
Es gibt einen zuverlässigen Anzeiger für Themenkonjunkturen in der westlichen Welt: ein mittelständisches Unternehmen mit Sitz in New York, 27 Union Square, das kein Produkt im klassischen Sinn verkauft, aber gute Umsätze verbucht und sich außerdem niemals „Unternehmen“ nennen würde: Die Organisation Avaaz, 2007 gegründet mit einem Startgeld von MoveOn, einer Spendensammelplattform der US-Demokraten und dem Open Society Found von George Soros.
Wann immer ein Thema in den vergangenen achtzehn Jahren das progressive Lager erfasste, verschickte Avaaz dazu Massenmails mit der Ankündigung, eine entsprechende Kampagne zu organisieren, und bat um Spenden. Im Jahr 2016 erklärten die Avaaz-Mitarbeiter, unter dem Motto „Defeat Trump“ eine Werbekampagne gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten zu starten, die nicht unbedingt in Bezug auf das ausgegebene Ziel zum Erfolg führte, aber jedenfalls zu einem soliden Geldstrom. Über lange Zeit lautete das zentrale Avaaz-Thema „Klimawandel“, und das in allen Varianten, von abbrennenden Regenwäldern bis zum bevorstehenden Tod der Bienen und Schmetterlinge in Europa.
Eine typische Avaaz-Nachricht an die Adressen der weltweit angeblich 68 Millionen registrierten Unterstützer las sich so: „Für vier Kontinente sind extreme Hitzewarnungen ausgesprochen und Kanada steht seit Monaten in Flammen. Der Himmel über den USA färbte sich grell-orange, die Bewohnerinnen und Bewohner Pekings suchen Schutz in Kellern, Teile Europas gleichen einem glühenden Ofen und Millionen Menschen verhungern aufgrund einer extremen Dürre in Ostafrika. Und das ist erst der Anfang“.
Gleich darunter konnten die Empfänger per Klick wählen, ob sie ein-, zwei- oder dreimal wöchentlich für „bahnbrechende Gerichtsverfahren“ gegen Ölunternehmen und das „Anheuern der besten Experten“ spenden wollten – wobei die Sendschreiben grundsätzlich niemals Details über die angeblich finanzierten Prozesse, Experten und sonstige Aktivitäten nannten, ebenso wenig wie zu den Überlebenden des europäischen Glutofens und den genauen Standorten der Pekinger Hitzeschutzkeller. Für 2022 verzeichnete Avaaz einen Umsatz von 27,4 Millionen Dollar. Als Gründer und CEO Ricken Patel die Organisation 2021 verließ, betrug sein letztes Jahressalär laut US-Steuerformular 189 296 Dollar, zuzüglich einer Extrazahlung von 59 997 Dollar.
Die einzelnen medial-politischen Erregungswellen der letzten Zeit lassen sich im Avaaz-Archiv in großer Klarheit ablesen: Kampf gegen das Chemieunternehmen Monsanto, Kampf gegen Trump, 2019 vor allem in Westeuropa auch schon der Kampf gegen rechts, ab 2021 fast monothematisch die Verhinderung der Klimahölle durch Massenspenden. Dass alle großen Bewegungen in Konjunkturzyklen auf- und anschließend wieder absteigen, wenn sie auch nie ganz verschwinden, das dürfte niemand besser wissen als die Organisation am Union Square. Hier hängt schließlich der Erfolg ganz und gar davon ab, bloß nicht zu spät von einem abgezehrten Geschäftsfeld zur nächsten großen Sache zu wechseln. Dass „Klimawandel” nicht mehr so zieht wie vor drei Jahren, belegen zum einen die rückläufigen Teilnehmerzahlen bei FFF-Märschen in Deutschland, zum anderen auch der Umstand, dass Greta Thunberg mittlerweile ein im Vergleich zum Klima thematisch eher schmales, aber aufmerksamkeitsökonomisch durchaus ertragreiches Terrain beackert.
Worin besteht nun das nächste ganz große Ding, dem sich Avaaz in den kommenden Jahren widmen will? In einer Mail vom März 2025 teilt Nell Greenberg von Avaaz ihren Anhängern Folgendes mit. Die Beigabe der Lebensfreude kommt nach den Klimatodjahren in der Tat etwas überraschend, das Hauptstück allerdings hätte jeder beliebige X-Leser vermutlich richtig vorausgesagt: Der Kampf gegen den Faschismus löst die Klimatodbewegung unübersehbar nicht nur in Deutschland ab, sondern auch in den USA und anderswo, wobei Deutschland auch diesmal wieder als Hauptreferenzgebiet dient.
Natürlich droht der Faschismus nicht erst jetzt. In dieser Beziehung steht die Uhr gerade in der Bundesrepublik spätestens seit den Endsechzigern konstant auf fünf Sekunden vor zwölf. Das Neue liegt im Aufstieg des seit gut fünfzig Jahren präsenten Themas zum allüberwölbenden Paraplü, unter dem dann alle anderen Subgenres von Rassismus bis Kolonialgeschichte ihren Platz finden, so, wie vorher „Klima“ die solitäre Kuppel bildete, die alles beschirmte, von der Agitation gegen Israel („no climate justice on an stolen land“) bis zum Feldzug gegen das Patriarchat („Männer, die die Welt verbrennen“).
Das, was der britische Autor Douglas Murray in “The strange death of Europe“ („Der Selbstmord Europas“) schon vor Jahren feststellte, gilt mit dem Aufstieg von „Faschismus” zum Hyperwort mindestens des Jahrzehnts jetzt erst recht. „Wenn es um Antifaschismus in weiten Teilen Westeuropas geht“, so Murray, „kommt es zu einem Problem mit Angebot und Nachfrage: Der Bedarf an Faschisten übersteigt das Angebot bei weitem.“ Das gilt schon seit einiger Zeit; allerdings steht das Engagement von Leuten wie jenen bei Avaaz auch nie am Anfang einer neuen Welle; sie kommen ähnlich wie Investmentfonds erst, wenn sie schon eine Weile rollt. Mit diesem Aufstieg verschärft sich der von Murray angesprochene Lieferengpass natürlich extrem. Das lässt sich allerdings auf eine wirklich sehr einfache Weise ausgleichen, nach einer Methode übrigens, die schon bei „Klima“ exzellent funktionierte: maximale Dehnung der Begriffshülle. Schon George Orwell meinte: „Das Wort ‘Faschismus’ hat mittlerweile keine Bedeutung, da es nur so viel heißt wie ‘etwas nicht Wünschenswertes’.”
Mit dieser Definition lässt es sich heute noch zehnmal besser arbeiten als jemals zuvor. Das passende Axiom dazu lautet: Faschismus ist, was die Wohlgesinnten dazu erklären. Wer Fragen stellt oder sogar widerspricht, enttarnt sich sofort als Teil des metafaschistischen Komplexes, wodurch er ihn wiederum vergrößert. Die Faschismusmaschine funktioniert als echtes Perpetuum mobile, weil sie jeden Reibungsverlust mit der Realität vermeidet. Sie rotiert in ihrem ganz eigenen Bedeutungsraum; darin erinnert sie ein bisschen an die berühmte 360-Grad-Mussolini-Büste von Renato Bertelli, die immer das gleiche Bild zeigt, egal aus welcher Perspektive.
Bevor es um die nähere Funktionsweise der vollautomatischen Faschismusmühle und ihre Auswirkungen geht, soll ein kurzer Überblick zeigen, was der F-Begriff mittlerweile alles umfasst.
Vor einigen Monaten setzte die Zeit mit ihrem Beitrag unter der Überschrift: „Rechtsextremismus: Und der Faschismus, der geht so” eine sehr große Klammer, in die Donald Trump, Javier Milei und Viktor Orbán hineinpassten. Das gleiche Blatt prägte in einem anderen Text den Begriff „Marktfaschismus”, und zwar gerade in Bezug auf das libertäre Konzept der so genannten freien Privatstädte, in der Bürger ihre Angelegenheiten weitgehend selbst organisieren.
Für einen anderen Zeit-Redakteur, Jörg Lau, beginnt Faschismus gleich jenseits des gewendeten Friedrich Merz. Vor allem begreift er als early adopter, dass heute jeder Meinungsschaffende, der auf sich hält, das F-Wort in jeden zweiten Artikel und möglichst jeden Tweet einflechten sollte, um in seinem Milieu nicht nachteilig aufzufallen.
Zum breiten Angebot gehört eine „antifaschistische Wirtschaftspolitik”, beworben in der Süddeutschen von einer Expertin namens Isabella Weber (die viel Schulden und viel Staat zur Faschismusbekämpfung für nötig hält).
Ferner der „fossile Faschismus”, zu dem es auch schon das entsprechende Fachbuch gibt. Gleich daneben der „digitale Faschismus“, ein Feld, auf dem schon starke Expertenkonkurrenz herrscht. Zum einen bieten Maik Fielitz und Holger Marcks ihr Konvolut dazu an. Bei Fielitz handelt es sich um einen Referenten am Jenaer „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“, einem Anhängsel der überwiegend staatlich finanzierten „Amadeu Antonio Stiftung“; bisher trat er vor allem mit konkreten Vorschlägen für mehr Internetzensur in die Öffentlichkeit. Mitautor Marcks fungiert als Co-Leiter einer Forschungsstelle innerhalb der vom Bundesfamilienministerium finanzierten Bundesarbeitsgemeinschaft „Gegen Hass im Netz“. Auf ihrem Terrain verhält es sich ganz ähnlich wie im Wirtschaftsleben: Dort helfen mehr Schulden und staatliche Lenkung gegen Faschismus, hier mehr Meinungskontrolle.
Den digitalen Faschismus bearbeitet aber auch ein Simon Strick, unter anderem mit dem Forschungsschwerpunkt „Gender- und Rassismustheorien“, der das Thema 2021 mit seinem Buch „Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus“ ein Jahr später behandelte als das Autorenduo weiter oben. In der Aufmerksamkeitsökonomie geht es nun einmal darum, wer seine Fahne als erster in den jungfräulichen Boden rammt.
Ein paar unverteilte Parzellen gibt es noch, aber nicht allzu viele. Faschismus und Popmusik beispielsweise scheint noch niemand so richtig zu bewirtschaften; zwar findet sich bei der entsprechenden Suche eine Single mit dem Titel „Faschismus in back“ von 2024. Die stammt allerdings von Jan Böhmermann.
Auf der Teilfläche Faschismus und Mode herrscht dagegen schon reger Betrieb, spätestens seit 2024 ein Autor der Süddeutschen meldete: „Die Erkennungszeichen der neuen Rechten sind nicht mehr nur Glatze und Springerstiefel, auch Polohemden, Sneaker und Dackel gehören zur klassisch-faschistischen Ausstattung.“
In der Spiegel-Redaktion, die 2024 Trump, Marine Le Pen und Björn Höcke zusammen mit der Zeile „Wie Faschismus beginnt“ aufs Titelblatt packte, gab es anscheinend das Bedürfnis, sich noch einmal rückzuversichern, ob sich das F-Wort auch wirklich derart schweizermesserhaft anwenden lässt. Dochdoch, auf jeden Fall, versicherte die angefragte Expertin, Österreicherin Natascha Strobl.
Ihr Name kommt manchen Publico-Lesern möglicherweise bekannt vor: Es handelt sich bei ihr um eine der Antifa und anderen linksextremen Organisationen eng verbundene Publizistin, die 2020 in der so genannten Panorama-Affäre als Kronzeugin des ARD-Magazins auftrat, um dem Bundeswehr-Oberstleutnant Marcel Bohnert Verbindungen zum Rechtsradikalismus zu unterstellen. Die Anschuldigungen gegen den Offizier erwiesen sich als völlig haltlos. Das Spiegel-Interview mit Strobl umreißt den Kern des Faschismus-Begriffsgebrauchs ganz gut: Er umfasst eben alles, was bei einer Person wie ihr auf Ablehnung stößt oder auch nur ein vages Störgefühl verursacht. Wer in dem umkämpften Sektor Faschismus plus – also Faschismus und Fossilwirtschaft, Faschismus und Internet, Faschismus und Dackel – nichts bieten kann, dem bleibt nichts anderes übrig, als mangelnden Einfallsreichtum durch Masse wettzumachen. Was bedeutet, das Wort zu platzieren, wo es passt – also praktisch überall und immer.
Der Youtuber Tilo Jung beispielsweise schaffte es als Gast bei „Maischberger”, innerhalb weniger Sekunden dreimal das F-Wort unterzubringen, als er für die Schaffung einer Armee warb, „die sich gegen Faschisten wehren kann” – Putin und Trump –, aber auch gleiche oder sogar größere Ausgaben für die Zurüstung im Kampf gegen die inländischen Faschisten anmahnte. Die in deutschen Städten marschierenden Kalifatsforderer und Hamasfreunde meinte er damit nicht – der Hamas steht er nach eigenem Bekunden freundlich gegenüber, Israel dagegen sieht er als Apartheidstaat. Eine größere Bekanntheit über sein Milieu hinaus erlangte der Grimme-Preisträger Jung, als er auf der Konferenz „re:publica 2024” erklärte, die Aufgabe von Journalisten bestehe nicht darin, zu senden und zu schreiben, was die Bürger wissen wollen, „sondern worüber sie informiert werden sollen”.
Insbesondere bei der Linkspartei ist Faschismus mittlerweile das Wort, das immer mitmuss, beispielsweise beim Gruppenfoto der neuen Fraktion vor dem Reichstag. Ihren Zugewinn verdankt die zwischendurch schon halbtote Kraft vor allem einer Bundestagsrede ihrer Fraktionschefin Heidi Reichinnek, die vom Pult aus das Faschismuslied deklamierte: „Haltet fest zusammen, leistet Widerstand / gegen den Faschismus hier im Land. Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden” etc..
Die Art und Weise, wie die mehrmals umgetaufte SED damit innerhalb kürzester Zeit Wähler mobilisierte, gilt mittlerweile als Goldstandard für das gesamte linke Lager. An der Bewegungshymne fällt zweierlei auf: Erstens unterstellen seine Interpreten, dass der Faschismus schon hier im Land herrscht, jedenfalls teilweise, und sie, die Sänger, sich dagegen im Widerstand befinden. Nur eben nicht im Untergrund und von Häschern verfolgt, sondern auf den zentralen Plätzen des Landes, unter Beteiligung von Polit- und Kulturprominenz und enger Begleitung durch die meisten Medien. Ästhetisch gemahnt das Lied weniger an den Kampf gegen die braune Pest, sondern eher an den Blauen Bock. Es handelt sich eindeutig um eine Schunkelweise, die den Zweck erfüllt, sich gemeinsam in Stimmung zu bringen.
Dass es begrifflich gegen den Faschismus geht statt gegen den Nationalsozialismus, liegt zum einen an dem verständlichen Wunsch der Beteiligten, den Wortbestandteil „Sozialismus“ zu vermeiden. Aber eben nicht nur. Den Unterschied dürften zumindest einige halbbewusst wahrnehmen. Die kürzeste Definition des klassischen Faschismus formulierte Benito Mussolini 1925 in der Mailänder Scala: „Tutto nello Stato, niente al di fuori dello Stato, nulla contro lo Stato”; „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat“. Der italienische Faschismus und seine Ableger verstanden sich als durch und durch konservierende Projekte, korporatistisch, ständisch, natürlich autoritär, um den Staat gegen revolutionäre Veränderungen wie in Sowjetrussland abzusichern. Die (nicht besonders begründete) Angst vor einer „italienischen Oktoberrevolution” brachte Italiens alte Eliten dazu, den ehemals sozialistischen und nun nationalistischen Agitator Mussolini zu unterstützen, der ihnen die Zerschlagung der sozialistischen Bewegungen in Aussicht stellte. Italien blieb Königreich, genauso wie das Rumänien des Diktators Antonescu (in beiden Ländern spielten die Monarchen dann beim Sturz des jeweiligen Führers eine entscheidende Rolle). Francos Herrschaft in Spanien stützte sich auf die Kirche und die traditionellen Honoratioren. Engelbert Dollfuß in seinem kurzlebigen österreichischen Ständestaat konservierte nicht nur, sondern begann sogar eine aggressive Kampagne zur Rekatholisierung der Arbeiterschaft.
Hitlers Nationalsozialismus nahm zwar einige ikonografische Anleihen beim Duce, richtete sich aber auf ein ganz anderes Ziel. Er wollte gerade nicht alte Verhältnisse befestigen, sondern völlig neue schaffen. Nicht der Staat stand für Hitler im Zentrum, sondern die nationalsozialistische Partei, und als deren Führer er selbst. Die Kirche duldete er nur soweit, wie sie sich ihm unterwarf, an den alten kaiserlichen Staat knüpfte er nirgends an. Mit seinem am Ende wichtigsten Vorhaben, der Ermordung der europäischen Juden, beauftragte er in erster Linie nicht staatliche Stellen, sondern eine ins monströse gewachsene Parteigliederung, die SS. In seiner Vorstellung sollte ein rassereines Volk mit äußerster Gewalt ein von Wehrbauern und versklavten Ureinwohnern besiedeltes Gebiet schaffen, das mindestens bis zur Krim reichte („Neugotland”), ostwärts durch eine „ewig blutende Grenze” nur vage abgeschlossen.
In seinem „Spandauer Tagebuch” schildert Albert Speer einen Monolog Hitlers auf dem Obersalzberg unmittelbar vor Beginn des Polenfeldzugs. Es werde viel Blut fließen, erklärte er dort noch vor dem ersten Schuss des Krieges, dem deutschen Volk bliebe nur die Wahl, mit ihm zu siegen oder unterzugehen. Nicht er band sein Schicksal an Staat und Volk, sondern umgekehrt. Nach seinem Willen sollten sich beide ausschließlich an seine Person als einzige Instanz binden. Für das kulturell gewachsene Deutschland kamen aus Hitlers Sicht nur zwei Möglichkeiten in Frage: entweder seine Auflösung in einem historisch vorbildlosen Herrschaftsraum oder sein Untergang im Feuer der Niederlage. Nur eben eins nicht: die Konservierung des 1933 übernommenen Staates. Die zweite Variante besiegelte er am 19. März 1945 mit dem so genannten Nerobefehl, in dem er anordnete, alle noch intakt gebliebenen Einrichtungen und Güter in seinem Machtbereich zu vernichten. Der Staat selbst stellte für ihn genauso wie das Volk keinen Wert an sich dar, sondern nur Mittel zur Erfüllung seiner Pläne. Versagten sie dabei, dann mochten sie eben in den Staub sinken.
Rumäniens Führung sondierte schon ab 1942 bei den Westmächten, ab 1944 auch mit der Sowjetunion. Italien beendete das Bündnis mit Hitler 1943, Franco trat gar nicht erst in den Krieg ein. Nur Hitlers Deutschland setzte den Krieg bis zur totalen Zerstörung fort. Grausame Judenverfolgung gab es auch in Rumänien, in der Spätzeit des italienischen Faschismus drängte der Staat Juden aus ihrer gesellschaftlichen Stellung. Aber den industriellen Massenmord setzte nur Hitler in Gang und beschleunigte ihn gerade im Angesicht der unabwendbaren militärischen Niederlage. Es scheint so, als hätte seine tiefste Absicht darin gelegen, den von ihm gekündigten Bund mit den Deutschen in der reinsten Negativform wieder auferstehen zu lassen: Ihr werdet meinen Namen die nächsten tausend Jahre nicht los. Ohne seine Nachwirkung würden Zwanzigjährige heute nicht glauben, dass sie Hitlers Geist endgültig besiegen, indem sie ein AfD-Verbot fordern und vor CDU-Parteibüros aufmarschieren. Was sie treiben, trägt Züge eines Exorzismus, der natürlich ohne Wirkung bleibt. Deshalb beginnt er ja immer wieder von vorn.
Die allermeisten Beteiligten an der Faschismus-Echolalie können vermutlich nichts Gescheites über den Unterschied zwischen Faschismus und Nationalsozialismus sagen, spüren aber undeutlich, dass beide Begriffe nicht das gleiche meinen. Trump, Musk, Milei, Höcke, Dachshunde und Kitschgesang ernstlich mit dem Menschheitsabgrund des Nationalsozialismus auf einen Nenner zu bringen, davor gibt es offenbar doch eine gewisse Scheu. Mit Faschismus verkauft sich das Gequirl deutlich leichter, da der Platzhalter offenlässt, ob er nun den Nationalsozialismus meint, das Italien Mussolinis und Francos Spanien, eine Mischung aus allem oder sowieso nur ein Geschichtsbild, das aus einem Dutzend irgendwo aufgeschnappter Klingelwörter besteht.
Sehr vielen F-Wortbenutzern scheint jedenfalls eine interessante Pointe zu entgehen. Zum einen bedienen sie sich vermutlich ohne Kenntnis dieser Praxis instinktiv aus der kaderkommunistischen Trickkiste, allem Bekämpfungswürdigen die Formel „Faschismus” ohne Rücksicht auf Sinn und Logik anzupappen. Schon lange bevor die SED den Volksaufstand von 1953 zum „faschistischen Putsch” und die Mauer zum „antifaschistischen Schutzwall” deklarierte, erfand Josef Stalin die Wendung „Sozialfaschismus”, mit der er die SPD der Weimarer Republik zum Hauptfeind der KPD machte. Als sich Jugoslawien nach 1945 Moskau nicht unterwarf, kam der bizarre „Titofaschismus” dazu. Nach diesem Schema F verfahren nun auch die Menschheitsfreunde der Gegenwart. Zum anderen fällt den Betriebsamen die Nähe ihrer eigenen Sprachbilder zum Fundus des klassischen Faschismus nicht einmal in wirklich groben Fällen auf. Das beginnt mit der unentwegten Forderung, jetzt alle Kräfte zu bündeln: Genau das symbolisierte bekanntlich das Liktorenbündel, die Fasces, aus denen sich der Name von Mussolinis Bewegung herleitete. Die Gewalten des Staates sollen einander demnach nicht mehr kontrollieren und in ihrem Einfluss wechselseitig begrenzen, sondern gleichgerichtet und verschnürt wie das Rutenbündel ein Ganzes bilden. Das Beil im Rutenbündel verkörpert die ungebremste staatliche Macht, die aus dem Zusammenschluss erwächst.
Man sollte kein Gleichheitszeichen setzen, wo es nur um Ähnlichkeit geht. Aber wer auf die staatliche Alimentierung dutzender politischer Kampforganisationen schaut, auf die staatsgeldversorgten Meldestellen, auf die seitens der SPD geforderte Staatsfinanzierung zuverlässiger Medien und den Plan der schwarzroten Koalitionäre, das Meinungsstrafrecht so zu verschärfen, dass sich damit politische Konkurrenten erledigen lassen, der muss sich schon blind stellen, um die Nähe zu der Parole „alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat“ zu übersehen, wobei sich heute wie damals der politische Apparat ganz selbstverständlich mit dem Staat gleichsetzt.
Das Unterhaken und Zusammenstehen von fast allen Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Amtskirchen und Verlässlichkeitsmedien – für einen Frank-Walter Steinmeier die Idealform Unsererdemokratie – trägt zumindest Züge der ständisch-korporativen Ordnung, wie sie Dollfuß vorschwebte. Besonders apart wirkt der steinmeiereske „Schulterschluss aller Demokraten”: Der Begriff stammt aus dem Militär, die Ausrichtung an den Schultern der Nebenmänner dient dazu, einen einheitlichen Marschlock zu bilden. Sehr viele Politik- und Medienvertreter befüllen den öffenlichen Raum mit Begriffen, deren Bedeutung und Wurzeln sie nicht kennen. Aber gerade durch ihre intellektuelle Unbekümmertheit geben sie sich als Träger autoritärer Staatsideen zu erkennen, die es vor gut hundert Jahren zumindest in ähnlicher Form schon einmal gab. Kein Mensch mit historischer Minimalbildung käme auf die Idee, „Bündelung aller Kräfte” mit dem „Kampf gegen den Faschismus” zusammenzuspannen. Dass sie so reden, wie sie reden, erleichtert die Auseinandersetzung mit ihnen allerdings enorm.
Der sinnentkleidete und deshalb mit anderen Themen fast beliebig kombinierbare Faschismusbegriff erfüllt in mehrfacher Hinsicht die gleichen Funktionen wie ehemals das Versatzstück „Klima”: Er markiert denjenigen, der ihn benutzt, als Träger moralisch unbezweifelbarer Ansichten, er mobilisiert gerade wegen seiner Beliebigkeit, er lässt sich wie auch „Klima“ hervorragend dazu nutzen, steuergeldfinanzierte Stellen, Forschungsaufträge, öffentliche Präsenz und, siehe Avaaz, sogar privates Geld zu ergattern. Vor allem legitimieren beide einen Ausnahmezustand. Klimatod wie Faschismus teilen das Merkmal, immer vor der Tür und mit einem Fuß schon im Haus zu stehen. Beide markieren absolute Zustände. Um sie im letzten Moment zu verhindern – es ist immer der letzte Moment –, kann keine Staatsausgabe zu klein ausfallen und kein Bündnis zu breit. Im rechtfertigenden Notfall müssen auch Abwägungen und Kritik verstummen und das eine oder andere Bürgerrecht zurückstehen. Und wer die Markierung Klimaleugner oder Faschist erhält, verdient sowieso keine Schonung.
Dass sich Politiker, Vertreter staatsfinanzierter Vorfeldorganisationen und Agendawissenschaftler auf der Barrikade und im Widerstand wähnen, entspringt einem durchaus echten Bedrohungs- und Belagerungsgefühl, und zwar nicht nur in Deutschland. Als Trump der Columbia University kürzlich den Bundeszuschuss in Höhe von 400 Millionen Dollar strich, weil die Hochschule den antisemitischen Krawall auf dem Campus zu lange geduldet und zu wenig für die Sicherheit jüdischer Studenten getan hatte, verursachte er damit ganz andere Schockwellen als mit seinem Erlass, demzufolge Bundesbehörden neuerdings die Existenz von nur zwei biologischen Geschlechtern anerkennen.
Jetzt muss ein immer noch einflussreiches politisch-akademisch-mediales Geflecht nicht nur um seine Deutungshoheit bangen, sondern auch um seinen Zugang zu materiellen Ressourcen. In Deutschland versetzte nichts das progressive Lager so sehr in Wallung wie der Katalog mit 551 Fragen der Union nach der Steuergeldfinanzierung der Staatszivilgesellschaft. Hier bewährte sich aber auch das Allroundfaschismusinstrument hervorragend, als es galt, die Unionsfragen gleich wieder wegzubrandmauern. Unter dem Speckmantel der staatsnahen Faschismusbekämpferei geht es also auch in Zukunft noch kreuzfidel zu.
Diesen Punkt übersieht oder unterschätzt mancher immer noch: die im Gegensatz zu den Sechzigern oder noch früheren Stadien verfügt die mehrfach gewandelte und gehäutete Linke zwar schon seit längerem über institutionelle Macht und kulturelle Dominanz, befindet sich aber zu ihrer tiefen Erschütterung neuerdings in der Defensive. Ihre alten herrschaftskritischen Parolen lassen sich wie auf einem Palimpsest nur noch mühsam entziffern, da längst überschrieben mit einem neuen Text. Der enthält nicht nur die altlinke Idee der staatlichen Wirtschaftslenkung, sondern eben auch die Anbetung des Verfassungsschutzes, das Lob der Hausdurchsuchung und die Feststellung, dass Meinungsfreiheit nicht für alle gelten darf. Zum Gesamtbild gehört allerdings noch etwas mehr, nämlich nicht nur der erfolgreiche Marsch durch die sichtbaren Institutionen. Die neuzeitliche Linke baute auch etwas auf, das es auf der anderen Seite des Spektrums weder unter Strauß noch Adenauer und auch nicht unter Wilhelm II gab: einen tiefen, einen kaum noch überschaubaren Schattenstaat, der auf Knopfdruck politischen Druck liefert, Rechtfertigungslehren produziert und sich wie jedes Gebilde eigengesetzlich ausdehnt. Mit diesem Schattenstaat bildete sich auch eine Art Neoadel heraus, der anders als der historische Adel keinen kulturellen Überschuss wie Loireschlösser und 240teilige Silbergedecke hervorbringt, um derentwillen man den Altvorderen einiges verzeiht. Die einzige Adelseigenschaft dieser neuen Kaste besteht darin, dass sie einen ganz selbstverständlichen Anspruch auf das Geld der Bürger erhebt. Ihre Mitglieder wissen natürlich auch, dass sie ganz buchstäblich vor dem Nichts stünden, sollte der produktive Teil der Gesellschaft ihnen jemals die Zahlungsbereitschaft kündigen. Pötzlich befindet sich dieses Milieu nicht in der gleichen, aber zumindest in einer fernähnlichen Lage wie die alten Privilegienträger nach dem Ersten Weltkrieg, die ihre Rettung in einer autoritären, konservierenden ständischen Ordnung sahen. Die heutigen Linksautoritären greifen nicht bewusst darauf zurück. Aber bestimmte Muster wandern nun einmal durch die Geschichte – und tauchen in neuer Form an überraschenden Stellen auf.
Die Öffentlichkeit muss und wird sich daran gewöhnen, dass es sich bei einem US-Präsidenten, der etwas für den Schutz jüdischer Studenten tut, um einen Faschisten handelt, bei Demonstranten, die im Schein ihrer Handyfackeln am Brandenburger Tor aufmarschieren und dort das Verbot der größten Oppositionspartei fordern, aber ganz klar um Alerta-Antifaschisten; daran, dass ein Milei, der den Staat auf seinen Kern zurückschneidet, wirtschaftsfaschistisch handelt, und eine SPD, die sich Staatsmedien wünscht, damit jeden Fußbreit gegen den Faschismus verteidigen wird (was sie nach eigenem Bekunden schon seit den Zeiten von Kaiser Wilhelm I. tut).
Schließlich handelte es sich auch bei der DDR-Mauer mit ihren Wachtürmen und den Selbstschussanlagen, deren Konstruktionsprinzip übrigens aus dem Dritten Reich stammte, um den betongewordenen Antifaschismus. Und falls demnächst jemand ein Bündel bunter verschnürter Ruten als neues Symbol des Zusammenstehens gegen die Faschisten entwerfen sollte, dürfte das keinen wundern. Noch nicht einmal, wenn Politiker behaupten, die Ausweitung des Meinungsstrafrechts diene der Demokratiestärkung. Moment, zurück – genau so steht es schon im Verhandlungspapier von Union und SPD.
Bei dem Text der Süddeutschen über Polohemd und Dachshund als Erkennungszeichen des ubiquitären Faschisten handelte es sich übrigens um ein Experiment, um herauszufinden, ob wirklich ein Publikum existiert, das jeden Hirnwind schluckt, solange er nur im Faschismusverhinderungsdauerdienst entsteht.
Test bestanden: Es gibt immer noch Abonnenten. Und demnächst mit etwas Glück auch ein bisschen Staatshilfe für das etwas marode Blatt. Wer dann noch den Bezug kündigt, der lässt die Barrikadenkämpfer in ihrer allergrößten Not allein.
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
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Immo Sennewald
31. März, 2025Großer Text, wie immer exzellent recherchiert und bestechend klar in den Argumenten. Danke an Alexander Wendt: Sogar mir sind ein paar fast vergessene Details der europäischen Auftritte von “Faschisten” wieder bewusst geworden. Aber eigentlich hat der DDR- und SED-Erfahrene ja erlebt, welche Ziele sich damit verbinden, wenn Totalitäre den “Antifaschismus” als wirksame Waffe im Kampf um die politische Deutungshoheit nutzen. Und da sehen insbesondere jugendliche Anwender sehr schnell sehr alt aus.
Andreas Hofer
31. März, 2025„ ehemals sozialisischen “ Absicht? Was für eine Feinheit 🙂
Rainer Möller
31. März, 2025Ich proklamiere hiermit den Freiheitsfaschismus als die ultimative Variante des Faschismus. Jeder soll seine eigene Umwelt so weit als möglich nach den eigenen Vorstellungen gestalten dürfen. Das wird die Endphase bzw. der Endkampf sein. (Wann genau hat man eigentlich aufgehört, von “freiheitlicher Demokratie” zu reden?)
Oliver Hoch
31. März, 2025Der populäre Kampfruf unserer ständig widerständigen Unseredemokraten wurde leider nur verkürzt abgedruckt. Tatsächlich lautet er vollständig: ‘Kein Fußbreit dem Faschismus, sondern die ganze Welt!’