte er es ehedem gern zu Papier. So wurde der Liebesbrief aus einer Mitteilung zu einer privaten Gattung der Literatur. Als Frau war man überwiegend Empfänger, wie ja auch sonst. Mit der sukzessiven Einführung des Telephons, des Simsens und Mailens, dem Verschwinden von Handschrift, Papier und demnächst womöglich des Briefboten, blieb nicht bloß die Gattung auf der Strecke, sondern auch ein Juwel des Liebesdienstes, zumal der geht, während jenes bleibt. Davon mag man sich überzeugen in der seit 1975 edierten Korrespondenz zwischen Arthur Schnitzler und Adele Sandrock. Überwiegend aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Sozialgeschichtlich wertvoll darin ist die totale Verkehrung des klassischen Geschlechterverhältnisses. Arthur, einem erotischen Autor von Graden, fällt zu seinem Gefühlszustand wenig Aufwühlendes ein. Die Adressatin soll daraus entnehmen, welch toller Hecht er ist. Witzig, elegant, lässig. Das weiß sie ohnedem, denn ihre Texte beben vor ekstatischer Anbetung und hemmungsloser Offenheit. Sie war die große Tragödin des Wiener Burgtheaters und schwungvoller Sentenzen mächtig, doch auswendig gelernter. Der Stil ihrer persönlichen Auskünfte schleudert alles Bühnentaugliche hinweg, lästige Kothurne. Es sind Protokolle der Verzweiflung der vom coup de foudre Geschlagenen. Sie bettelt, winselt, huldigt, leidet wie ein Tier. Die Formulierungskunst ist schier von der Leine gelassen. Diese Briefe sind wie ein Scheiterhaufen, auf dem, die ihn errichtet, verbrennt. Asche bleibt zurück und Ewigkeit. Den Schwestern zur Nachahmung empfohlen! Der Band ist antiquarisch leicht erhältlich.
Adele Sandrock und Arthur Schnitzler – Geschichte einer Liebe, Fischer Taschenbuch, 1983, 336 Seiten, antiqu. 4,13 Euro
Liebe Leser, Publico erfreut sich einer wachsenden Leserschaft, denn es bietet viel: aufwendige Recherchen – etwa zu den Hintergründen der Potsdam-Wannsee-Geschichte von “Correctiv” – fundierte Medienkritik, wozu auch die kritische Überprüfung von medialen Darstellungen zählt –, Essays zu gesellschaftlichen Themen, außerdem Buchrezensionen und nicht zuletzt den wöchentlichen Cartoon von Bernd Zeller exklusiv für dieses Online-Magazin.
Nicht nur die freiheitliche Ausrichtung unterscheidet Publico von vielen anderen Angeboten. Sondern auch der Umstand, dass dieses kleine, aber wachsende Medium anders als beispielsweise “Correctiv” kein Staatsgeld zugesteckt bekommt. Und auch keine Mittel aus einer Milliardärsstiftung, die beispielsweise das Sturmgeschütz der Postdemokratie in Hamburg erhält.
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Roy
9. Dezember, 2024Für mich alles Volltreffer.