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Aus dem Unwörterbuch der Guten

Die ARD-Tagesschau meldet: „Biodeutsch“ ist „Unwort des Jahres 2024“. Manchen Medienhäusern war dies sogar eine Eilmeldung wert. Eine Chronik der „Unwort“-Kür zeigt: Es geht dabei schon lange nicht mehr um Sprach- sondern im Meinungskritik. Die Jury greift auch häufig zu manipulativen Mitteln

 

von Jürgen Schmid

Das Wort „biodeutsch“, so das Urteil der Jury zum „Unwort 2024“, unterteile „in angeblich ’echte’ Deutsche und in Deutsche zweiter Klasse“ und sei somit „eine Form von Alltagsrassismus“.

Nun steht man als deutscher Beobachter der Sprachentwicklung im Land etwas ratlos vor dieser Wahl, denn man hielt das nun inkriminierte Wort immer für eine Fremdzuschreibung durch Journalisten, die sich bei den Neuen Deutschen Medienmachern und deren Umfeld tummeln. Oder durch diejenigen Regierungsvertreter, die Deutschsein und Heimat „umdeuten“ und „täglich neu aushandeln“ möchten. Der Verdacht, da solle mal wieder den Rechten (also allen, die sich selbst als rechts bezeichnen, plus allen anderen, die nur nicht dem Mainstream folgen, ohne rechts zu sein) etwas untergeschoben werden, womit sie nichts zu tun haben, erhärtet sich bei einer Suche nach den Wurzeln und Verwendern des Wortes „biodeutsch“.

Wikipedia bestätigt die Annahme, wenngleich in etwas gestelzter Sprache: „Der Begriff wurde von Menschen mit Migrationshintergrund als scherzhafte Fremdbeschreibung, später auch als (selbst-)ironische Bezeichnung von und für Menschen ohne Migrationshintergrund verwendet.“ Die Rechten, die der Autor kennt, verwenden das Wort höchstens als empirisches Zitat und/oder in ironischer Absicht, aber nicht zur Ausgrenzung. Ein lupenreines Strohmannargument der Unwort-Jury also, wie eine kurze Begriffsgeschichte zeigt.

 

„Biodeutsch“ – eine Karriere außerhalb des rechten Milieus

Wer hat’s erfunden? Muhsin Omurca, „ein in der Türkei geborener Schwabe“, verwendete den Begriff 1996 in seinem Kabarett „Kanakmän, tags Deutscher, nachts Türke“, und kurz darauf auch in einer Karikatur für die taz: Ein Mann erklärt dort seinem Nachbarn, dieser wäre ein „getürkter Deutscher“, er selbst ein „Bio-Deutscher“. (Dies ist übrigens die Zusammenfassung eines Textes, für den ein Redakteur namens Marcus Golling verantwortlich zeichnet, zusammen „mit dpa“. Und – dies ist nicht vermerkt – vielleicht auch mit KI.) Nachdem der türkischstämmige Grünen-Politiker Cem Özdemir das Spottwort ebenfalls nutzte, machte die türkisch-deutsche Publizistin Hilal Sezgin, wiederum in der taz, ein „Machtspiel“ daraus, das kein Machtspiel sein soll, den Deutschen ohne Hintergründe ihr „Privileg der Etikettenlosen“ wegzunehmen. Sie bekämen nun, so Sezegin, mit der Vorsilbe „bio“ „ein Label verpasst“, das „die meisten Biodeutschen gar nicht mögen“.

Umso mehr verwundert, wie sehr sich nach dem Jury-Urteil alle Qualitätsmedien landauf landab in Empörung überschlugen, weil „biodeutsch“ mittels Kaperung durch „Rechtsradikale und Rassisten“ zum „Hassausdruck“ geworden sei. Auf die Nennung auch nur eines einzigen Belegs für diese Behauptung verzichteten diese Medien durchgängig. Auch der WDR bleibt jeden Quellennachweis für seine apodiktische Feststellung schuldig, der Begriff werde „oft diskriminierend verwendet“. Haften bleiben soll an denen, denen die unbotmäßige Verwendung des Wortes so beleglos wie anklagend zugeschrieben wird der Geruch des Unanständigen. „Rechte Kreise“, so die Kommentare, hätten dafür gesorgt, dass das Wort „in der Gosse gelandet“ sei.

Der inzwischen eingestellte Spiegel-Ableger für FFF-Kids, bento.de, schwang 2017 sicherheitshalber die ganz große Keule: „Ist biodeutsch nur ein anderes Wort für Arier?“ Fragen wird man als Jungredakteur ja schließlich noch dürfen, auch wenn schon damals keine Belege für eine derartige Sinngebung in den Kreisen vorliegen, die damit getroffen werden sollten: AfD und Neue Rechte.

Ebenso wenig erfährt man in all den Unwort 2024-Nachrichten der besorgten Medien, wer das Wort „Biodeutsche“ zuletzt prominent verwendete – der in Berlin lebende iranisch-deutsche Schriftsteller Behzad Karim Khani. Im Januar 2023 reagierte er ausgerechnet auf die Berliner Silvesterkrawalle, ausgeführt von vorwiegend muslimischen Migranten, mit einer Drohgebärde an die „Biodeutschen“ in der Berliner Zeitung: „Integriert euch doch selber!” Zitat: „Wir – Migranten, Ausländer, Menschen mit …, nennen Sie uns, wie Sie wollen“ – „wir werden dieses Land wohl erben.“ Konkret angesprochen werden von Khani die „liebe[n] Biodeutsche[n]“, die „demografisch gesehen“ „weg gehen“: „Sie sterben weg“. Und es sei gut so, meint Khani, wenn die „demografische Struktur Europas nicht mehr zu halten ist“. Niemand hat die Absicht, die Bevölkerung dieses Landes durch Einwanderung massiv zu verändern. Dieses Diktum gilt selbst dann, wenn ein unverdächtiger Zeitzeuge wie Khani es so klar benennt. Er darf das unbehelligt von etwaigen Shitstorms aus der wohlmeinenden Klasse aussprechen, während Thilo Sarrazins einschlägige demographische Berechnungen in selber Sache und mit gleichem Ergebnis bekanntlich unter „Rassismus“ fallen.

Immerhin bewahrt in Sachen Unwort „biodeutsch“ der Merkur aus München mit seinem Kommentator Christian Deutschländer einen halbwegs kühlen Kopf: Die „Kritik an überzogener Wortwahl“ lenke von „notwendigen Diskussionen“ ab und „soll reale Probleme wegdrücken“. Denn es dürfe nicht verdeckt werden, dass Integration zwar „millionenfach geglückt“ sei – „aber auch millionenfach gescheitert“. Weiter meint er: Das „neue Staatsbürgerschaftsrecht“ habe eine „Fehlentwicklung“ verstärkt, welche seit 2015 in einer „unselige[n] Kombination aus Kontrollverlust und ideologischer Großzügigkeit“ entstanden sei und nun mittels einer „harte[n] Innenpolitik“ „wieder rückgängig“ gemacht werden müsse. Kein Tabu dürfe dabei sein, „Doppelstaatlern, die schwer straffällig werden oder sich gegen unsere Demokratie wenden, den deutschen Pass wieder zu entziehen; mit allen Konsequenzen auch fürs Aufenthaltsrecht“. Zwei Gesslerhüte grüßt Deutschländer dann doch: Auch er sieht eine Verhetzung durch „Arier-Anklang“ in dem Begriff, und baut in seinen Text die Formel von „unserem bunte[n] Land“ ein. Ohne diese Rückversicherungen kommt ein semikritischer Text offenbar nicht aus.

 

„Heizungsverbot“ – kein Unwort, und schon etwas älter

Auf Platz zwei setzte die Unwort-Jury den Begriff „Heizungsverbot“, weil der Begriff „irreführend“ sei und „klimaschützende Maßnahmen diskreditiere“. Der Rezensent dieser Juryentscheidung hört den Begriff zum ersten Mal. Und fragt sich: Wer soll das Wort verwendet haben?

Eine Recherche ergab folgenden Verwender, allerdings schon im März 2023: „Habecks Heizungsverbot“ titelte der Focus zu einem Text über das geplante „Verbot von neuen Öl- und Gaskesseln“. Die Berliner Morgenpost titelte ebenfalls 2023: „Heizungsverbot: Darauf hat sich die Koalition geeinigt“. Wenn hier also jemand das Publikum in die Irre führt, dann zuerst derjenige, der ein Papier beschließt, das tatsächlich das Verbot beispielsweise älterer Gasheizungen enthielt. Also das Bundeskabinett auf Vorlage aus dem Hause Habeck.

Bemerkenswert wirkt die Entscheidung der Jury somit aus zwei Gründen: Erstens ging der medial kreierte Begriff nie in die Umgangssprache ein. Zum zweiten hätte er, da er aus dem Jahr 2023 stammt und danach komplett im Nirgendwo versickerte, in den vorletzten Unwörterjahrgang eingeordnet werden müssen.

 

Ein Tatsachenbefund als Unwort

Zwei Unwort-Spezialjuroren verwahren sich in einem Sondervotum gegen den Befund „importierter Antisemitismus“, weil er „suggeriere, dass Judenhass vor allem mit dem Zuzug von Migranten zu einem Problem geworden sei“. Allerdings wurden Befund und Begriff nicht von rechten Kreisen in Umlauf gebracht, sondern vom Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA) aufgrund eindeutiger Daten der Kriminalstatistiken, und zuvor schon von Abdel-Hakim Ourghi, einem nach Selbstauskunft „in Algerien sozialisierte[m] Muslim“, der in der Neuen Zürcher Zeitung 2021 berichtete: „Wie ich als Muslim zum Antisemiten erzogen wurde“. Es handelt sich somit um keine rechte Diskriminierungstaktik, sondern um eine regierungsamtlich bestätigte Wirklichkeitsbeschreibung.

Selten war eine Unwort-Wahl so durchschaubar dadurch motiviert, dass sie von etwas Unerwünschtem ablenken soll (Muslime als Täter) und gleichzeitig den Antisemitismus-Vorwurf dorthin lenken, wo er im Kampf gegen die Opposition gerade dringend gebraucht wird – nach rechts, somit zur AfD.

Es verwundert dagegen nicht, dass die Unwort-Jury nicht auch „Messergewalt“ auf ihrem Zettel hatte. Denn die Geschichte dieses Wortes zeigt den Weg von der Vertuschung einer Wirklichkeit hin zum Durchbruch eben dieser Realität. Als der AfD-Politiker Gottfried Curio von 2017 an im Bundestag davon gesprochen hatte, dass Masseneinwanderung auch heiße: Messereinwanderung, wurde ihm dies als fremdenfeindlich ausgelegt. Nun bestätigt die vom rot-grünen Berliner Senat eingesetzte Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel seinen Befund: „Nach unseren Zahlen ist die Gewalt in Berlin jung, männlich und hat einen nicht-deutschen Hintergrund. Das gilt auch für Messergewalt“.

Qualitätsmedial wurde das Thema Messergewalt in diesen Stufen und nach langer Verzögerung letztlich beinahe rasant der Wirklichkeit angepasst: Hieß es noch 2022 kontrafaktisch, es gäbe keine reale Zunahme von Messerkriminalität, sondern nur einen erhöhten medialen Fokus darauf; konnte man 2023 plötzlich lesen, die Attacken hätten zwar zugenommen, aber eine ethnische Häufung im Täterprofil sei nicht zu beobachten. Seit Ende 2024 steht fest, was Curio schon lange und Berlins Polizeipräsidentin neuerdings konstatiert: Die Schwurbler und Schwefelabgeordneten hatten mal wieder recht, es gibt erhöhte Messergewalt. Sie lässt sich auch überwiegend einem bestimmten migrantischen Täterkreis zuordnen, der mehrheitlich Vornamen trägt, welche die Polizei eigentlich nicht veröffentlichen darf.

 

Alternative Publikumsjury und die Unwörter der Wirklichkeit

Die Junge Freiheit veranstaltete übrigens eine alternative Unwort-Wahl mit einer Publikumsjury, die folgende Favoriten kürte (von Platz 1 bis 5 absteigend): „Brandmauer“, „demokratische Parteien“, „Selbstbestimmungsgesetz“, „Geheimkonferenz“, „Trusted Flagger“. Alle Begriffe zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der öffentlichen Debatte tatsächlich eine Rolle spielen.*

 

Reigen der Unwörter mit immergleicher Stoßrichtung – rechts

Was Christian Deutschländer vom Merkur aus München schlussfolgert, ist höchst plausibel: „Es ist nun das siebte Jahr in Folge, in dem die Jury emsig Begriffe aus den Bereichen Migration und Klima verunwortet. Ein politisches Weltbild und ein hohes Sendungsbewusstsein sind hinter dieser Sprachnachhilfe zu erkennen. Das ist recht unkreativ. Und es ermüdet.“ Wer einen Blick auf die Unwort-Geschichte wirft, der erkennt ein immer wiederkehrendes Muster. Alles, was bei der Juryentscheidung für 2024 hervorsticht – progressive Schulmeisterei, getarnt als Sprachkritik, Verfälschung von Begriffsgeschichte und von Chronologie – prägt die Unwortfahndung seit mehr als zehn Jahren.

Das letzte Unwort ohne klare Stoßrichtung gegen rechts stammte von Angela Merkel, gekürt 2010: „alternativlos“. Die Jury-Begründung zeigt – im Januar 2025 gelesen – kurz und knapp, warum es dann zum Erstarken einer Partei mit dem Namensbestandteil Alternative kam: „Das Wort suggeriere sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.“ Behauptungen dieser Art seien 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohten, „die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“

Nur wenig später, nämlich 2015, läutete die Kür des Unworts „Gutmensch“ das „Epöchlein“ (Klonovsky) ein, in dem die Jury nicht mehr vom Tugendpfad abwich, um ihren propagandistischen Eifer dann von Jahr zu Jahr zu steigen. Ihre Praxis, eine Begriffsgeschichte zielgerichtet umzuschreiben, begründete sie in dem gleichen Jahr. „Mit dem Vorwurf ‘Gutmensch’, ‘Gutbürger’ oder ‘Gutmenschentum’“, so seinerzeit die Juryherleitung, werde „Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.” Man erinnert sich: Im Jahr der großen Grenzöffnung ging es darum, jeden Kritiker oder auch nur Zweifler der merkelschen Entscheidung abzukanzeln. „Gutmensch“ erklärten die Wortwarte selbstredend zum rechten Begriff. Geprägt und popularisiert wurde das Wort allerdings von linken Autoren und Satirikern, zunächst durch das „Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache“, 1996 veröffentlicht von Klaus Bittermann und Gerhard Henschel, und dann noch einmal durch den unorthodox linken Polemiker Wiglaf Droste mit dem „Wörterbuch des Gutmenschen, Band 2“. Unter „Gutmensch“ verstanden die Verfasser Personen, die nicht mit guten Taten auffallen, sondern dadurch, dass sie andere oft, ausführlich und ungefragt über ihr eigenes Gutsein informieren. Ungefähr so also wie die Bewohner besserer Großstadtviertel, die 2015 „Refugees welcome“-Schilder hochhielten, aber peinlich darauf achteten, dass die Asylbewerberheime nicht in ihrer Nähe entstanden, sondern irgendwo in der Peripherie.

In dem Stil werkelten die Unwort-Juroren weiter: Jeder gewählte Unbegriff spiegelte genau das wider, worüber nach Ansicht der Korrekten nicht gesprochen werden sollte. Die Rede vom „Sozialtourismus“ (2013) mache „gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer“. Mit „Lügenpresse“ (2014) strafte die Jury die Pegida-Bewegung ab, wobei sie gleich den empirischen Politologen Werner Patzelt als „Pegida-Versteher“ mitgeißelte. Im gleichen Jahr wählte übrigens eine andere Jury den Spiegel-Mann Claas Relotius zum „Journalist des Jahres“.

Etwas später folgten fast nur noch Begriffe, die aus Sicht der Befürworter einer grenzenlosen Migration die Stigmatisierung verdienten: „Anti-Abschiebe-Industrie“ (2018, als Prägung des CSU-Politikers Alexander Dobrindt), „Rückführungspatenschaften“ (2020, überraschend am Pranger mit einem Zynismusvorwurf: die EU-Kommission. Im gleichen Jahr gab es eine ungewöhnliche Doppelnennung, nämlich „Corona-Diktatur“, laut Jury eine Schöpfung „rechtsextreme[r] Protagonisten, um die Regierung zu „diskreditieren“). „Pushback“ gekürt 2021, „beschönigt einen menschenfeindlichen Prozess“ der Zurückweisung illegaler Flüchtlinge an der Grenze. Das Unwort für 2023, „Remigration“, ein „rechter Kampfbegriff, beschönigende Tarnvokabel und ein die tatsächlichen Absichten verschleiernder Ausdruck“, bezieht sich eindeutig auf die von Correctiv und etlichen verbündeten Medien im Wortsinn auf die Bühne gebrachte „Wannseekonferenz 2.0“ in Potsdam. Schon hier bediente sich die Unwort-Jury einer ähnlichen chronologischen Manipulation wie im Folgejahr. Denn die Öffentlichkeit erfuhr von dem angeblich republikerschütternden Treffen zu Potsdam erst durch den Correctiv-Bericht vom 10. Januar 2024. Vorher kannte kaum jemand den Titel des damals angekündigten Buches von Martin Sellner: „Remigration. Ein Vorschlag“, das er in Potsdam vorstellte. Die wenigsten konnten überhaupt mit dem Namen Martin Sellner etwas anfangen. Seine Bekanntheit verdankte er erst dem Correctiv-Bericht und der Reaktion der deutschen Medien und der Politik, namentlich der später wegen rechtlicher Unhaltbarkeit wieder kassierten Einreisesperre, die Nancy Faeser gegen ihn verhängte. Erst dadurch schaffte es sein Remigrations-Buch auf die Bestsellerliste. Aber immerhin erschien der Correctiv-Text am 10. Januar 2024 gerade noch rechtzeitig, damit die Unwort-Jury den Begriff auswählen und kontrafaktisch in das Jahr 2023 zurückverfrachten konnte. Abgesehen davon sprachen und sprechen Politiker von Olaf Scholz bis Friedrich Merz von „Rückführung“ von Migranten ohne Bleiberecht, was faktisch das Gleiche meint wie Remigration. Scholz kündigte bekanntlich im Oktober 2023 in einem Spiegel-Interview sogar (folgenlos) an, seine Regierung werde „im großen Stil abschieben“.

Wie sich die Unwort-Wahl auch zur Disziplinierung eignet, zeigte sich 2019 am Beispiel der an den Pranger gestellten Rede von einer tatsächlich existierenden „Klimahysterie“, am griffigsten gefasst in Greta Thunbergs Satz: „Ich will, dass Ihr in Panik geratet!“ Mit diesem Wort, belehrten die Juroren, werde „die Klimaschutzbewegung diffamiert“, und zwar von „der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis hin zu AfD-Politikern“. In diesem Kontext stehen bleiben wollte die FAZ offenbar nicht. Heute stehen die klügsten Köpfe für Deutschland, so sie in Frankfurt eine Zeitung herausgeben, auf der anderen Seite, also bei den Richtiginvestierern, Transformatoren und Klimabloggern („Kipppunkt“), nun sogar mit einem hauseigenen „Klimaticker“. Drei Jahre später erwischte es das Wort „Klimaterroristen“ (2022), denn – so suggerierten es damals auch Sticker und Graffiti in allen Großstädten: „Klimaschutz ist kein Verbrechen“. Flughafenbesetzungen durch Mitglieder der „Letzten Generation“ in München und Berlin stellen allerdings sehr wohl Straftaten dar. Und auch in diesem Fall liegt der Begriffsursprung anders als von den Unwortologen suggeriert nicht rechts, sondern wieder einmal genau in der entgegengesetzten Richtung. Die Wendung „Klima-RAF“ prägte der linksradikale Unterstützer der „Letzten Generation“ Tadzio Müller.

Die Journalistin Susanne Gaschke, von der Zeit über die Welt zur NZZ gewandert, merkte ebenda an, die Unwort-Kür betreibe nicht eigentlich Sprachkritik, wie die Juroren vorgeben, sondern macht Politik: Wenn sie die „linke Seite des politischen Spektrums“, das Unworte wie „Covidiot“ oder „Klimaleugner“ prägte, mit Kritik daran verschont, verfestige sie die Deutungshoheit dieses Spektrums. Einen Vorschlag, wie die Unwort-Jury zur Abrüstung im politischen Verbal-Kampf beitragen könnte, unterbreitet die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh: Hätte das Gremium 2019 nicht nur „Klimahysterie“ auf den Index gesetzt, sondern auch das Schlagwort der andersdenkenden Richtung, „Klimaleugner“, wäre das ein Signal gewesen, von beiden Seiten eine sachliche Diskussionsebene einzufordern.

Als Unwort des Jahres 2025 schlägt der Autor schon heute vor: „Unwort“. Auf dass damit dieser Schauprozess, der sich in diesem Jahr endgültig ad absurdum geführt hat, ebenso das Zeitliche segnen möge wie die Faktencheckerei bei Facebook & Co. Dann wären sogar Eilmeldungen in ARD und ZDF ausnahmsweise angemessen.

 

 

*Die Kür des Neologismus und des Ironiebegriffs 2024 durch die Publico-Jury erfolgt in Kürze. Herzlichen Dank an alle Einsender.

 

 


Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.


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  • Fein beobachtet! „Diätenanpassung“ war 1995 die letzte kritische Würdigung, ab 1996 folgten auf die „Rentnerschwemme“ nur mehr ideologische Kampfbegriffe.

  • "Unwort" als Unwort des Jahres ist ein heißer Anwärter auf Platz eins. Mein persönlicher Favorit ist aber "Unseredemokratie".