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Lesezeit, endlich für mich

Weihnachten liegt hinter uns und damit auch die Geschenkezeit. Sollten deshalb die nächsten Buchempfehlungen bis zum Frühjahr warten? Dagegen sprechen viele gute Gründe, nämlich alle langen Winterabende, die erst noch kommen.

Nach Weihnachten ist die Zeit, endlich einmal den Leser zu beschenken, den wir am besten kennen: nämlich uns selbst. Lesezeit, ganz für mich. Publico bespricht den Post-Corona-Roman von Birk Meinhardt, die erhellenden Notizen von Michael Klonovsky, die einzig wahre illustrierte Merkel-Biografie von Bernd Zeller, eine Lyrik-Anthologie der Entdeckungen von Günter Scholdt und Christoph Fackelmann – und ein Buch von Horst G. Herrmann, das 2025 plötzlich wieder hoch aktuell wirkt.

Natürlich lassen sich damit auch andere erfreuen. Aber zuallererst nimmt der eine oder andere hoffentlich ganz egoistisch eins dieser besonderen Geschenke für sich, besonders deshalb, weil sie sich beliebig oft öffnen lassen.

 

 


Irgendwann fing es an, das Zeitalter der Kniefälle

Birk Meinhardt legt mit „Abkehr. Ein Hafttagebuch“ eine literarische Verarbeitung der Corona-Zeit und ihren Folgen vor. Sein Roman geht allerdings weit über einen Zeitkommentar hinaus. Er erzählt die Geschichte einer großen Desillusionierung

In manchen Romanen hält ein großer Einfall alles zusammen. Das trifft auch auf Birk Meinhardts „Abkehr“ zu, die erste literarische Verarbeitung der deutschen Corona-Zeit und der Folgen. Das heißt, sein Buch geht über diese gut vierundzwanzig Monate hinaus, und zwar auf allen Feldern. Auch seine Erfindung, sein Plot, der „Abkehr“ zugrunde liegt, bezieht sich nicht nur auf die Coronajahre. Der Rezensent will nicht verraten, welche tragende Säule den Spannungsbogen der 284 Seiten hält, um den Lesern das Erlebnis nicht zu verderben. Nur so viel: Es geht um eine Maske der besonderen Sorte, erst eine, dann ziemlich viele. Und damit um eine gefährliche Bewegung.
Der Held Erik Werchow, etwa im gleichen Alter wie der Autor, also um die sechzig, sitzt in U-Haft – in einer Neubau-Anstalt mit Ausblick auf die Landschaft – und schreibt seine Gedanken auf. „Ist mir bis heute nicht bekannt gewesen, daß auch hier in der Prärie ein Gefängnis hochgezogen wurde, das dritte im Umland, das vierte? Ich habe keine Ahnung. Ich kann es nur schätzen. Die Zahl der Verurteilten steigt und steigt.“

Prärie? Wo befinden wir uns eigentlich? In einem Deutschland nach der Corona-Zeit, einem Staat, dem der Autor nur kleine dystopische Elemente beimischt. Alles in allem ähnelt er aber mehr der Gegenwart, als dass er sie verfremden würde. Werchow befindet sich zum einen wegen einer bestimmten Aktion im Zusammenhang mit einer Maske in Haft, die Staatsvertreter für subversiv halten, außerdem deshalb, weil er dabei einen Schlagstock mit sich führte, um sich dabei gegen Übergriffe zu schützen. Formal lautet die Beschuldigung gegen ihn: „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, obwohl er darauf besteht, gar keinen Widerstand geleistet zu haben.
Das würde auch nicht zu ihm passen. Unser Held benutzt seinen Zwangsaufenthalt, um sich beim Schreiben selbst zu ordnen. Er hält zum einen fest, was ihm in der Haft widerfährt, vor allem aber schreibt er seine Biografie. So entsteht nach und nach das Bild eines Menschen, der zur Anpassung an seine jeweilige Umgebung neigt, und wenn nicht zur Anpassung, dann eher zum stillen Beiseitetreten. Warum er dann doch etwas tut, was ihm eigentlich gar nicht entspricht, und was ihn schließlich in die Zelle bringt, muss Werchow selbst erst einmal begreifen.

Bei Meinhardts Figur handelt es sich um einen Ostdeutschen; in dem Unternehmen, in dem er einmal arbeitete, war er der Einzige aus diesem Gebiet. „Überall gab es damals so einen einzigen Ostler“, lässt der Autor seinen Werchow sagen. Der Staat DDR prägt ihn, zwar nicht unveränderlich für alle Zeiten, aber der Druck hinterlässt seine Spur, die bleibt, auch wenn andere Spuren sie später überlagern. Als Schülerin heftet seine Schwester aus jugendlichem Protest ein Biermann-Gedicht an die Wandzeitung. Von ihm, Erik, verlangt die Schulleitung, sich schriftlich von ihr zu distanzieren. Er tut es, um studieren zu können. Und bekommt die gewünschte Stelle im Außenhandel dank seiner Anpassungsfähigkeit, aber als Einsatzgebiet nur Reiseziele im Ostblock, nicht im Westen – wegen seiner Verwandtschaft zu einer Republikgegnerin, die er nun mal nicht abschütteln kann. Aus dieser Mittelposition gelangt er nach dem Ende der DDR zu der Pharmafirma mit dem schönen Namen Generosis. Deren Geschäftsführer nimmt ihn tatsächlich großzügig auf; Werchow soll für ihn das Marketing im Osten erledigen, gewissermaßen als Exot für das exotische Gebiet. Er fühlt sich in der neuen Welt zwar fremd, aber gleichzeitig auch richtig. Nicht nur in seiner neuen Arbeit, sondern auch in der neuen Gesellschaft und dem westlichen Staat. Von beidem erwartet er, dass sie sich als Gegenteil der Diktatur erweisen würden, die ihn damals in eine bestimmte Form presste. „Ich stand dem hiesigen Staat schon deshalb offen gegenüber, weil man ihn mir so madig gemacht hatte“, notiert der Insasse in sein Gefängnisheft, „einen Riesenbonus hatte er, und nicht trotz, sondern wegen meiner Erziehung.“

Seine Stellung bei Generosis gibt er nach einiger Zeit wieder auf, weil er die Geschäftsmethoden des Medikamentenherstellers für unethisch hält. Aber auch hier rebelliert er nicht. Er weicht aus. Werchow zieht sich auch von der Gesellschaft zurück, zumindest von ihrer offiziellen Seite. Denn, so heißt es ein paar Seiten weiter: „Nun war also ein neues Zeitalter der Kniefälle ausgebrochen! Eine neue Epoche der peinvollen und peinlichen Distanzierungen hatte begonnen.“ Da bettelt eine Politikerin ihre Partei um Nachsicht an, weil ihr das Wort Indianerhäuptling entschlüpft ist (Werchow weiß typischerweise erst einmal gar nicht, weshalb sich Leute darüber aufregen); eine Schauspielerin, die an einem satirischen Video gegen Corona-Maßnahmen mitmachte, inszeniert ihre öffentliche Reue, um im Geschäft zu bleiben. Wissenschaftler ziehen ihre Unterschrift unter einem Aufruf zurück, weil sie die Isolation fürchten. Und das alles ganz ohne Politbüro und Diktator. Es herrschen, das merkt unser Mann erst richtig in seiner Zelle, andere Zeiten. Sie bringen Zustände mit sich, die ihm vertraut vorkommen. Nicht in den Details, aber im Grundmuster. Die Gefängnisleitung (oder irgendeine andere Behörde) verbietet ihm, in der Zelle einen Laptop zu benutzen, während sie anderen Häftlingen Privilegien gestattet. Das sei eben schon immer eine Ermessensentscheidung gewesen, erklärt ihm sein Anwalt. Nur sei es früher üblich gewesen, Untersuchungshäftlingen diese Dinge zuzugestehen, es habe eine informelle Übereinkunft der Beamten mit den Insassen und ihren Anwälten gegeben. Dieses Einvernehmen habe der Staat jetzt einseitig gekündigt. Natürlich auch informell. Es steht nirgends geschrieben.

Die Figur Erik Werchow tritt nicht als Kopie des Autors auf, existiert aber auch nicht ganz losgelöst von ihm. Birk Meinhardt, Jahrgang 1959, kam mit einer Vergangenheit als Sportreporter der Jungen Welt 1992 zur Süddeutschen Zeitung, wo er bald nicht nur über Sportthemen schrieb, sondern große Reportagen lieferte. Offenbar gute Texte; er erhielt mehrere Journalistenpreise, darunter zweimal den Kisch-Preis. Die Entfremdung begann, als das Blatt eine Reportage über die Deutsche Bank nicht drucken wollte, weil der Ressortleiter sie für zu kritisch und naiv hielt. Dabei blieb es nicht, seine Vorgesetzten wendeten auch andere Manuskripte von ihm hin und her und teilten ihm schließlich mit, den Text würden sie nicht veröffentlichen. Darunter eine Recherche zum Fall Ermyas Mulugeta, einem Deutsch-Äthiopier, der 2006 von einem Mann an einer Bushaltestelle mit einem Faustschlag niedergestreckt wurde. Später stellte sich heraus, dass Mulugeta selbst im betrunkenen Zustand einen Streit angezettelt hatte. Damals wollte die politmediale Öffentlichkeit das Ermittlungsergebnis nicht abwarten. Das Ereignis passte perfekt in das Raster vom rassistischen Osten, es gab verurteilende Stellungnahmen von Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern. Folglich konnte es sich nicht um eine banale Schlägerei mit einem schwarzen Opfer handeln, sondern um einen republikerschütternden Skandal, der die Staatsanwaltschaft unter Druck setzte, schleunigst einen Täter zu präsentieren. Der Richter sperrte einen Mann in Untersuchungshaft, gegen den nur dünne Verdachtsmomente sprachen. Aber auch er passte als Rechter ins Schema, es galt der Satz aus Kafkas Prozess: „Die Schuld ist immer zweifellos.“ Später stellte sich heraus, dass der praktisch schon Überführte nichts mit der Sache zu tun hatte. Und dass die Ermittler handfeste Zweifel beiseiteschoben. Meinhardt verfasste keine Anklageschrift. Er wollte den Hysterisierungsmechanismus verstehen, der damals ablief und übrigens danach noch vielfach ablaufen sollte. Die Chefredaktion der Süddeutschen begründete den Nichtabdruck mit dem Satz, an Meinhardts Geschichte sei zwar nichts falsch, aber sie nütze den Falschen. Diesen Satz kannte er noch von früher. Der Journalist, dem hier auch seine Preise nichts mehr nützten, verließ die Zeitung. Seine Geschichte verarbeitete er 2020 in einem Buch, dessen Publikation erst einmal ein gutes Dutzend Verlage ablehnte, bis sich dann doch ein Kleinunternehmen fand.

„Wann hat das angefangen?“, fragt jemand in Meinhardts Buch „Wie ich meine Zeitung verlor.“ Jedenfalls fing irgendwann etwas an, was „Abkehr“ mit anderen Mitteln als Fortsetzung weiterschreibt. Es gibt, wie schon erwähnt, kleine dystopische Einsprengsel in diesem Roman. Beispielsweise stehen in jeder Stadt dieses Deutschlands plötzlich kleine Büdchen mit der Bezeichnung „Democratiny Houses“, durchgestylt von einer Agentur und besetzt mit jungen, einheitlich gekleideten Leuten, dazu angestellt, der Normalbevölkerung die Vorzüge von Unsererdemokratie zu erklären. Weil die Bürger nur sehr verhalten in die Häuser der Schrumpfdemokratie einkehren, bietet der Staat zur Belohnung Gratis-Bockwürste: „Und sie gingen bis auf wenige auch schnell weg, die Bürger mit den Würsten“.

Aber was heißt schon dystopisch? Eine Gruppe von Juristen, die das Verbot der AfD fordert, erklärte kürzlich in ihrem Manifest, sicherlich würden die bisherigen Wähler dieser Partei dann nicht gleich ganz anders denken. Aber der Verbotsakt gebe der Gesellschaft die einmalige Gelegenheit, erzieherisch auf sie einzuwirken. Wir lesen das Buch in einer Zeit, in der ein Mann für 30 Tage im Gefängnis landet, weil der die mecklenburg-vorpommersche Ministerpräsidentin eine „Märchenerzählerin“ nannte. In einer Zeit, in der der Wahlkampfleiter der grünen Partei mit schneidender Stimme Maßnahmen gegen X fordert, einer Zeit, in der ein Staatsanwalt einer uneinsichtigen Seniorin, die wegen eines Meinungsdelikts vor Gericht steht, den Satz sagt: „Das klang jetzt gerade so, als ob Sie die Politik auch weiterhin nicht gutheißen würden”. Auch in „Abkehr“ tritt der Autor nicht als Ankläger auf, schon gar nicht als Angreifer. Sein Werchow wendet sich ab, enttäuscht im Wortsinn. Meinhardt verarbeitet die Corona- und Post-Corona-Zeit literarisch, aber er beschränkt sich nicht auf einen Zeitkommentar in Romanform. Im Gefängnis trifft der Held auf einen Mann namens Genja, der ein merkwürdig altertümliches Deutsch spricht. Das färbt hier und da auch ein wenig auf die Erzählsprache ab. Das schafft eine Distanz zur rein politischen Sphäre. Erik Werchow, die Hauptfigur, führt sein Hafttagebuch nicht als Meinhardts alter ego. Außer vielleicht an einer Stelle:

„Die Demokratie in ihrer hier eingerichteten Spielart, verlor sie mich während der Pandemie endgültig? Es war noch nicht ausgemacht. Manches lag danach noch in ihrer Hand. Alles lag auf der Hand! Wäre sie ein Mensch, hätte man ihr zurufen können, komm schon, beweg deinen Arsch, ist wohl nicht so schwer; wer Milliarden-Euro-Verträge mit Impfherstellern per Handy verhandelt und danach vorgibt, keine Daten mehr zu besitzen, wohin gehört der? Hierher, in U-Haft, wegen dringenden Korruptionsverdachts. Wer Ungeimpfte mit tiefbraunen Worten beschmiert? Soll vor Gericht, wegen Volksverhetzung. Und nicht länger in Talkshows sitzen soll er, und in seinem Amt nicht noch befördert werden, und nicht noch Auszeichnungen empfangen und nicht noch eigene Sendungen bekommen […]; und wer auf Parkbänken sitzenden Bürgern Bußgelder auferlegt? Soll die Gelder zurückzahlen und vielleicht um Entschuldigung bitten, dies alles, dies so Gebotene wie Naheliegende, geschah nur nicht. Im Gegenteil, die Nachschärfungen begannen. Jetzt erst verlor der Westen mich vollständig.“

Welche Alternative gibt es zum Westen? Diese Frage beantwortet das Buch nicht. Vielleicht einfach das, was nach der alten Bundesrepublik kommt, nach dem alten Kontinent der Aufklärung. Am Ende des Romans teilt ein Beamter Werchow mit, er sei entlassen. Weshalb? fragt er. Die Antwort: „Seien Sie froh und gehen Sie einfach.“ Nicht nur er darf raus, sondern auch die meisten anderen: „Höheren Ortes wünscht man, daß hier schnellstmöglich Platz geschaffen wird.“
Für wichtigere Fälle, versteht sich.

 

 

Birk Meinhardt, Abkehr: Ein Hafttagebuch, Vabanque, 284 Seiten, 22 Euro

 


Flaneur im Garten des Irrsinns

Michael Klonovsky liefert in seinem neuesten Acta-Band „Alles für Buntland“ eine Tages-, aber eben mehr noch eine Epochenchronik. Und das, obwohl sie formal nur zwei Jahre umfasst

Seit 2009 notiert der Autor Michael Klonovsky in seiner „Acta diurna“, was ihm am Tages-, Jahres- und Epochengeschehen bemerkenswert erscheint. Von Zeit zu Zeit erscheint ein Destillat daraus in Buchform; das erste für die aus heutiger Sicht idyllische Zeitspanne von 2012 bis 2014. Und wie bei jedem ordentlichen Destillat nimmt das Volumen ab, die Geschmacksnoten bleiben nicht nur erhalten, sondern treten deutlicher hervor. Die Titel der gebundenen Ausgaben bilden jeweils das Motto fürs Ganze, ob nun „Die Liebe in den Zeiten der Lückenpresse“, „Bunt wie ein Niqab“ oder eben jetzt, im neuen Band: „Alles für Buntland“. Daraus spricht eine gewisse Galligkeit. Dieser bittere Akzent verliert sich in der verdichteten Variante nicht völlig, aber er wirkt alles in allem milder, da der Autor in Buchform viele seiner digitalen Tageseinträge überspringt. Was über den Tag hinausgeht, erhält dafür mehr Gewicht. Ziemlich zum Anfang der neuen Ausgabe, im März 2022, schreibt Klonovsky über Friedrich Torbergs „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ und zitiert dabei Marcel Proust: „Aus der Mode gekommen, und das ist das Beste, was sich darüber sagen lässt“. Das trifft auch auf den Autor zu, der auf 442 Seiten etwas Altertümliches und Unmodisches tut („aus der Zeit gefallen“, wie es in der modernen Mediensprache heißt): Er flaniert. Flanieren, das heißt, nicht zu einem bestimmten Punkt zu eilen, sich aber auch nicht ziellos zu bewegen und dadurch etwas nicht schon von vornherein Gesuchtes zu finden. Mit anderen Worten: Es heißt, Entdeckungen zu machen. Dafür gibt es im Deutschen nur eine Umschreibung, im Englischen aber einen Begriff: Serendipity.

In seiner Sammlung erzählt der Diarist von Torbergs Literatur und Leben, er schreibt über Thomas Manns „Doktor Faustus“ und speziell die Unterstellung von verdachtsschöpferischen Germanisten, die darin untergründigen Antisemitismus wittern. In diesem Klonovsky-Band lesen wir einen Text über Alexander Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ und die zahlreichen deutschen Übersetzungen beziehungsweise Übertragungsversuche, die sich dem Geist der Originalverse nur annähern können. Wer immer den „Onegin“ liest oder wieder liest, sollte Michael Klonovskys Notizen dazu als Einführung lesen. Etwas Besseres dazu lässt sich auf Deutsch nirgends finden.

Der Autor führt uns außerdem zu weniger bekannten Namen und Texten, die Aufmerksamkeit verdienen, gerade deshalb, weil die meisten der abnehmenden Medien sie nicht nennen und vor allem nicht in den angemessenen Zeitzusammenhang stellen. Etwa, wenn er seinen Lesern den Aufsatz des Orientalisten Tilman Nagel mit dem nüchternen Titel „Das islamische Pflichtgebet und der Gebetsruf“ nahebringt. Diese Abhandlung, so der Acta-Buchführer, „beschreibt ein Phänomen, das in den offiziellen Politikerreden und Mediendarstellungen nicht vorkommt und das sich bündig auf Begriffe wie existenzielle Fremdheit und lebensweltliche Unvereinbarkeit bringen lässt.“ Nämlich der Unvereinbarkeit zwischen westlicher und idealer islamischer Gesellschaftsvorstellung. Das beginnt, wie er an den Zitaten des Fachmanns zeigt, mit der Gebetspflicht nicht für den Einzelnen, sondern für das Kollektiv, setzt sich fort in der Überlegenheitsbetonung des Islam über alle anderen Glaubensrichtungen im Gebetsruf und mündet in die Überzeugung, „der Islam sei Religion beziehungsweise gottgegebene Daseinsordnung und Staat in einem“ (Nagel). Und zwar eben nicht nur für Muslime (also die, die es schon sind), sondern für alle Menschen weltweit. Der Islam akzeptiert eben keine Glaubensrichtungen. Es gibt nur die eine und einzige.
Nun handelt es sich bei Michael Klonovsky nicht um einen „Islamhasser“ (merkwürdigerweise gibt es in der offiziellen Sprache übrigens nie das Gegenstück eines „Christenhassers“), aber um einen Liebhaber der westlichen Kultur in ihrem prekären Zustand. „Ich bin für freundschaftliche, gutnachbarliche Beziehungen zum Islam“, schreibt der Autor, „aber getrennt durch große, sichere, und, wie Donald Trump sagen würde, schöne Grenzen.“

Wie hängen nun Torberg, Mann, Puschkin und diese Gedanken zusammen? Zum einen durch den Betrachter selbst und seine Sprache. Aber eben auch durch sein Grundthema, seine Zuneigung zur Kultur dieses Erdteils. Kenntnisse, wie er sie besitzt und weitergibt, erwirbt man nur durch große Neigung, durch das Gefühl der Zugehörigkeit, während die erwachten Dekonstrukteure noch so viel Mann, Proust und andere durcharbeiten können – nur verstehen sie dabei eben bloß alter weißer Mann, also Bahnhof. Aus Torbergs Jolesch-Geschichten lässt sich lernen, dass eine eben noch festgefügte Welt, in seinem Fall die kakanische, binnen historisch kürzester Zeit verschwinden und durch etwas Schlechteres ersetzt werden kann.

In diesen großen Bogen fügen sich die kleinen Stücke ein, in denen er beispielsweise eine Erscheinung wie Thomas Haldenwang anhand von Zitaten festhält, einen Inlandsgeheimdienstchef und CDU-Mann, der ‚rechts“ für rundum verwerflich und die Eiferer der ‚Letzten Generation‘ für vorbildlich hält, weswegen sie für seine Behörde kein Beobachtungsziel darstellen, anders als Bürger mit falschen, also staatsdelegitimierenden Ansichten. Darin besteht eben die Pflicht des Chronisten: Wer sich in ein und derselben Zeit mit Figuren befindet, die stellvertretend für bestimmte Entwicklungen stehen, der muss ihr Wirken wohl oder übel dokumentieren. Auch diese nicht besonders angenehme Aufgabe erfüllen nur wenige Autoren. Ohne Gallensaft könnten wir übrigens nicht verdauen. Für bestimmte Brocken braucht es einfach ein gewisses Quantum. Über diesen Abschnitten könnte der Satz stehen, den Karl Kraus einmal als Inserat in seine „Fackel“ drucken ließ: „Größere Gegner gesucht“.

Der Leser kann in Michael Klonovskys neuem Acta-Band ein Zeitpanorama unter einem großen überzeitlichen Bogen betrachten. Er findet sich im Irrgarten der Gegenwart zurecht, weil er sich an den Fixpunkten weiter oben orientiert. Zu guten Chroniken gehörte immer beides.
„Alles für Buntland“ hilft enorm beim Verständnis für die Zeit. Und das schon jetzt, in fünf Jahren bei der Zweitlektüre womöglich noch viel mehr.

 

 

Michael Klonovsky, Alles für Buntland, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, 448 Seiten, 26 Euro

 


 

Internatsleiterin, gepresst und flambiert

Bernd Zeller schreibt eine alternative Weltgeschichte – und schafft damit die wirklich alternativlose Merkel-Biografie

Dass Bernd Zeller über unbekannte Kanäle Quellen anzapft, die Normalexistenzen nicht zur Verfügung stehen, ahnten manche Kenner seiner Zeichnungen schon. Seit seiner alternativen Merkel-Biografie „Frechheit“ kann es jeder seiner Leser wissen. Denn Zellers Band lag schon fix und fertig vor, als in Berlin nur einige wenige Vorabexemplare des Ex-Kanzlerinnenrechenschaftsberichts in die Hände der vertrauenswürdigsten Medienschaffenden gelangten. Mit anderen Worten: Er konnte das Werk der Uckermärkerin nicht kennen, jedenfalls nicht das gedruckte. Trotzdem oder gerade deswegen, jedenfalls dessen ungeachtet trifft Bernd Zeller den Merkelschen Ton und Geist besser als sie selbst. Das liegt zum einen an der Verdichtung des Materials: Während sie 736 Seiten braucht, um möglichst nichts preiszugeben, kommt er auf 68 Seiten zu ihrem Wesenskern, wobei Text und Zeichnungen auch noch etwa im Verhältnis eins zu neun stehen. Bernd Zeller beherrscht den passiv-aggressiven, wichtigtuerischen, kurzschlüssigen und auf Mentalitätsausbeutung optimierten Merkelsprech so perfekt, dass er ihm nur noch ein kleinstes Korn Satire hinzufügen muss. Merkels kommentierter Terminkalender verhält sich also zu Bernd Zellers Weiterverarbeitung ungefähr so wie ein Fasan zu dem Faisan de presse, den Gustav Horcher ehemals in Berlin servierte. Zu dessen Methode gehörte es, den gegarten Vogel mitsamt seiner Knochen durch die Presse zu jagen und das Substrat anschließend anzuzünden, also zu flambieren.

Bei Zeller schreibt eine Angela-Merkel-Figur nicht nur ihren Lebenslauf, sondern Weltgeschichte. Und das im Wortsinn, denn bei ihm beginnt alles mit ihr. Beziehungsweise: Sie denkt und kommentiert alles vom Anfang her, wobei sie Niederlagen durchaus freimütig einräumt. „Für den Ausstieg aus dem Feuer fand sich keine Mehrheit“, schreibt sie über ihr Wirken in der Urzeit: „Was das Verbrennen für die Weltdurchschnittslufttemperatur bedeuten würde, habe auch ich nicht in aller Konsequenz abgesehen. Dass es sich um eine Hochrisikotechnologie handelte, war hingegen klar. Ich lernte, dass mehr Geschicklichkeit nötig sein würde, um kühne Handlungen durchzusetzen.“ Wir machen ein paar große Sprünge zum Römischen Reich, um nicht zu viel zu verraten. „Wenn selbsternannte Messiasse unser Römisches Reich angreifen, müssen sie es mit einem starken Römischen Reich zu tun kriegen, diese feste Auffassung konnte ich dem Statthalter vermitteln.“ Bernd Zellers ewige Merkel betätigt sich als nimmermüde Rädchenschmiererin der jeweils bestehenden Ordnung, die einzige Konstante über alle Zeitalter hinweg besteht darin, dass sie mahnt, warnt, immer das kleinere Übel durchsetzt und grundsätzlich den sogenannten Menschen die Zügel straff anzieht. „Die Bewilligung der Druckkostenzuschüsse für den Hexenhammer war auch so ein Kampf, der viel Überzeugungskraft kostete“, lautet etwa ihre Mittelalterbilanz: „Im Großen und Ganzen ist nichts schiefgelaufen. Wer fand, die Inquisition ging schon ziemlich weit, der sollte sich die Gegenfrage gefallen lassen: Glaubst du denn, unter Hexen wäre es besser?“ Natürlich bekommen die jeweiligen Zeitgenossen Noten von ihr, beispielsweise Luther: „Ein Wurf mit dem Tintenfass ist jedenfalls kein Mittel in der theologischen Debatte.“ Wie gesagt: Ihre Kunst, das Vage, Platte und Konforme mit dem Schnippischen zu verbinden, macht Zeller niemand nach – selbst sein Subjekt der Beschreibung nicht.

Wenn sich die überechte Version der Exkanzlerin der Gegenwart nähert, erfährt sie eine Profilschärfung, paradoxerweise dadurch, dass in ihr auch andere historische Figuren aufscheinen. Welche, das kann jeder studieren, der in Zellers Zeichnungen seine raffinierten Zitate historischer Bilder erkennt.

In Schrift und Bild schält sich der merkelsche Nukleus präziser als in sämtlichen anderen Bücher über sie heraus (doch, so etwas wie einen Kern gibt es bei ihr tatsächlich, wenn auch einen sehr speziellen): Sie ist überall dabei, nie für irgendetwas verantwortlich, weiß aber stets, wie die Dinge zu laufen haben oder hätten laufen müssen. Und zwar nirgends besser und schöner als 1949:
„Bei der Aufteilung der Besatzungszonen herrschte keine glückliche Auswahl. Die sowjetische Zone hätte im Westen liegen müssen. Da hätte die DDR funktioniert.“

Das gute Fiktionale zeichnet meist ein schärferes Bild der Realität als ein Sachbuch, von der Zeitung einmal ganz abgesehen. Bernd Zellers „Frechheit“ beantwortet endlich das bisher als unlösbar geltende Rätsel Nummer eins, welche Person Deutschland 16 Jahre lang regierte. Und auch das zweite, warum sie die tiefen Gefühlig- und Gefügigkeitsschichten der Deutschen so erfolgreich anzapfen konnte. Nach all den geschichtlichen Erfahrungen fühlten sich viele Bewohner dieses Landes eben bei einer Art Internatsleiterin gut aufgehoben. Deshalb wählten ja auch nicht ganz wenige einen Hausmeister mit Gedächtnisproblemen zu ihrem Nachfolger.
Zellers Buch ist zwar nicht billiger als das von Angela Merkel, dafür aber deutlich preisgünstiger. Es fördert Erkenntnisse. Laut Amazon werden beide oft zusammen gekauft.

 

Das muss nicht sein. „Frechheit“ ersetzt „Freiheit“ nicht nur vollständig, sondern geht weit darüber hinaus.

 

 

Bernd Zeller, Frechheit: Die alternativlose Autobiografie von Angela Merkel, Solibro, 68 Seiten, 20 Euro

 

 


 

Warum ich nicht den Weg zum Rhein genommen

Günter Scholdt und Christoph Fackelmann legen mit „Eisblumen“ eine Anthologie nonkonformistischer Lyrik im Dritten Reich vor. Der großartige Band bietet viele Entdeckungen

Es gibt umfangreiche Sammlungen der deutschen Exillyrik zwischen 1933 und 1945. Auch zur Staatsdichtung im Dritten Reich gibt es Dokumentationen. Aber kaum etwas zu dem großen Bereich dazwischen, der nichtoffiziellen Lyrik, die in der NS-Zeit in Deutschland entstand. Die Herausgeber Günter Scholdt – als Autor auch tätig für Publico – und Christoph Fackelmann nennen das Gebiet eine „vergessene Literaturlandschaft“. Gibt diese geistige Landschaft genügend Ertrag für eine Anthologie her? Und sprechen diese Gedichte auch noch zu uns? „All diese Fragen lassen sich mit Ja beantworten“, schreiben Scholdt und Fackelmann. „Und daß sie überhaupt gestellt werden, erklärt, warum in letzten Jahrzehnten ein vergleichbarer editorischer Versuch unterblieb.“ Die Sammlung, auf die beide verweisen, die Anthologie „De Profundis“, herausgegeben 1946 von Gunter Groll, liegt in der Tat sehr lange zurück, zum anderen sehr nah an der Entstehungszeit der Verse.

Gottfried Benn, Günter Eich, Gertrud Kolmar, Oskar Loerke, diese Namen kennt jeder, dem Lyrik überhaupt etwas sagt. Aber Gedichte von Werner Bergengruen, Georg Britting, Hans Leifhelm oder Albrecht Haushofer, verfasst zwischen ’33 und ’45, meist heimlich, manche sogar im Gefängnis – sie fanden auch 1945 bestenfalls ein kleines Publikum. Heute, aus dem Abstand von achtzig Jahren, kann man von verschütteter Literatur sprechen. Scholdt und Fackelmann erinnern auch daran, dass etliche Dichter, die Literaturhistoriker der Nachkriegszeit zurechnen, schon im Dritten Reich zu schreiben begannen: Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow, Johannes Bobrowski, Wolfgang Borchert. Bei Borchert findet sich auch vor 1945 schon sein unverkennbarer Ton, das plötzliche Umschlagen des Alltäglichen ins Transzendente, etwa in seinem Gedicht „Zwischen den Schlachten“, das er als Soldat 1944 schrieb:

Manchmal döst man Kleinigkeiten
und das Herz läßt sich verwirren:
Abendglocken hört man läuten
in den Lärm von Kochgeschirren.

Es gibt Dichtung zu entdecken, die auch im großen Abstand bestehen kann, manche großartige Stücke, wie sie nur unter großem Druck entstehen, viele Tonlagen und Facetten, Halbdistanz, Eskapismus, Abwendung von Regime, Widerständigkeit. Die Lebensgeschichte des Geografen Albrecht Haushofer steht beispielhaft für den Weg von einer ambivalenten Haltung zur dezidierten NS-Gegnerschaft. Haushofer, 1903 in München geboren, konnte 1933 eine Dozentur für Geografie in der Hochschule für Politik übernehmen, obwohl er nach der NS-Rassenterminologie als „Vierteljude“ galt. Das lag – diese seltsamen Nischen in der Geschichte des Nationalsozialismus finden sich immer wieder – an der Protektion durch Rudolf Heß, mit dem Haushofers Vater eine Bekanntschaft pflegte. Außenminister Joachim von Ribbentrop holte den Erdkundler Albrecht Haushofer sogar in seinen Stab und betraute ihn mit inoffiziellen diplomatischen Missionen, die ihn unter anderem nach Japan führten. Nach dem Kriegsausbruch 1939 kehrte sich der Wissenschaftler innerlich vom Regime ab. Seine Verbindung zu Heß, die ihn lange schützte, richtete sich im Mai 1941 gegen den Schützling, denn er gehörte zu den wenigen, die vorher über den Englandflug des Führer-Stellvertreters Bescheid wussten. Haushofer kam für mehrere Wochen in Gestapohaft und verlor anschließend seine Stellung. Der Autor knüpfte Kontakte zu Widerstandskreisen; nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 tauchte er unter. Er wusste, dass die Gestapo nach ihm suchen würde. Die spürte ihn in seinem Versteck auf, einem bayerischen Bauernhof. Haushofer kam ins Gefängnis Moabit, wo er an die 80 Sonette verfasste. Eins davon trägt den Titel „Heimat“:

Man hat mich über meine Flucht befragt,
Warum ich nicht den Weg zum Rhein genommen,
Zur nahen Schweiz den jungen Strom durchschwommen,
Bevor man gründlich erst nach mir gejagt.

Ich wollte nicht aus meiner Heimat gehn.
Sie schien mir lange guten Schutz zu gönnen.
Dann hat auch sie mich nicht mehr bergen können.
Ich werde lebend kaum sie wiedersehn.

Doch bleibt es tröstlich, ihrer Berge Mauern
Im Hintergrund von Alm und Hof zu wissen,
Muss ich auch selbst den Hauch der Gipfel missen.

Die silbergrauen Wände werden dauern,
Ob sie der Mensch durchklettert oder flieht,
Bis neues Eis die Felsen rings umzieht.

Diese Heimat sah er tatsächlich nicht wieder. Am 23. April 1945, wenige Tage vor dem Ende des Regimes, erschossen ihn SS-Männer zusammen mit anderen Häftlingen außerhalb des Gefängnisses. Als sein Bruder ihn fand, steckten in Albrecht Haushofers Manteltasche Zettel mit Sonetten.
Scholdt und Fackelmann verdienen einen großen Dank für diese editorische Leistung. Und ihre „Eisblumen“ viele Leser, die sich auf Expedition durch eine wiederentdeckte Landschaft begeben wollen.

 

 

Günter Scholdt (Herausgeber), Christoph Fackelmann (Herausgeber), Ruth Wahlster (Bearbeitung), Eisblumen. Nonkonformistische Lyrik im Dritten Reich. Eine Anthologie, Lepanto, 840 Seiten, 32 Euro

 

 


 

Von Luther zu den Eiferern des unglücklichen Bewusstseins

Der Philosoph Horst G. Herrmann unterzieht die Theologie des Reformators einem kritischen Blick. Aus dem Buch lässt sich lernen, warum die Anklageideologie sich in bestimmten Ländern so erfolgreich ausbreitete: Es gab einen fruchtbaren Boden

Im Moralapostolat: Die Geburt der westlichen Moral aus dem Geist der Reformation“ erschien schon 2017, im Jahr des Reformationsjubiläums. Warum die Besprechung und Empfehlung in Publico acht Jahre später? Weil das Buch von Horst G. Herrmann dabei hilft, ein Phänomen besser zu verstehen, das große Teile der westlichen Welt durchzieht, wobei es in seinem Ursprungsland mittlerweile wieder abklingt und zerfällt wie eine strahlende Substanz: Die Totalmoralisierung des öffentlichen Raums, besser bekannt unter dem Begriff Wokismus. Es fällt auf, dass diese Verdrängung von Abwägung, Rationalität, ja der Politik selbst durch die Moralforderung einer Kaste – eine Forderung gegenüber anderen – sich vor allem in protestantischen Ländern und dort besonders penetrant in den Kirchen festsetzte, während sich katholische Landstriche im Großen und Ganzen resistenter zeigten. Die Erbsündenlehre des Augustinus, argumentiert Herrmann, sei durch Martin Luther nicht etwa abgemildert worden, stattdessen „radikalisierte und potenzierte der Augustinermönch die pessimistischen und juridischen Vorgaben seines Ordensgründers. Luther leerte den Giftbecher des Augustinus bis zur Neige“. Der Gedanke einer möglichen menschlichen Annäherung und Erhebung zu Gott, der Theosis, die im orthodoxen Christentum einen größeren Raum einnimmt, sei durch die Reformation noch einmal kräftig geschrumpft zugunsten der übermächtigen Idee von der Erbsündenlast mit ihrem double bind: Bemüh dich gefälligst, aber du kommst doch nie davon los. Auf diesem Humus wiederum, so der Autor, sei auch auf weltlichem Gebiet die Moralherrschaft gediehen, der „Modus des Urteilens” und Verurteilens“, die „binäre Logik von Einschluss und Ausschluss“. Es ging und geht also darum, nicht nur für Gläubige, wer sündiger ist als man selbst, und wie sich die Annahme der eigenen relativen Vorzüglichkeit durch die öffentliche Ausstellung von Moral untermauern lässt.

Mit sanftem Spott meint der Philosoph Herrmann, ein Autor begehe ja fast intellektuellen Suizid, wenn er sich darauf einlasse, den Protestantismus als Ganzes ins Auge zu fassen (und dann auch noch Schlussfolgerungen für den weltlichen Bereich zu ziehen). Er tut es trotzdem. Mit dem Blick fürs Detail und fürs Ganze erinnert er daran, dass im Christentum des Augustinus zwar die Sündenneigung des Menschen eine mächtige Rolle spielte, die allerdings auch Elemente enthielt, die später verblassten – vor allem der Gedanke der felix culpa, der glücklichen Schuld, die in dem auferstandenen Jesus ihren Erlöser findet. Von dieser glücklichen, weil aufhebbaren Schuld spannt er in seiner Betrachtung den Bogen zu dem „unglücklichen Bewusstsein“ (Hegel) des Neuzeitmenschen, zu dem der moderne Protestantismus ausgezeichnet passt. Zumal dann, wenn zum Moralstreben und der Beurteilung anderer auch noch das Instrument des Verdachts kommt.

Führt ein gerader Weg von Luther zum Wokismus? Nicht ganz; Herrmann weiß gut genug, dass es diese geraden Pfade in der Geschichte ebenso selten gibt wie in der Geistesgeschichte. „Die Geburt der westlichen Moralagenda aus dem Geist der Reformation“, schreibt er, „mag also […] unabsichtlich gewesen sein; sie war nicht Ziel, aber Mittel und eines der Ergebnisse des Reformationsgeschehens.“ Er hält die Entwicklung des „schmerzinduzierten“ Christentums im Mittelalter zu dem „angstverbreitenden“ der Reformation für eine geistige Reduktion, eine Verengung der ursprünglicheren Botschaft. In manchen Teilen handelt es sich sogar um eine direkte Verkehrung. Wer heute beispielsweise evangelischen Würdenträgern bei ihren Klima- und Antifaschismuspredigten zuhört, könnte meinen, das berühmte Bibelwort würde lauten: „Fürchtet euch.“ An einer anderen Stelle ätzt der Autor (ätzen in dem Sinn, um mit scharfen Mitteln blickbehindernde Deckschichten abzutragen): „Die EKD ist eingebetteter Mitstreiter der politischen Klasse im heiligen Krieg gegen die ‚neurechten‘ Feinde des Systems.“

Von den religiösen und schon halb- bis dreiviertelverweltlichten Grundlagen, die er im „Moralapostolat“ skizziert, bedurfte es nur noch einiger weniger Windungen und Verschraubungen, um zu der Lehre der Daueranklage gegen die erbsündige weiße westliche Welt zu gelangen – den Kern des neuen innerweltlichen Erleuchtungsglaubens. Warum sich dessen Herrschaft nun dem Ende neigt, das beantwortet schon dieses Buch von 2017: Diese Weltsicht spendet keinen Trost, weder den angeklagten Sündern noch den Anklägern.
Ganz zu Beginn zitiert Horst G. Herrmann einen Satz Niklas Luhmanns, der vermutlich sehr mit der Sicht des Autors übereinstimmt: „Angesichts der Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen.“

 

 

Horst G. Herrmann, Im Moralapostolat: Die Geburt der westlichen Moral aus dem Geist der Reformation, Manuscriptum, 384 Seiten, 15 Euro

 

 

 

 

 



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