Ist der Verfassungsschutz eine Verschwörungstheoriefabrik, die stillgelegt werden muss?
Ja, sagen SZ-Journalist Ronen Steinke und Cicero-Autor Mathias Brodkorb. Das fordert den Vergleich zweier nur scheinbar gleichschwingender Sachbücher heraus – und ihrer unterschiedlichen medialen Resonanz
von Jürgen Schmid
Zwei Bücher über den Verfassungsschutz, welche diese Institution fundamental kritisieren und deren Abschaffung fordern, erschienen im Sommer 2023 beziehungsweise im Frühjahr dieses Jahres. Beide Autoren sind journalistisch tätig; der eine, Ronen Steinke, gehört als promovierter Jurist zur Redaktion der Süddeutschen Zeitung, der andere, Mathias Brodkorb, studierter Philosoph und ehemaliger SPD-Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern, schreibt heute als freier Autor im Monatsmagazin Cicero.
Nun könnte man meinen, beide würden ihr gleichlautendes Ziel in ganz ähnlicher Weise verfolgen, unterscheidbar nur in Ton und Stil: Brodkorb in staatstragendem Duktus und bedächtig formulierend: „Der Verfassungsschutz ist kein Teil der Lösung mehr, sondern selbst ein Teil des Problems. Er gehört abgeschafft.“, Steinke eher boulevardesk: „Weg mit dem Geheimdienst!“
Man könnte sich auch im Glauben wiegen, da müsse sich nun etwas bewegen in der politischen Landschaft: Da fordern zwei informierte Beobachter der Zeitläufte mit guten Argumenten das Ende einer lange als sakrosankt angesehenen Institution (Brodkorb bekennt, selbst „ein glühender Anhänger“ jener Behörde gewesen zu sein, der er nun den Garaus machen will). Die Verfasser setzen damit eine grundlegende Debatte darüber in Gang, wie eine funktionierende Demokratie beschaffen sein soll, was zu ihr gehört und was nicht. Nein, so ist es eben nicht, zumindest nicht in beiden Fällen. Denn während Steinkes Einlassung im medialen Mainstream umfassend beworben wird, schweigt sich derselbe Kreis von Journalisten auch mehr als zwei Monate nach Erscheinen von Brodkorbs Ansage gründlich aus. Und genau hier, beim so unterschiedlichen Medien-Echo, hören die Gemeinsamkeiten von zwei Büchern auf, deren Anliegen auf den ersten Blick so verwechselbar ähnlich klingen. Warum das so ist, will erkundet werden, zunächst anhand der Fülle zustimmender Reaktionen auf das Werk von Ronen Steinke.
Große Mediengala für die Verfassungsschutz-Kritik des SZ-Journalisten Ronen Steinke
Von FAZ bis taz, vom Tagesspiegel über Der Freitag bis zu Die ZEIT, von NDR über SWR bis Deutschlandfunk, alle, wirklich alle hatten den Autor von „Verfassungsschutz“ im heißen Sommer 2023 im Programm, manche gar mehrfach. Sie stimmten seinen Warnrufen meist freudig erregt zu, wie der Berlin Verlag in einer tabellarisch angelegten Darstellung dieser vielen Pressestimmen dokumentiert.
Offizieller Erscheinungstermin war der 29. Juni 2023, bereits am selben Tag bewarb SWR2 am Morgen Buch und Autor. Gemeinsam machten sich Sender und Buchautor Sorgen, dass der Geheimdienst „engagierte Menschen ausspioniere“. Es produziere Schlagzeilen, „dass der Verfassungsschutz die Partei AfD im Visier hat“, woran man sich nicht sonderlich störte. „Doch es würde niemand bemerken, dass auch kleine, harmlose Gruppen und Menschen beobachtet und überwacht würden, wie zum Beispiel Gentrifizierungsgegner*innen oder Klimaaktivist*innen.“ Damit war der Ton für die Rezeption des Buches gesetzt und diejenigen „engagierten Menschen“ benannt, deren demokratische Rechte bedroht seien. Genau dieser Botschaft wegen war SZ-Mann Steinke fortan ein gerne gesehener Gast bei fast allen Qualitätsredaktionen im Land.
Und es ging Schlag auf Schlag: Am 3. Juli 2023 gab es eine Doppelbeschallung von Deutschlandfunk und bei SWR1 Leute. Der Sender aus dem grünen Musterländle machte gleich im Intro klar, in welche Richtung der Marsch für Gerechtigkeit gehen solle: „Sind Klimaproteste wirklich verfassungsfeindlich, und dürfen Protestgruppen abgehört werden?“ Damit bauten Narrativschaffende und Gast in trauter Eintracht ein Potemkinsches Dorf auf. Denn Verfassungsschutzpräsident Haldenwang hatte just zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass er diese „engagierten Menschen“ (Steinke) gar nicht beobachten wolle, sondern als Weckrufer der Demokratie versteht: „Die sagen“, so Haldenwang ohne einen Anflug von Ironie, „hey, Regierung, ihr habt so lange geschlafen. Ihr, Regierung, müsstet jetzt endlich mal was tun.“ Mit ihren Klebeaktionen würden Klimaaktivisten der Demokratie nahezu maximalen „Respekt“ entgegenbringen.
Warum also baut Steinke solch ein Papphüttendorf? Weil er weiß, wie die qualitätsmediale Aufmerksamkeitsmaschinerie funktioniert. Und natürlich zog die Masche: Am 10. Juli 2023 durfte Steinke mit Buch im Gepäck Platz nehmen auf dem roten Sofa von DAS! im NDR Fernsehen. Am 11. Juli 2023 sprach er auf WDR 5 im Format „Neugier genügt“, schwerpunktmäßig wieder über zu Unrecht verfolgte „Klimaaktivist:innen“, (diesmal mit Binnen-Doppelpunkt statt wie beim SWR mit Sternchen). Der Tenor blieb indes derselbe, nun mit einer Einwandvorwegnahme abgepuffert: Obwohl Thomas Haldenwang gesagt habe, „dass es keine Veranlassung gebe, die ‚Letzte Generation’ zu überwachen“, hätte Rechercheur Steinke „Hinweise“, dass der Verfassungsschutz eben doch „daran arbeitet, die Klimabewegung zu infiltrieren“. Welcher Vogel dem SZ-Mann dieses Liedchen wohl gesungen hat, wenn es denn gesungen wurde?
Doch für solche Überlegungen bleibt keine Zeit im sich beschleunigt weiterdrehenden Medienrummelkarussell zu Steinkes Buch: Fünf Tage nach dem WDR bat schon der BR zum Gespräch. Auch in München trieb Knut Cordsen die Frage aller Fragen um, die dem urban-wachen Milieu, in dem er sich bewegt, auf den Nägeln brennt: „Sind Klimaaktivisten Verfassungsfeinde?“ Glücklicherweise konnte dies von seinem Gast in der Manier eines öffentlich-rechtlichen Musterexperten kompetent verneint werden, woran sich die – Gast/Experten und Moderator gleichermaßen empörende Feststellung anschloss: „In Bayern sind Antifaschisten ein ‚Beobachtungsobjekt’“.
In den Wochen nach Erscheinen seines Buches dürfte Steinke den Steinhauser SZ-Tower nur selten von innen gesehen haben, so oft saß er als Gast auf diversen roten Sofas. Haben Sie im Frühjahr 2024 Mathias Brodkorb auf allen Kanälen gesehen und gehört, wie er sein Buch bewirbt, das am 4. März erschienen ist? Mitnichten. Acht Wochen nach Auslieferung von „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ sieht sich der zu Klampen-Verlag genötigt, eine Rezensionsnotiz vom EKZ Bibliotheksservice, einem Dienstleistungsunternehmen für Fachbelange von Bibliotheksangestellten, als „Pressestimme“ zu präsentieren, weil ansonsten kaum ein Rauschen im Blätterwald zu vernehmen ist. Eine sicht- und hörbare Präsenz in Funk und Fernsehen existiert schlicht nicht.
Warum dem so ist, dass zwei Bücher mit scheinbar gleicher Stoßrichtung von den Medien so diametral unterschiedlich behandelt werden? Steinke legt eben sein journalistisches Wort für die Richtigen ein, wie er im hausinternen „Interview“ mit seinem Verlag auf die Frage „Was sind die politischen Ziele des Verfassungsschutzes?“ wortreich bekundet: „Dieser Geheimdienst geht gegen politische Gruppen vor, selbst wenn sie kein einziges Gesetz gebrochen haben – einfach, weil er deren Ausrichtung missbilligt. Da geht es einmal gegen einen 15-jährigen Jungen, der sich in Nordrhein-Westfalen an Klimaprotesten beteiligt hat. Fast noch ein Kind, wird er mit WhatsApp-Nachrichten von einem Verfassungsschutz-Agenten manipuliert. Ein anderes Mal legen die Agenten eine Akte an, weil sich ein Schüler bei der Linkspartei engagiert. Er hatte sich dafür ausgesprochen, Schulnoten abzuschaffen. Ich habe die Akten gesehen.“ Haben Sie den Aufschrei des SZ-Journalisten zum Fall Loretta gehört, wo eine 16-jährige Schülerin, die sich via Twitter zu ihrer Heimat bekannt hatte, außerdem eine Helly-Hansen-Jacke trug (HH!) und deshalb – ebenfalls fast noch ein Kind – mit einer polizeilichen Gefährderansprache überzogen wurde? Und das, obwohl sie sich nicht einmal dafür ausgesprochen hat, Schulnoten abzuschaffen?
Das Verkaufsförderungsgespräch zwischen Verlag und Autor bringt noch deutlicher zutage, wer von Steinke vor Übergriffigkeiten des Verfassungsschutzes in Schutz genommen werden soll und wer eben nicht: „Der Geheimdienst entscheidet, welche politische Gruppe er ins Visier nimmt – und landet mit Vorliebe bei Linken oder anderen, die am Wirtschaftssystem rütteln.“ Von dieser Vorliebe, sich in die Beobachtung linker Wirtschaftssystemrüttler zu verbeißen, weiß Brodkorb auf seinen 250 Seiten Verfassungsschutzkritik nichts. Auch der unbefangene Beobachter der professionellen Beobachter kann sich – besonders in den Wochen nach Bekanntwerden angeblicher Potsdamer Deportationspläne – des Eindrucks nicht erwehren, dass ein großer Teil der Wachsamkeit des Verfassungsschutzes überdeutlich dem „Kampf gegen rechts“ gilt.
Schließlich will der Verlags-Interviewer dann doch noch genau wissen, was alle urban-wachen Zeitgenossen offensichtlich am meisten beschäftigt: „Gerade das Vorgehen gegen Klimaaktivisten beschreiben Sie ausführlich anhand einiger Beispiele.“ Steinke lässt sich nicht lange bitten: „Ja, derzeit läuft es rein praktisch so, dass der Verfassungsschutz auf Klimaaktivsten zeigt und zu ihnen sagt: Eure klimapolitischen Ziele würden es notwendig machen, dass man die Art unseres Wirtschaftens revolutioniert, und das geht uns aber zu weit, das wollen wir nicht dulden. – Ich meine: Das ist sehr, sehr gewagt. Als Demokrat stutzt man da doch ein wenig.“ Haben Sie vom Stutzen des Demokraten Steinke gehört, als es um die Beobachtung Hans-Georg Maaßens ging, der meint, seine demokratiepolitischen Ziele würden es notwendig machen, dass man die Art, wie der Staat mit dem Grundgesetz umgeht, in dem Rahmen wieder herstellt, wie es vor der Corona-Pandemie unstrittig in Geltung war? Der SZ-Journalist machte schon im Sommer 2023 auf seiner Buch-Werbetour klar, er habe für das „prononciert rechtskonservative Weltbild“ Maaßens wenig Verständnis.
Steinke legt keineswegs die liberalen und toleranten Maßstäbe an Weltanschauungen an, die ihm nicht gefallen, wie das der tatsächlich linksliberale Brodkorb in seiner Verfassungsschutz-Kritik tut. Während Brodkorb nach der Maxime verfährt, auch für die Freiheit derer einzutreten, deren Meinung er nicht teilt, ist Steinke von solcherart Toleranz gegenüber Andersdenkenden weit entfernt. Hier, also im Grunde schon ganz am Anfang, trennen sich die Wege der beiden Verfassungsschutzkritiker: Sie definieren die Freiheit, die sie verteidigen wollen, doch sehr unterschiedlich. Brodkorb will jedem seine Meinung belassen, unabhängig von seiner eigenen Haltung dazu, während Steinke penibel die ihm Genehmen ins Töpfchen sortiert, die Ungenehmen hingegen im Einklang mit Regierungsinteressen ins Kröpfchen verbannen will.
Zu Mathias Brodkorbs Buch schweigen die Haltungsstarken
„Eine unzeitgemäße Behörde“, ja gar „eine für die Demokratie unwürdige Institution“ stellt die deutsche Besonderheit des Verfassungsschutzes aus Sicht von Mathias Brodkorb dar. Sie neige im wachsenden Maß dazu, legitime Grundrechtsausübung in „gefährlichen politischen Extremismus“ umzudeuten. Diese Behörde wird von ihm in bislang einzigartig radikaler Weise auf Herz und Nieren geprüft – einzigartig, was den Blickwinkel des politischen Spektrums anlangt, dem er angehört. Die Juristen Josef Schüßlburner („’Verfassungsschutz’. Der Extremismus der politischen Mitte“, 2016) und Thor von Waldstein haben dazu aus neu-rechter Perspektive schon ihre Ansichten dargelegt.
Brodkorb bezieht sich zustimmend auf das Buch „Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik“ (2012), in dem der linksintellektuelle Jurist Horst Meier und sein Co-Autor Claus Leggewie zum Schluss kommen, der Verfassungsschutz verdiene es nicht einmal mehr, „reformiert zu werden“. Der Autor von „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ sieht die Behörde wie Meier und Leggewie als „’Kampfinstrument’ des demokratischen Verfassungsstaates“, als Institution, in die Regierungspolitiker nur allzu gerne den eigentlich von ihnen zu führenden Diskurs mit der Opposition auszulagern geneigt sind, mit einem klaren Auftrag: diesen Diskurs schon im Ansatz zu unterbinden. Brodkorb führt einen Geheimdienst vor, der zu diesen Zwecken „teils“ auf „manipulative Methoden“ zurückgreife, sich einer vielfach höchst unlogischen „Logik des Verdachts“ bediene, immer abwegigere Konstruktionen von „Kontaktschuld“ anfertige und mitunter zu „wahnhafte[n] Schlussfolgerungen“ neige, was den Kritiker zum Fazit führt, die vielbemühte „wehrhafte Demokratie“ verströme in diesem Lichte einen durchaus unangenehmen „Hautgout“.
„Begriffe aus Gummi“ würden vom Verfassungsschutz verwendet, diese Feststellung durchzieht Brodkorbs Studie wie ein roter Faden. Besonders folgenschwer tritt dieses Muster beim Extremismusbegriff zu Tage, für den die Haldenwang-Behörde keine sachlich sinnvolle und juristisch haltbare Definition anzubieten habe, wiewohl sie inflationär damit hantiert. Gleiches gilt auch für den unscharf und widersprüchlich gehandhabten Volksbegriff, mit dem der Verfassungsschutz Positionen im rechten Milieu zum Extremismusbeweis erhebt, die wort- und inhaltsgleich von der Bundesregierung vertreten werden, insbesondere den „ethnischen Volksbegriff“. Bei seiner Einordnung, was als „extremistisch“ und damit gefährlich zu gelten habe, verfährt der Verfassungsschutz, bevorzugt wenn es gegen das rechte Spektrum geht, nach der Devise: Je schwammiger, desto brauchbarer.
Der Verfassungsschutz ist inzwischen eine auf allen Seiten des politischen Spektrums, auch in dessen vermeintlicher bürgerlicher Mitte, längst nicht mehr unumstrittene Institution. Sogar Patrick Bahners bezeichnete sie in der FAZ als „Behörde für Wettbewerbsverzerrung“, weil sie der Regierung darin zuarbeite, die Opposition zu beobachten und gegebenenfalls „zum Verfassungsfeind zu stempeln“. So weit wie Brodkorb geht aber in dem Spektrum, das sich selbst zur Mitte rechnet und/oder so gerne davon redet, linksliberal zu sein, niemand. Sebastian Ostritsch beschreibt in seiner Rezension in Die Tagespost, wiederveröffentlicht auf Tichys Einblick, sehr treffend, worin die besondere Sprengkraft in Brodkorbs Kritikansatz liegt: Er stelle sich „quer zum Gros der Meinungsmacher“, indem er die wirkliche Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat im Verfassungsschutz sehe – und nicht in seinen Beobachtungsobjekten wie der Oppositionspartei AfD.
Im Vorwort legt der Autor und Minister a. D. offen, dass er mit allen Protagonisten von links bis rechts, deren Geschichte er als Fallbeispiele für die von ihm kritisierte Beobachtungspraxis rekonstruiert, gesprochen habe. Auch dankt er „ehemaligen wie aktiven Mitarbeitern deutscher Verfassungsschutzbehörden“ für informative Hintergrundgespräche. Die Kontakte zu diesen Informanten seien „unter teils filmreifen konspirativen Bedingungen“ zustande gekommen. Sie alle, so Brodkorb, seien sich einig, „dass die Erfindung des Beobachtungsobjektes ‚Delegitimierung’ einen verfassungsrechtlichen Skandal darstelle“. Im Kapitel „Der Fall Volkserziehung“ wird diese Praxis gar als „eine rechtsstaatliche Sauerei“ apostrophiert. Einer der „Gesprächspartner mit VS-Hintergrund“ brachte seinen Unmut so zum Ausdruck: „Die Leibwächter drohen zu Geiselnehmern zu werden.“ „Besser“, so Verfassungsschutzkritiker Brodkorb, könne man das Thema seines Buches „kaum auf den Punkt bringen“.
In der Tat klingt ein Beispiel aus Brodkorbs vernichtender Kritik am 2021 etablierten „Sammelbeobachtungsobjekt“ „Delegitimierung des Staates“ (ab S. 170) eher wie eine Parodie aus einem dystopischen Romanszenario als eine ernstzunehmende Äußerung eines Staatsorgans in einem demokratisch verfassten Land. Etwa, wenn eine private Spendensammelinitiative zugunsten von Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal im Verfassungsschutzbericht auftaucht, weil – so die Begründung – durch ihre schiere Existenz der Eindruck entstünde, dass „staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien“. Wer angesichts solcher Exzesse zusammen mit Brodkorb vermutet, der Verfassungsschutz sei auf dem schlechtesten Weg, zum Regierungsschutz zu mutieren, dürfte zwar analytisch richtig liegen, wandert aber in der Logik eben jenes Verfassungsschutzes damit unweigerlich in die Nähe eines Beobachtungsfalles: wegen „verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates“.
„Grenzüberschreitungen“, sogar „rechtsstaatswidrige“, die Verfassungsschutz-Chef Haldenwang stets nur bei missliebigen Meinungsäußerern eines bestimmten Spektrums wie Corona-Maßnahmenkritikern vermutet, werden seiner Behörde von Brodkorb selbst zur Last gelegt – und die beträfen sowohl das Vorgehen gegen „die politische Linke“ als auch die „Rechte“. Das ist ein exorbitant fairer und so wenig einseitiger Umgang mit der gesamten Breite des politischen Spektrums, dass man die Vertreter einer reinen Lehre im „Kampf gegen rechts“ förmlich aufheulen hört ob der angeblich „falschen Balance“ dieses Maßstabs. Es handelt sich schlicht um den Maßstab eines Demokraten.
Brodkorbs Nicht-Blindheit auf dem linken Auge zeigte sich bezeichnenderweise bereits in seinem Projekt „Endstation Rechts“, das sich namens der SPD gegen die NPD wandte. Diese klare Stoßrichtung hinderte den Initiator aber nicht daran, in der Endstation-Dokumentation „Extremistenjäger!?“ (2011) die offen ausgesprochenen „Terror“- und „Erziehungsdiktatur“-Phantasien Herbert Marcuses, einer „Kristallisationsfigur“ der Studentenbewegung, als Bestandteil eines „Totalitarismus der 68er-Bewegung“ zu kritisieren.
Weitreichende Sprengkraft insbesondere mit Blick auf die anstehenden Wahlen des Jahres 2024 – für das EU-Parlament am 9. Juni sowie die weitaus wichtigeren Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September und in Brandenburg drei Wochen später – haben die Kapitel über die beiden auseinanderstrebenden Pole der Denk- und Parteienlandschaft. Der Autor führt als Beispiele den Beobachtungsfall Bodo Ramelow auf, der als „Frühstücksdirektor der Komsomolzen“ verspottet wurde, außerdem den „Fall AfD: Und ewig grüßt der Volksbegriff“. Und er behandelt auch das Beobachtungsobjekt „Schnellroda“, jene neu-rechte Denkfabrik um Götz Kubitschek und das Institut für Staatspolitik, dessen Zeitschrift Sezession und den Verlag Antaios.
Exakt dort, im sachsen-anhaltinischen Schnellroda, setzte die Mainstream-Kritik am Autor ein, bevor dessen Buch überhaupt das Licht des Buchhandels erblickt hat: 2022 besuchte ein recherchierender Journalist namens Mathias Brodkorb das Sommerfest des Instituts für Staatspolitik. Aufgespürt hatte den SPD-Politiker an diesem für Wohlmeinende versiegelten Ort laut NDR 1 Radio „ein antifaschistisches Rechercheportal“, welches „ein Foto des Ex-Ministers veröffentlichte, das ihn in Schnellroda zeigt“. Brodkorb selbst sagte gegenüber dem NDR, „er habe in Schnellroda mit vielen gesprochen und einiges Interessantes erfahren“. Mancher seiner Parteifreunde, vor allem in den Reihen der Jusos, schäumte über vor Wut: „Wer bei den Faschos in der ersten Reihe sitzt, der vertritt nicht unsere Werte“. Mit dieser Twitter-Meldung glaubte die SPD-Jugendorganisation sich von Brodkorb „distanzieren“ zu müssen.
Um seinem Haltungszwang nachzukommen, betonte NDR Radio, nicht näher spezifizierte „Kritiker“ hätten Brodkorb bereits früher vorgeworfen, in seinen politischen Analysen für den Cicero „zu wohlwollend mit rechtsextremen Haltungen umzugehen“. Der so Angegangene ließ sich von den Anwürfen nicht beirren: Er sei in Schnellroda gewesen, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen, teilte Brodkorb mit. Einen Seitenhieb an die Zunft konnte er sich nicht verkneifen: „Im Journalismus nennt man das Recherche, und die sollte ja kommen, bevor man etwas aufschreibt.“
Eine Buchvorstellung als Zeichen der Normalisierung bei Wikipedia?
Jedenfalls legt Mathias Brodkorb ein Buch vor, das es unmittelbar nach seinem Erscheinen zu einem Wikipedia-Eintrag brachte, ein Privileg, das sonst nur Klassikern der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte zukommt. Selten dürfte es zudem in jüngster Zeit der Fall sein, dass ein Autor wie er in diesem Online-Lexikon nicht als „umstritten“ markiert wird. Es waltet wohltuend nüchterne Bilanzierung: Sowohl die Zusammenfassung des Inhalts als auch der Überblick zur Rezeption verzichten auf jegliche normative Wertung. Fast wundersam mutet an, wer unter den Rezensenten alles zu Wort kommen darf, ohne zeitgeistig etikettiert zu werden – die Junge Freiheit etwa wird ohne Adjektiv schlicht und richtig als „Zeitung“ eingeführt.
Allerdings fällt beim Überblick zu den medialen Stimmen über Brodkorbs Buch eines ebenfalls sofort auf: Die etablierten Medien, siehe oben, ignorieren diesen Einwurf weitgehend. Eine fachlich fundierte Besprechung findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung aus der Feder der Juristin und NZZ-Redakteurin Fatina Keilani. Sie empfindet die Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes durch die Bundesregierung als „Richter über politische Meinungen“ „beklemmend“.
Eckhard Jesse, emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz und Doyen der seriösen akademischen Extremismusforschung, mahnt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Verweis auf Brodkorb, „der ausschließliche Blick nach rechts außen“ verdecke allzu oft „die Existenz anderer antidemokratischer Formen“. Zu denken ist dabei an „importierten Antisemitismus“, was zwar BKA-Präsident Holger Münch so benennen darf, vielleicht auch noch der Historiker Michael Wolffsohn, aber nicht die Ethnologin Susanne Schröter, die damit sofort in den Verdacht der „Islamophobie“ gerät.
Einer aus dem „Komplex Schnellroda“ ist der Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser, Autor von „Solidarischer Patriotismus. Die soziale Frage von rechts“ (2020). Er stellt in seiner Besprechung – auf Wikipedia anstandslos zusammengefasst – klar, Brodkorb würde keineswegs aus Sympathie zum neurechten Milieu, dem er, Kaiser, angehöre, eine Lanze brechen für dessen Recht auf Meinungsfreiheit, sondern aus Gründen seines radikal liberalen Standpunktes. Nicht Zuneigung zur AfD oder deren Vorfeld treibe den Verfassungsschutzkritiker an, sondern seine Vorstellung einer Stärkung der freiheitlichen Demokratie.
Im Podcast des Bürgernetzwerks „Ein Prozent“ betont Kaiser auch, wie sehr die Extremismusdefinition in den letzten Jahren aus der Balance geraten sei. Noch Anfang der 2000er Jahre wäre es communis opinio gewesen, dass Extremismus immer dort beginnt, wo nicht nur Ideen, und seien sie noch so radikal und systemstürzend, ventiliert werden, sondern wo diese Radikalität in gewaltsame Umsturzpläne übergeht. Gedanken müssten für Linke wie für Rechte frei sein.
Wie wird sich der FAZ– Großzeitdeuter zu Brodkorb äußern?
Brodkorb ist einer, der aus Sicht der Richtigen und Wohlgesinnten für das falsche Medium schreibt, beim falschen Verlag publiziert, mit den falschen Leuten spricht, von den falschen Leuten rezensiert wird, und zu allem Überdruss auch noch für die Meinungsfreiheit dieser falschen Personen Partei ergreift. Und das, obwohl sich die richtigen Medien so viel Mühe geben, diese Meinung als unsagbar aus dem Diskurs zu verbannen. Und nun stürmt ein waschechter Linksliberaler alten Schlags die zusammengezimmerte Wagenburg all jener sich selbst für linksliberal haltender neuerwachter Narrativschaffender. Kann eine Attacke von solcher Wucht, wie sie Brodkorb reitet, dauerhaft ignoriert werden? Kaum.
Man darf gespannt sein, mit welcher Einschätzung sich der Frankfurter Großzeitdeuter Patrick Bahners zu Brodkorbs Thesen zu Wort melden wird. Schon für seine Besprechung von Steinkes Verfassungsschutz-Kritik hat sich der alles kommentierende FAZ-Redakteur mehr als ein halbes Jahr Zeit gelassen, um seinem Münchner Journalisten-Kollegen Ende Januar 2024 zu attestieren, er zeige „schlüssig“, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz als „Behörde zum Ausspionieren der Opposition“ abgeschafft gehöre. Allerdings stört sich Bahners am Zeitpunkt des Abschaffungswunsches, denn „ausgerechnet jetzt“, so suggeriert die Einleitung, sei ein denkbar schlechter Zeitpunkt, wo doch alle im „Kampf gegen rechts“ zusammenhalten müssen.
Spätestens in diesem Punkt dürften Brodkorbs erzliberale Freiheitsvorstellungen hart aufeinandertreffen mit dem erkennbaren Bahners’schen Liebäugeln, es dürfe schon beobachtet und stigmatisiert werden, solange es nur die aus seiner Sicht dafür vorgesehenen Akteure trifft. Denn der FAZ-Redakteur macht in seiner Steinke-Rezension sehr deutlich, wo er die Grenze des Sag- und Tolerierbaren zu sehen wünscht: Dort, wo jemand wie Maaßen „die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel kritisch beurteilt“. Falls sich Bahners äußert, müsste er zumindest Brodkorbs Recherche in Schnellroda verteidigen. Denn Kubitscheks Gut stattete der FAZ-Redakteur auch schon einen Besuch ab.
Allen Lesern seines Buches gibt der Sozialdemokrat Brodkorb, der aus der SPD nicht austreten will, weil er der Meinung ist, dass nicht er deplatziert ist in seiner Partei, sondern vielmehr ihre derzeitigen Repräsentanten, einen Eingangshinweis mit in die Lektüre: „Wer als politischer Aktivist in diesem Buch Material sucht, um seine politischen Gegner noch besser bekämpfen zu können, wird und soll enttäuscht werden. Wer hingegen Rechtsstaat und liberale Demokratie verteidigen will, mag hilfreiche Informationen und Argumente in ihm finden.“
Ronen Steinke „Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht“, Berlin Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.
Mathias Brodkorb „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien“, zu Klampen Verlag, 250 Seiten, 25 Euro.
Untergegangen, aber nicht spurlos: Bernd Wagner holt in „Die letzten Europäer“ sechs solitäre Künstler in die Gegenwart
von Alexander Wendt
Auf dem ausgedehnten Feld literarischer Biografien gibt es seltene Exemplare, die das Leben hochinteressanter und gleichzeitig noch kaum beschriebener Figuren erzählen. Erzählen sie davon auch noch gut, dann gehören diese Texte zu den schwarzen Perlen des Genres. Bernd Wagner legt mit „Die letzten Europäer“ gleich sechs Lebensbilder vor, die zwar nicht durchgehend große Unbekannte zeigen; Ernst von Salomon und Friedrich Torberg gehören ohne Zweifel zu den bestens ausgeleuchteten Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber wer kennt Jürgen von der Wense? Albert Vigoleis Thelen, Verfasser des immerhin größten deutschsprachigen Mallorca-Romans, gehört bis heute zu den artists artists, den Autoren, die ungerechterweise kaum Leser außerhalb des literarischen Betriebs finden.
Die Bilder von Albert Paris Gütersloh hängen verstreut in der einen oder anderen öffentlichen Sammlung, seine Texte („Kain und Abel“, „Sonne und Mond“) entdeckt jemand mit Glück in Antiquariaten. Das literarische Werk der Journalistin Margret Boveri erschien nicht nur spät, sondern überhaupt nur deshalb, weil andere sie dazu überreden konnten, es zu veröffentlichen: Zum einen ihre Aufzeichnungen über die letzten Kriegswochen in Berlin und die Zeit unmittelbar danach, die es erst ab 1968 unter dem Titel „Tage des Überlebens. Berlin 1945“ in Buchform gab. Ihre Autobiografie, veröffentlicht 1977, schrieb sie, weil Uwe Johnson sie dazu drängte.
Wagners Figuren verbindet zum einen, dass sie alle noch das deutsche oder kakanische Kaiserreich erlebten, dann den Ersten Weltkrieg, den Zusammenbruch der Monarchie, die Republik, den Nationalsozialismus, den nächsten Krieg und Zusammenbruch, den Neuanfang nach 1945. Zweitens ähneln sie einander in ihrer Bindung an das alte Europa, dessen Ausläufer noch weit über 1914 hinausreichten. Drittens standen sie mit ihren Lebensläufen gerade nicht exemplarisch für eine dieser Epochen. Dazu legten sie zu viel Wert auf Eigensinn bis hin zur Exzentrik. Jürgen von der Wense zog es vor, zwar rastlos zu schreiben (und auch zu komponieren), aber das wenigste davon ging zu seinen Lebzeiten in Druck, nur einige seiner Stücke erlebten eine Aufführung. Wenses Hauptkunstwerk ließ sich sowieso nicht publizieren: Sein Leben, das er als Hauptfigur eines Romans führte, den es nur in seinem Kopf gab.
In seinem berühmten „Geheimreport“ über Künstler im Dritten Reich rubrizierte Carl Zuckmayer seinen Kollegen Ernst von Salomon, den Rechtsterroristen in Zeiten der Republik, der 1933 allerdings das Gelöbnis der deutschen Schriftsteller zur Hitlertreue nicht unterzeichnete, unter „nicht ohne weiteres einzuordnende Sonderfälle“. Im Grunde gilt dieses Urteil für alle Figuren, die Wagner beschreibt. Jürgen von der Wense, den Wagner einen „wandernden Mönch“ nennt, sticht unter all diesen Sonderfällen noch heraus als großer Universalist, der zwar sein ganzes Leben in Deutschland verbrachte, die Welt aber zu sich in seine spärlich möblierten Zimmer holte, zum einen als Übersetzer, der sich die fremden Sprachen selbst beibrachte, als Beobachter des Sternenhimmels und als Verfasser ausufernder enzyklopädischer Aufzeichnungen. Aber auch die Biografie dieses Solitärs unter den Sonderfällen bettet Bernd Wagner wie die anderen Lebensläufe ein in die dichte Schilderung der Lebensorte und der Zeit, der kulturellen Matrix, die auch den größten Außenseiter prägt. Der Komponist Wense, schreibt der Biograf, stammte aus einer Zeit, in der die heute klassischen Werke noch „lebendige Gegenwart“ gewesen seien: „Als die Oper ihre letzten Triumphe feierte, wurde deren Komponist Richard Strauss von jungen Enthusiasten auf Schultern aus dem Saal getragen; in Wien hörte Wense einen Kutscher noch Motive aus einer Bruckner-Sinfonie pfeifen.“ Zu diesem alten, vergangenen Europa gehörte es ebenso, dass die Wohnungen von Berühmtheiten in den großen Städten auch unangemeldeten Besuchern offenstanden. So konnte der junge von der Wense sich 1915 einfach zur Wohnung Arnold Schönbergs in Berlin begeben, um ihm dort seine „Fünf Klavierstücke“ vorzuspielen (und anschließend den Raum wortlos zu verlassen; das Talent, seine Arbeiten, ob Musik, eigene Literatur, Übersetzungen oder seine naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen, erfolgreich in den großen Verwertungsbetrieb einzuspeisen, besaß er zeitlebens nicht). Für eine seiner Kunstformen gibt es bis heute ohnehin keine wirkliche Veröffentlichungsform – seine Wanderungen, vorbereitet mit Messtischblättern, die er die „Partituren der Landschaft“ nannte. Seine Notizen dazu, genauso wie seine Wetteraufzeichnungen, ergaben ihren ganzen Sinn nur mit ihm zusammen als Hauptfigur. Wer sich von der Wense heute nähern will, liest am ehesten seine schon zu Lebzeiten unter dem Titel „Epidot“ publizierte Textsammlung. Dort schreibt er, der so mönchisch und abgekapselt wirkte: „Lachen ist die Koloratur unseres Denkens. Wir lachen, weil wir uns irren. Wenn wir ohne Irrtum lebten, wären wir Tiere.“
Seine biografischen Porträts von Friedrich Torberg und Albert Paris Gütersloh stellt Wagner vor das große Panorama des k.u.k.-Reichs, für ihn „ein Europa im Kleinen“. Zu seiner Torberg-Biografie gehört auch eine Beschreibung des deutsch-jüdischen Lebens in Wien und Prag der Jahre vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, eine Welt, die kurze Zeit später nicht langsam zerfiel wie das Europa der letzten Europäer, sondern eine schnelle und fast restlose Auslöschung erfuhr. Zu den schönsten Passagen gehört die Schilderung des kalifornischen Exils, in dem der gerade noch davongekommene Autor zwar als Geretteter saß, aber auch als völlig Verirrter, dem dort im äußersten Westen alles fehlte, was seine Existenz bis dahin ausgemacht hatte. „Der ehemalige Sportler Torberg“, heißt es bei Wagner, „war im zukünftigen Joggerparadies ebenso fehl am Platz wie der Schriftsteller im Writer’s Building. Es handelte sich um einen Bau im Gartenstadtstil, außen mit lichtem Schönbrunner Gelb getüncht, doch innen von geistigem Dunkel erfüllt. Der Donaustädter saß an einem Schinken über den Diamantschmuggel in Brasilien, während sich der Amerikaner im Nachbarbüro, der nicht Bukarest von Budapest unterscheiden konnte, mit einem Streifen über den europäischen Kriegsschauplatz abplagte.“
Die meisten Porträts fügt der Biograf als Mosaik aus größeren und kleineren Einzelstücken zusammen. Für sein Porträt des Albert Vigoleis Thelen kann er ausnahmsweise großzügig aus dessen autobiografischem Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ schöpfen, wobei Wagner sich gar nicht erst bemüht, hier die ohnehin kaum feststellbare Grenze zwischen Thelens Dichtung und Leben zu ziehen. Der eine oder andere Leser fühlt sich von Wagners kundiger Führung durch den 900-Seiten-Wälzer möglicherweise angeregt, sich das ganze merkwürdig funkelnde Mallorca-Werk vorzunehmen.
Noch ein anderer Faden verbindet die sechs letzten Europäer: Sie gehören zu den Lieblingsautoren von Wagner, der seinerseits schon in der DDR zu den Solitären unter den Schriftstellern gehörte. 1948 in Wurzen geboren, etablierte er sich ab 1977 nach Berufsjahren als Lehrer als freier Autor und das im Wortsinn: Mit Lothar Trolle und Uwe Kolbe gab er in Ostberlin von 1983 bis 1985 die illegale Literaturzeitschrift „Mikado“ heraus. Einen Anwerbeversuch der Staatssicherheit beantwortete er mit einem offenen Brief an Erich Mielke. Die DDR-Behörden erlaubten ihm, der in ihr Kulturleben nicht passte und nicht passen wollte, 1985 die Ausreise in den Westen.
In einer insgesamt einigermaßen wohlwollenden Sendung des Deutschlandfunks über Bernd Wagner hieß es 2022 mahnend: „Während sein autobiographischer Roman ‚Die Sintflut in Sachsen‘ 2019 im Schöffling-Verlag zum Erfolg bei Kritik und Publikum wurde, scheute sich Wagner nicht, in der Exil-Reihe der umstrittenen rechtskonservativen ‚edition buchhaus loschwitz‘ die Polit-Satire ‚Mao und die 72 Affen‘ samt einem provokant-mokanten Interview zur ‚Corona-Pandämonie‘ zu veröffentlichen.“
Vermutlich gibt es einige im Kulturbetrieb, die finden, Wagner sei ohne weiteres einzuordnen. Dazu genügt ihnen schon ein Verlagsname.
Bernd Wagner „
Mit scharfer Klinge durch den kalten Schleim: Bernd Stegemanns „Identitätspolitik“ argumentiert kurz und bündig gegen eine wahnhafte Ideologie
von Alexander Wendt
Mittlerweile gibt es zahlreiche Bücher, die sich kritisch mit Identitätspolitik, Postkolonialismus und generell dem Ideologiefeld auseinandersetzen, für das die Anhänger dieser Bewegung einmal den selbstverharmlosenden Begriff woke prägten. Die gleichen Protagonisten behaupten heute, bei woke handle es sich um einen ‚rechten Kampfbegriff‘. Schon im Jahr 2021 verfuhren sie so mit der Wendung ‚Identitätspolitik‘. Der steuergeldgeförderte Verein „Neue Deutsche Medienmacher“, gegründet von der Identitätspolitikerin Ferda Ataman, die heute den Titel ‚Antidiskriminierungsbeauftragte‘ trägt, verlieh damals den Negativpreis „Goldene Kartoffel“ an alle Medien, die den Begriff überhaupt verwendeten. Denn selbst Journalisten wohlgesinnter Medien benutzen ihn nicht mehr ausschließlich positiv. Am liebsten umgehen sie ihn ganz, oder ersetzen ihn durch die nächsten Klingelworte („Einsatz für Marginalisierte“, „Kampf gegen systemischen Rassismus“), die dann vermutlich nach mehreren Umdrehungen der Euphemismusmühle die rechten Kampfbegriffe von übermorgen darstellen.
Der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann verzichtete für sein Buch „Identitätspolitik“ aus genau diesen Gründen auch auf jeden erläuternden Untertitel: Seine Leser wissen so gut wie seine Gegner, worum es geht. Für die letzteren gehört er, Jahrgang 1967, nach den Maßgaben dieser Ideologie sowieso in die Rubrik alter weißer Mann, aufgrund seiner früheren Texte auch in das Kästchen rechts, obwohl er 2018 zusammen mit Sahra Wagenknecht, Wolfgang Streeck und anderen den (erfolglosen) Versuch unternahm, mit der Bewegung „Aufstehen“ eine klassisch linke, also an sozialen Themen ausgerichtete Bewegung zu etablieren. Gerade das trug ihm den Dauerhass aller Neuprogressiven ein, die schon damals großen Wert darauf legten, ihre Aufteilung der Gesellschaft in identitäre Gruppen mit einem linken Dekor zu versehen.
Was Bernd Stegemann vorlegt, entspricht eher einem kommentierten Wörterbuch dieser links drapierten Politik, als dass es das Phänomen umfangreich ausbuchstabieren würde. Auf knappen 110 Seiten fasst er alle wesentlichen Begriffe und Widersprüche dieses Glaubenssystems zusammen. Dabei konzentriert er sich auf die Kernaussage: Dieses System steht den Ansichten der traditionellen Linken diametral entgegen, denen es einmal um die Milderung oder Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten ging. Sie steht auch gegen die bürgerliche Emanzipation, gegen den Westen. Stattdessen führe die Konzentration auf identitäre Kategorien wie Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht, so Stegemann, unweigerlich zu einer neuen Form des Tribalismus:
„Der verhängnisvolle Zirkelschluss der Identitätspolitik besteht darin, dass die eigenen Ansprüche eine besondere Berechtigung haben, weil sie in einer besonderen Identität begründet sind. Und die eigene Identität ist besonders, weil sie besondere Ansprüche hat. Der Appell an die eigene Identität wirkt selbstverstärkend, da alle Eigenarten zum Beweis einer Besonderheit werden, die den Zusammenhalt stärkt. Aus diesem Zusammenhalt werden die robusten Forderungen abgeleitet, die von allen anderen berücksichtigt werden müssen. So verstärken sich die Konflikte, weil die Widersprüche zu eindeutigen Fronten zwischen dem guten Wir und dem bösen Anderen verhärten. Identitätspolitik stärkt das Gemeinschaftsgefühl und ist eine Politik für tribalistische Gemeinschaften, die sich in einer feindlichen Umwelt behaupten müssen.“
Unter diesen Bedingungen, folgert der Autor, ließen sich echte Konflikte und Interessenlagen kaum noch besprechen. Der Zerfall in Identitätskollektive zerstöre die Fähigkeit der Gesellschaft, sich sinnvoll mit sich selbst zu verständigen.
Warum übt dieser Rückfall in ein primitiveres Stadium aber eine solche Anziehungskraft gerade auf die „Sinn- und Heilsverwalter“ (Helmut Schelsky) aus? „Identitätspolitik“, meint Stegemann, „findet immer mehr Zuspruch, da sie einen magischen Ausweg aus dieser Lähmung durch Komplexität verspricht.“ Sie wirft gewissermaßen die Last der Moderne ab. Die Verdrängung klassischer sozialer Themen – sozialer Aufstieg durch Leistung, erträgliche Arbeitsbedingungen und Alterssicherung – beklagen weder die wirtschaftlichen noch die politischen Eliten. Geht es nur noch um die „Definitionsmacht über Gut und Böse“, dann „verlagern sich die Sachfragen zwangsläufig auf die Ebene der Werte“.
Manche Ereignisse kann „Identitätspolitik“, erschienen im August 2023, nicht mehr aufnehmen, etwa den antisemitisch-antiwestlichen Furor, mit dem sich Universitäten zwischen Kalifornien und Mitteleuropa zurzeit reihenweise selbst zerstören. Aber Stegemann beschreibt, wie autoritäre Systeme außerhalb des Westens sich mit der innerwestlichen totalitären Strömung verbinden – am deutlichsten sichtbar heute im Islamo-Gauchisme, dem Amalgam aus politischem Islam und der Lehre von Pseudoprogressiven, die in eine Stammesgesellschaft zurückmarschieren wollen. Zum Ende seines Buchs bringt Stegemann schweren Herzens den Gedanken ins Spiel, den universellen Geltungsanspruch des säkularen, rationalen Westens aufzugeben, ihn also nur noch in seiner eigentlichen Heimat gegen die Offensive seiner Feinde zu verteidigen. Wer sich deren Machtanspruch entgegenstelle, meint er, der sollte auch bereit sein, Angriffe auszuhalten (die Stegemann, der als Dramaturg im Kulturbetrieb arbeitet, durchaus schon erfahren hat und erfährt, in diesem Buch aber nicht zum Thema macht). „Wer vor der moralischen Panik flieht und das Opfer des Shitstorms im Stich lässt, sollte aufhören, sich über die Mitläufer in anderen autoritären Systemen zu empören“, heißt es in seinem Fazit auf den letzten Seiten.
Der Reiz von „Identitätspolitik“ liegt in seiner Kürze, auch in seiner grundsätzlichen Anlage: Solange die von Stegemann bekämpften Phänomene noch eine politische Rolle spielen, liefert sein Buch Argumente, die auch morgen noch gelten. Vor allem aber trainiert es die Technik, mit scharfer Klinge durch das Gallert zu schneiden (laut Wörterbuch ein erkalteter, erstarrter, durchsichtiger Schleim) und so den Kern dieser innerweltlichen Religion freizulegen: ihre Irrationalität.
Bernd Stegemann „Identitätspolitik“, Matthes & Seitz, 110 Seiten, 12 Euro
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Thomas Schweighäuser
13. Mai, 2024Stegemann liegt mit seiner Behauptung, Identitätspolitik schere sich nicht um “erträgliche Arbeitsbedingungen”, falsch: Als im August 1973 einige türkische Arbeiter der kölner Ford-Werke zu spät aus dem Sommerurlaub zurückkehren, werden 300 von ihnen fristlos entlassen. Spontan organisieren die migrantischen Arbeitskräfte einen „wilden“ Streik und fordern einen verlängerten Urlaub und Lohnerhöhungen. Anfangs solidarisieren sich die einheimischen Arbeiter mit ihnen, doch unter dem Eindruck einer reißerischen Berichterstattung in den Boulevardmedien („Türken-Terror bei Ford“ ) kippt die Stimmung, bei einer „Gegendemonstration“, welche die Geschäftsleitung initiiert hat, dringen Polizisten und Streikbrecher auf das Werksgelände ein, der Streik wird beendet und es kommt zu weiteren Entlassungen.
Das ist jetzt über 50 Jahre her, zeigt aber, dass, bevor es eine angeblich die Interessen der (weißen) Arbeiter ignorierende Identitätspolitik gab, die Abgrenzung von der anderen Seite ausging: Statt sich mit ihren migrantischen Kolleg*innen zu solidarisieren, schlugen sich bedeutende Teile der Arbeiterschaft auf die Seite der Bosse und zogen den Beweis ihrer Identität als fleißige Sollerfüller der Chance vor, für bessere Löhne und einen verlängerten Urlaub zu kämpfen. Wer heute beklagt, eine „woke“ oder linke Identitätspolitik ignoriere die Interessen der Arbeiter zugunsten der marginalen Befindlichkeiten von Randgruppen, der halte sich den Verrat von Köln 1973 vor Augen: In „Identitäten“ wird man nicht geboren, man wird in sie gedrängt, nicht zuletzt von denjenigen, die auf die Uneinigkeit der Unterdrückten bauen.
Publico
13. Mai, 2024Diesen Kommentar hatten Sie schon einmal zu einem anderen Text geschickt. Dürfen wir ein bisschen mehr Varianz erwarten?
– Redaktion
Thomas Schweighäuser
7. Juni, 2024Ich erspare Ihnen und mir allzu billige Retourkutschen und möchte nur meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass sich meine Texte so gut bei Ihnen eingeprägt haben.
pantau
17. Mai, 2024Sie müssen wissen, Herr Schweighäuser, dass die Nennung einer Ausnahme, bei der noch zu diskutieren wäre, ob Ihr geschilderter Fall überhaupt ein Beispiel für “Identitätspolitik” ist, eine aufgestellte Regel nicht widerlegt, sondern eher bekräftigt. Vulgo: dass Sie 50 Jahre zurückgehen müssen, beweist, dass Stegemann Recht hat. Nebenbei: vor 50 Jahren gab es noch nicht jene woke Bewegung, die Stegemann meint. Und auch Ihre apodiktische Aussage, Identitäten erhalte man nur durch Fremdzuschreibung, ist offenkundig so leicht widerlegbar weil in der Regel falsch, dass ich mich frage, von welchem Gendersternchen Sie gesandt worden sind. Mit Ihrer Rhetorik könnte man auch die These, dass in den KZ´s Unmenschliches getan wurde, “widerlegen”. Denn halten Sie sich nur mal vor Augen, dass Amon Göth Helene Hirsch verschonte. Sehen Sie! War nicht alles schlecht dran. Merken Sie? Das war nur eine rhetorische Frage. Weitermachen!
Werner Bläser
18. Mai, 2024Gerade gelesen: Fleischhauers neueste Kolumne im ‘Focus’, “Wenn linke Studentinnen muslimische Vergewaltiger anbeten: Der Feminismus ist ‘fucked'”, ‘Focus’, 18.5.24.
Fleischhauer weist darin – offensichtlich schockiert – darauf hin, dass vielen Jugendlichen, die heute für Palästina und die Hamas demonstrieren, offenbar jedes logische Denkvermögen abhanden gekommen ist. Er spricht sogar von einem Virus, der wohl eine Art Geisteskrankheit hervorruft. Dabei beruft er sich auf ein neues Buch des Psychologen Jonathan Haidt, “Generation Angst”.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber der Fleischhauer-Artikel macht mir Appetit.
Es scheint ja das zu bestätigen, was ich hier gelegentlich geschrieben habe: Viele dieser Leute sind schlichtweg geisteskrank – mit Sektierertum allein scheint mir das zu verharmlosend ausgedrückt.
Auf jeden Fall empfehle ich die F-Kolumne im Focus als Appetithäppchen.