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Publico Bücherherbst II:
Gefälschte Familienerinnerungen, das Ich als Bastelbogen, ein Wörterbuch der verschwindenden Dinge

Neue Titel von Olga Grjasnova, Bernd Ahrbeck und Michael Esders, besprochen von Pascal Morché, Alexander Wendt und Günter Scholdt

Genug Platz, um glücklich sein zu müssen, zu viel Vergangenheit, um sie loszuwerden: Olga Grjasnowas witzig-ernster Familienroman „Juli, August, September“

Von Pascal Morché

Ein Roman, auf dessen erster Seite der Name Adolf Hitler steht, irritiert. Ist das jetzt das Lasso, das den Leser fängt? Ja, ist es! Und die Autorin, Olga Grjasnowa, Jahrgang 1984, kann gut Lasso werfen; verdammt gut sogar. Kommt auch nicht von ungefähr: Mit dem Bachelor hat sie den Studiengang „Literarisches Schreiben“ am Literaturinstitut Leipzig abgeschlossen; so was bleibt so wenig folgenlos wie ihre Professur am „Institut für Sprachkunst“ der Universität Wien grundlos. Kurzum: Diese junge Autorin weiß, wie’s geht. Sonst hätte Olga Grjasnowa seit ihrem vielbeachteten Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) nicht erfolgreich vier Romane veröffentlicht. Doch zurück zur ersten Seite ihres neuesten Romans, zurück zu Adolf Hitler.

Lou arbeitete in einer Galerie, will ein Buch über „Aids in der New Yorker Kunstszene“ schreiben und lebt als junge, jüdische Mutter mit ihrem zweitem Ehemann Sergej im Berlin unserer Tage. Sergej, ebenfalls Jude, ist ein weltweit auftretender Konzertpianist; dennoch leidet er gerade an einem deutlichen Karriereknick und die Ehe mit Lou kriselt. Die beiden haben eine Tochter, Rosa, benannt nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden. Rosa, fünf Jahre alt, hat ein recht mediokres Kinderbuch über Anne Frank in die Finger bekommen und behauptet nun, Adolf Hitler habe das geschrieben. Lou stellt klar: „Die Prosa war unterkomplex“ und „Anne Frank sah aus wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte“.

Eine ganz normale jüdische Familie also in Berlin: „Vier Zimmer innerhalb des S-Bahn-Rings, Altbau, große Flügeltüren, genug Platz, um glücklich sein zu müssen.“ Wie das bei intelligenten, reflektierenden Menschen aber so ist, macht man sich Gedanken über seine (zumal jüdische) Identität. Die kleine Tochter war noch nie in einer Synagoge. Hohe jüdische Feiertage begeht man „auch irgendwie“. Mit dem unvergleichlich nonchalanten Ton, der Olga Grjasnowa auszeichnet, wird der neunarmige Leuchter im Haushalt beschrieben: „die Kerzen am Schabbat rauszuholen, war uns bereits zu viel Aufwand.“ Man lebt sein Judentum so unverkrampft wie man für Sergej „in der Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette Käse, Brot, Austern, Champagner“ kauft.

Viel dreht sich um Tochter Rosa und wie sie „es“, ihr Jüdischsein erfahren soll. „In Deutschland wird sie nur etwas über tote Juden erfahren. Nichts über lebende.“ Überhaupt sind die Dialoge zwischen Lou und Sergej hinreißend: „Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine“ […] „Ich weiß nicht, ob wir sie schon mit fünf traumatisieren sollten“ […] „Wenn das Judentum traumatisierend ist, sollten wir es vielleicht lassen.“ „Und konvertieren?“ „Gott behüte.“ Lous erster Ehemann übrigens war im Glauben radikaler: „Er hatte eines Nachts Gott gefunden und mich am nächsten Morgen verlassen.“ Es ist dieser lakonische, boulevardeske Stil, diese Bonmot-Abschießerei, die den Leser sehr bald an Yasmina Reza denken lässt oder an ein Theaterstück wie „Le Prénom“ von Matthieu Delaporte.

Lous „Familie war seit mehreren Jahrzehnten zersplittert.“ Nur Lou und ihre Mutter leben in Deutschland, die anderen Familienmitglieder in Israel. Versprengte „Jüdische Kontingentflüchtlinge“: Ein Schicksal, das die in Baku, Aserbaidschan geborene Olga Grjasnowas 1996 mit ihrer eigenen Familie nach dem Zerbrechen der Sowjetunion selbst erlebt hat. Ausgerechnet in einem abgehalfterten All-inclusive Resort auf Grand Canaria kommen alle Familienmitglieder zusammen. Hierher hat Lous Tante Maya zu ihrem 90. Geburtstag eingeladen.

Es ist eine Lust, den lapidaren Beschreibungen der Autorin zu folgen: „Die Getränke waren ebenfalls all inclusive und bestanden größtenteils aus Eis.“ Die deutsche Lou trifft auf den ex-sowjetischen Clan, der in Israel lebt. Aber was diese „Familienbande“ (Karl Kraus) zusammenhält, ist nur noch wechselseitige Missgunst, Konkurrenzdenken und „unser Judentum“. Das ist jedoch auch nur „eine kulturelle Performance, und selbst die war nicht besonders gut.“ Man tauscht untereinander Bösartigkeiten, kämpft am Buffet oder um die Liegen am Pool. Vor allem aber erzählt man sich „Familien“-Geschichten und beginnt die „eigene Familiengeschichte neu zu schreiben“: Maya und ihre Schwester Rosa, wer hat wen verraten, als sie 1941 Kinder waren? Wurden sie damals von der Mutter verlassen? Was wurde aus Boris, dem Vater? Wurde er erschossen? Starb er im Gefängnis? Die neunzigjährige Maya versteht es Geschichten zu fälschen, sie (vermeintlich) zu verbessern: „Maya veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen.“ So ist die Botschaft von Grjasnowas neuem Roman: Geschichte besteht aus Geschichten. Wer diese kleinen, persönlichen Geschichten verfälscht, der fälscht die Historie.

Um Klarheit über ihre Familie, diesen Haufen Splitter zu bekommen, flieht Lou Gran Canaria und fliegt nach Israel. In den Archiven von Yad Vashem und auf alten Fotos im Schrank ihrer Tante Maya findet sie zu sich und zur Wahrheit über ihre Familie. Nur wozu diese ganze, mitunter furios erzählte jüdische Identitätssuche? „Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.“ Am Ende scheint die Ehe mit Sergej gerettet. Wenigstens das.

 

Olga Grjasnowa, Juli, August, September, Hanser Verlag, 224 Seiten, 24 Euro
Die Rezension erscheint mit freundlicher Genehmigung der Weltwoche, wo sie ursprünglich publiziert wurde.

 

Pascal Morché, geboren 1956 in Braunschweig, schrieb für Die Zeit, Die Welt, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Spiegel, das Magazin der Süddeutschen Zeitung und gehört zu den regelmäßigen Autoren der Weltwoche. Von ihm erschienen unter anderem die Bücher „365 Tage Fashion. Mit der Mode durchs Jahr“ und zuletzt die sexistische Prosasammlung (Eigenwerbung) „Es war nicht alles schlecht bei Mann und Frau“.

 

 


Eine Priesterkaste, die anklagt und nie erlöst – Bernd Ahrbecks Essay über die angebliche Befreiung von Diskriminierung, die in eine totalitäre Praxis kippt

Von Alexander Wendt

Warum gibt es mittlerweile dutzende ernstzunehmende Gewaltdrohungen gegen die „Harry Potter“-Autorin Joanne Rowling, die darauf besteht, dass es biologische Grundlagen für die Begriffe „Frau“ und „Mann“ gibt? Wie kommt es, dass eine Autorin in dem früher einmal ehrwürdigen Organ Die Zeit fälschlich behauptet, die Mehrheit der Biologen ginge längst von mehr als zwei Geschlechtern aus? Wie lässt es sich erklären, dass politische Gruppen in Zusammenarbeit mit manchen Medien eine Treibjagd gegen eine Biologin organisieren, weil sie in einem Vortrag erklärte, es gebe einen Unterschied zwischen biologischem Geschlecht und angenommener Geschlechterrolle?

Bernd Ahrbeck, Erziehungswissenschaftler, Professor an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und Autor, beantwortet diese Fragen auf angemessene Weise: Er beschreibt in seinem Buch „Basteln am Ich. Zu Risiken und Nebenwirkungen grenzenloser Selbstbestimmung“ all diese aufgezählten Vorgängen als Teil eines Glaubensgebäudes. Die Anhänger der parareligiösen Überzeugung, so argumentiert Ahrbeck, versprechen etwas sehr Ähnliches wie Vertreter echter Religionen: Erlösung von dem Übel. Denn als verwerflich und verworfen gilt der Priesterkaste, mit der sich das Buch befasst, die gesamte westliche Welt, in der Ungerechtigkeit und Unterdrückung strukturell herrschen, also tief eingebettet in die gesellschaftliche Matrix. In diesem innerweltlichen Glauben bilden seine Priester die höchste Instanz, die gleichzeitig anklagt, richtet und straft. „Im hiesigen Kulturkampf geht es inzwischen nur noch am Rande darum, Ungerechtigkeiten zu überwinden, Diskriminierungen zu bekämpfen und Rechte von Minderheiten zu wahren“, schreibt Ahrbeck: „Über diese ursprünglichen Ziele besteht kein grundlegender Dissens…Befindlichkeiten werden jedoch längst zu anderen Zwecken eingesetzt. Sie dienen als Mittel, um eine kulturelle Deutungshoheit zu erringen, die Machtpositionen ausbaut und sichert. Und dies durchaus mit Erfolg.“

Warum gerade Transsexualität sich zu „einem großen Thema der Zeit“ entwickelte, obwohl es faktisch nur eine sehr kleine Gruppe betrifft, erklärt der Autor mit einem Zitat des französischen Philosophen und Autors Alain Finkielkraut, der die Transsexuellen spöttisch „die endgültigen Helden der Emanzipation“ nennt. Denn „mit ihnen verschwindet die natürliche Gegebenheit des Geschlechts. Jeder sucht sich eins aus.“ Mit der Auflösung der „Binarität“ – also der neuerdings als Irrglaube verdammten Ansicht, es gebe nur zwei biologische Geschlechter – fällt die letzte Grenze der Objektivität. Wo angeblich alles Konstrukt ist, muss sich auch alles konstruieren lassen. Folglich besitzt nichts mehr eine überindividuelle und überzeitliche Gültigkeit. An Stelle des Objektiven tritt der „Akt der Selbstschöpfung“, aus dem überhaupt erst eine Identität entsteht: „Das individuelle Erleben wird ausschlaggebend und als einzige Realität anerkannt. Was nicht mehr passt, kann gelöscht werden.“ Ahrbeck buchstabiert das Phänomen der absoluten Subjektivität an mehreren Beispielen aus, beispielsweise an dem Dogma, nur so genannte Betroffene dürften zu bestimmten Themen sprechen oder an der Forderung, „Homosexuelle sollten nur noch von Homosexuellen dargestellt werden, Behinderte nur noch von Behinderten“, die Lyrik einer Schwarzen wie Amanda Gorman dürfe nur durch eine Schwarze übersetzt werden. Hier liegt übrigens ein zentrales Paradox dieses von Widersprüchen durchzogenen Glaubenssystems: Zum einen soll es keine objektiven Kategorien mehr geben. Gleichzeitig gilt aber genau das als unantastbare Setzung. Wehe dem, der wie Rowling darauf hinweist, dass so etwas wie Biologie überhaupt existiert.

Weil die Vertreter diese Ideologie inzwischen die wichtigsten Definitionshöhen besetzen – Hochschulen, Medien, Parteien – und unter Druck stehen, sich fortlaufend legitimieren zu müssen, weiten sich ihre Anklagen gegen die Gesellschaft ständig aus. Das wiederum führt zu dem zweiten Paradoxon, dass heute im Westen sehr viel größere Freiheitsgrade in Bezug auf sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Herkunft herrschen als noch vor Jahrzehnten, ohne dass, wie der Autor feststellt, „die Heftigkeit der Anklagen nachlässt“. Er beantwortet auch, warum: wenn es aus der „Schuld des Weißseins“ (Robin DiAngelo), und der Schuld des Westens insgesamt kein Entrinnen gibt, wenn Ungerechtigkeit die eigentliche Struktur der Gesellschaft bildet, dann lässt sie sich auch durch die größte Sensibilität nicht beseitigen. Auch nicht durch das ungebremste Basteln am Ich. Die Erlösung findet also in Wirklichkeit nie statt. Um das Böse wenigstens zu mildern, meint Ahrbeck lakonisch, bedürfte es deshalb „einer Sisyphos-Arbeit, fortwährender Kraftanstrengung, und zugleich vergeblicher Mühen“. Einer ganz zentralen Kraftanstrengung, dem ewigen Wegcanceln angeblich schädlicher und gefährlicher Ansichten, dem bleiernen Konformismus an Hochschulen, der unerbittlichen Ketzerjagd widmet Ahrbeck Passagen, in denen er wie in allen anderen Kapiteln Beobachtung, Beschreibung und Analyse miteinander verbindet, wobei er niemals schäumt und polemisiert, sondern höchstens hier und da ironische Lichter setzt. Über mehrere Seiten schildert er konkret Fall für Fall Druckausübung und Hetze gegen Wissenschaftler, die an objektiven Erkenntnissen festhalten und sich weigern, den neuen intellektuell nackten Herrschern zuzujubeln und die Vortrefflichkeit ihrer Kleider zu loben.

Der Autor gehört zu den Erziehungswissenschaftlern und Psychologen im deutschsprachigen Raum, die sich nicht nur scheuen, in ein Wespennest zu greifen, sondern es geradezu für ihre intellektuelle Pflicht halten. Allein das macht Ahrbecks Buch schon wichtig. Zum Glück für seine Leser erweist er sich außerdem als eleganter Stilist, der mit leichter Hand seine gewichtigen Themen unter der einen großen Überschrift verbindet, und dem es gelingt, seine dichte Gesellschaftsanalyse in knappen sechs Kapiteln auf insgesamt schlanken 137 Seiten zu konzentrieren.

Der Fall des Lehrers Peter Vlaming aus Virginia kam erst nach Drucklegung von „Basteln am Ich“ zum Abschluss; er soll hier aus zwei Gründen kurz erwähnt werden: Er illustriert zentrale Themen des Buchs, und er vermittelt außerdem auch die Hoffnung, dass sich zumindest in den USA die Priesterkaste nicht mehr mühelos durchsetzt. Vlaming weigerte sich, als Lehrer an der West Point High School, Transgender-Studenten mit einem Pronom ansprechen, das nicht ihrem biologischen Geschlecht entspreche. Denn das, so der Pädagoge, widerspreche seinen philosophischen und religiösen Überzeugungen. Er bot aber an, zur Ansprache nur den Namen des jeweiligen Schülers oder der Schülerin zu verwenden, und Pronomen einfach wegzulassen. Selbst diesen Vorschlag zur Güte lehnte die Schulleitung ab: sie bestand darauf, dass der Lehrer die gewünschten Pronomen verwendete, und feuerte ihn 2018. Er verlor also seine Stelle nicht dafür, dass er etwas Inkriminiertes sagte, sondern, weil er etwas nicht sagen wollte. Genauer: etwas, das offenkundig der Realität widersprach. Es ließ sich gar nicht übersehen, dass es hier nicht um Sensibilität gegenüber Minderheiten ging, sondern um das Aufzwingen eines Sprachregimes. Der Oberste Gerichtshof in Virginia entschied allerdings, dass die High School damit Vlamings verfassungsmäßige Rechte verletzte. Im Oktober 2024 einigte sich das School Board mit dem Lehrer, den die Alliance for Defending Freedom unterstützte, auf eine Zahlung von 537000 Dollar. Da irgendwann alles über den Atlantik nach Europa kommt: Vielleicht stoßen die autoritäre Umbastler der Gesellschaft demnächst auch hier auf etwas mehr Gegenwehr.

 

Bernd Ahrbeck, Basteln am Ich. Zu Risiken und Nebenwirklungen grenzenloser Selbstbestimmung, Zu Klampen, 137 Seiten, gebundenes Buch 16 Euro, Kindle 11,99 Euro

 

 


Eingerissene Grenzen des Intimen: Bernd Ahrbeck und andere Autoren zeichnen „Wege und Irrwege der Sexualerziehung nach

Von Alexander Wendt

Auf die progressive Sexuallehre und -pädagogik, die sich seit Magnus Hirschfeld für die Entstigmatisierung von Minderheiten einsetzte, folgte in den Jahren nach 1968 die „neo-empanzipatorische“ variante, die „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Diese Spielart, so Bernd Ahrbeck und Marion Felder in dem Sammelband „Wege und Irrwege der Sexualpädagogik“, setze Schwerpunkte, „die Randgruppen überrepräsentieren, die Interessen und Lebensformen er Bevölkerungsmehrheit aber viel zu wenig beachten“. In dieser Lehre ginge es eben nicht mehr um mehr gesellschaftliche Freiheit für jeden Einzelnen, sie ziele vielmehr auf eine „anthropologische Neuorientierung, die bisher sicher geglaubte kulturelle Grundlagen infrage stellt“.

Ahrbeck und seine an der Universität Koblenz lehrende Kollegin Felder beschreiben den Aufstieg dieser Ideologie, die im bundesdeutschen Schulbetrieb mittlerweile mit ausdrücklichem Segen der Regierungsparteien in den intimsten Schutzbereich von Kindern eindringt, beispielsweise, wenn sie schon sehr junge Kinder detailliert über Sexualpraktiken informiert, aber vor allem, indem sie ihnen einredet, ihre persönlichen Entwicklungsprobleme durch eine Hormoneinnahme beziehungsweise eine Operation lösen zu können, mit der sie sich äußerlich an das andere Geschlecht angleichen. Anders als in Ahrbecks Essay „Basten am Ich“ nähern sich die sechs Autoren ihrem Thema betont fachspezifisch, unterfüttert mit umfangreichen Zitaten und Belegen. Besonders interessant erscheint der Beitrag von Monika Klissenbauer, die den öffentlich bisher kaum besprochenen Zusammenhang zwischen autistischen Störungen und Genderdysphorie behandelt, also den authentischen oder eingeredeten Wunsch bei Jugendlichen, sich dem anderen Geschlecht anzugleichen.
Eltern (und Großeltern) schulpflichtiger Kinder, die genaueres über Ziele und Wirkung der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ erfahren möchten, findet hier auf 166 Seiten kompetente Darstellungen. Was „Wege und Irrwege“ anbietet, unterscheidet sich erheblich von dem, was beispielsweise Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorzugsweise Kindern und Jugendlichen vermitteln.

 

Bernd Ahrbeck und Marion Felder, Wege und Irrwege der Sexualpädagogik, W. Kohlhammer, 171 Seiten, 34 Euro

 


 

Von Aschtonne bis Lebertran: Michael Esders schreibt mit „Tapetenbewohner“ ein großartiges Wörterbuch seiner Kindheit in den Siebzigern

Von Günter Scholdt

Der Philosoph, Soziologe und Germanist Michael Esders hat sich mit hochkarätigen Analysen zum Tage in alternativen Kreisen einen Namen gemacht. Insbesondere „Sprachregime“ (2020) und „Ohne Bestand“ (2022) weisen ihn als anspruchsvollen Theoretiker aus, dessen Studium zwar einigen intellektuellen Aufwand erfordert, dies aber durch Erkenntnisgewinn vergilt. Sein Warnbefund enthält die Diagnose einer umfassenden, orwellhaft mächtigen Sprachherrschaft, die Abweichungen von geforderten Verhaltensnormen zunehmend undenkbar machen. Auch vernutze der angestrebte sozialtechnische Umbau der Welt deren Bestände, ohne die wir auf den gesellschaftlichen Nullpunkt zurückgeworfen werden.
Ergänzend hat er nun – gleichfalls im Manuscriptum Verlag – ein Bändchen publiziert, das einen eher lockeren, gleichwohl gedankentiefen belletristischen Zugang zur nahen Vergangenheit erlaubt. Daher empfehle ich bei der Lektüre – der Autor wird mich deshalb hoffentlich nicht schelten – zunächst einmal eine spontane Annäherung. Danach lese man das Vorwort erst nach den 100 Impressionen, die Esders aus zahlreichen Erinnerungsfragmenten zur Jugend für diesen Band herausgefiltert hat. So erschließt sich seine Botschaft, der Abrichtung beim Spracherwerb als „Sinnbegradigung“ von Worten zu wehren, im günstigen Fall nebenher. Und der Genuss läge im unschuldigen Einblick in seinen epischen Zettelkasten als Autobiographie en miniature.
Schenken wir also den erwählten Stichworten ihre gebührende Aufmerksamkeit, von „Lebertran“ über „Gülle“ bis „Urlaub“ oder dem vom Zeigefinger begleiteten „Da“, das Kleinkinder den Dingen wie ein „Lautlasso“ entgegenschleudern. Aus allem entsteht das Epochenbild aus der Perspektive eines Jungen, der in norddeutschen Provinz seit den 1970ern aufwuchs, als die Dinge noch handgreiflich anschaulich und nicht vorwiegend per digitaler Kunstwelt gespiegelt waren.
Es geht um „Fantasie und Abenteuer“, Spitznamen und Zaubersprüche, Privatfernsehen und die schauerliche Vorstellung vom Werwolf. Auf dem Drehstuhl entfalten sich Rauscherlebnisse. Der Kaugummiautomat entfacht Leidenschaft. Es folgt die kindliche Schockerfahrung mit der Steckdose respektive deren Stromschlag und als Folge eine länger andauernde Aversion gegen diese Tücke: „Ich nahm ihm noch lange Zeit übel, dass er sein wahres Gesicht hinter freundlichen Knopfaugen verborgen hatte.“ Aus manchen subtilen sinnlichen Eindrücken erwächst zuweilen ein politisches Urteil: „Deutschland. Ich sehe keine Grenze, aber Großbuchstaben, Abkürzungen, die dem Land wie Stempel aufgedrückt sind. BRD, DDR: unverständliche Stotterlaute. So kann kein richtiges Land heißen, scheint mir… Dazu passt, dass ‚Ostzone‘ wie ‚Aschtonne‘ klingt.“
Wie beabsichtigt auch immer, entfaltet etwa eine klebrige Zeitung in der Mülltonne seine plastische Gegenwartspointe: „Besonders widerlich ist der dunkle, teilweise schon erdig-faule Bodensatz im Mülleimer, der sich auch durch starkes Rütteln nicht aus dem Behälter befördern lässt. Abfall weigert sich, Müll widersetzt sich und matscht an den Rändern fest. Es schüttelt mich. Das Vermischte in meinem Magen will raus, weil der Müll hängen bleibt. Auch die feuchte, aufgeweichte Zeitung am Boden klebt fest. Ich könnte sie nicht einmal mit Gummihandschuhen anfassen.“
Humor blitzt an mehreren Stellen auf, exemplarisch beim Stichwort „Deklinationen“: „Mein Lateinlehrer hatte, wie er sagte, ein ‚sensibles grammatisches Zahnfleisch‘. In der Zeit, als wir seine Schüler waren, muss er an fortschreitender Parodontose gelitten haben.“ Um Sprache geht es durchweg, und sei es am Beispiel kurioser Missverständnisse. So fürchtet der Junge „Touristen“, da er sie sprachlich mit „Terroristen“ vermengt. Manche fehlerhaften Annahmen wertet der Autor in der Rückschau zu unbewussten Verbesserungen auf, und zwar mit dem wundervollen Satz: „Meine früheren Irrtümer waren erhellender als die Erklärungen, die sie auszuräumen versuchten.“
Es wäre müßig, aus all diesen Beobachtungen, Eindrücken und Schlussfolgerungen ein Fazit zu ziehen. Denn dieser etwas andere Esders kommt weniger theoretisierend als erinnernd daher. Durchgängig ist allein das Bewusstsein des Autors über die Zeitdifferenz als Bruch der Erlebniswelt gegenüber dem heutigen Kosmos aus Film und Netz. Von daher vergewissert er sich erneut vieler in seiner Jugend noch griffiger Objekte und Impressionen: „Unbeabsichtigt ist das Wörterbuch meiner Kindheit auch ein Denkmal der verschwindenden Dinge geworden.“

 

Michael Esders, Tapetenbewohner, Einhundert Expeditionen ins Eigene, Manuscriptum, 140 Seiten, 14 Euro

 

Günter Scholdt (*1946) ist saarländischer Literaturwissenschaftler und publizierte ausgiebig zur deutschen Exilliteratur sowie ein Werk zur Bedrohung des deutschen Fußballbetriebs.

 

 

 


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1 Kommentar
  • Werner Bläser
    15. Oktober, 2024

    Zum Thema von Bernd Ahrbecks Buch “Basteln am Ich”, das ich, ich gestehe, noch nicht gelesen habe; aber die Thematik ist mir durchaus bekannt:
    Ich habe noch die letzten Ausläufer von Prof. Thomas Luckmanns aktivem Universitätsleben in Konstanz kennengelernt, das war Ende der 70iger Jahre, soweit ich mich erinnere. Das ist insofern von einigem Belang, als Luckmann und Peter Berger die beiden Soziologen waren, die mit ihrem wirklich bahnbrechendem Werk “The Social Construction of Reality”, zusammen mit Philosophen wie John Searle oder, auf dem Gebiet der Internationalen Politik, Herrn Wendts Namensvetter Prof. Alexander Wendt (zur Zeit Ohio State Univ., vorher u.a. Yale), zu den Pionieren des geistigen Aufbaus von Umwelten gehörten.
    Nun haben sich sowohl Berger als auch Luckmann fast verächtlich gegenüber den woken Verfechtern der totalen Beliebigkeit geäussert – Luckmanns klares Urteil findet sich noch auf Youtube (“50th anniversary Social Construction”).
    Das Problem ist nicht die Idee als solche. Natürlich bilden Mitglieder von Gruppen und Individuen sich Bilder von sozialen Umwelten. Das reicht von definierten Gruppenzugehörigkeiten bis zur Einbildung eines Irren, dass er die Wiedergeburt Napoleons sei.
    – Der eigentliche ‘casus knacktus’ ist, dass die Konstruktivisten niemals (!) behauptet haben, ALLES sei subjektiv und man könne Realitäten ganz nach persönlichem Gusto definieren, ohne Rücksicht auf objektive Fakten.
    Noch niemals hat ein Toter sich erfolgreich als “lebend” definiert und sich entsprechend verhalten. Und noch niemals hat ein eingebildeter Napoleon neuerlich Moskau erobert.
    Das Problem ist, dass solche nicht unkomplexen soziologischen und philosophischen Theorien von Leuten aufgeschnappt werden, die intellektuell vielleicht in der Lage sind, eine Strasse gründlich zu kehren, aber nicht, um über solche Fragen (die im Grunde auf Platons Höhlengleichnis zurückgehen) zu diskutieren.
    Man mag einwenden, der Wokismus grassiere doch gerade an den Universitäten, also am “Hort der Intellektualität”. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Sachlage zeigt, wie intellektuell verkommen unsere Universitäten, wenigstens die Geisteswissenschaften, heutzutage sind. Die Universitäten sind zu Orten degeneriert, an dem sich Faulenzer, intellektuell unredliche Opportunisten, Sektierer, und ausgesprochene Trottel mit rhetorischem Talent tummeln.
    Eine Art möchtegernintellektuelles Lumpenproletariat, Gaukler, Blender, Täuscher, Trickser, “confidence men”, und schlichtweg arme Würstchen, die mit den Wölfen heulen müssen, wollen sie nicht untergebuttert werden.
    – Diese Leute bestimmen den als intellektuell geltenden Diskurs in unserer kranken Gesellschaft. Sie sehen sich selbst gar als “Elite” – was an Absurdität kaum mehr zu überbieten ist, es sei denn, man dächte bei dem Wort an die “Elite der Lügner und Manipulateure”.
    Kaum ein einer von denen hätte in einem wirklich produktiven Beruf irgend eine Chance. Der Sinnstifterbereich ist ihre einzige Chance auf Erfolg (ich empfehle hier noch einmal aus ganzer Überzeugung Herrn Wendts – unseres Herrn Wendts – Buch zum Thema).
    Das ganze hat, wenn man etwas älter ist, wie ich, nicht zu übersehende Parallelitäten zu den alten Betonkommunisten, die ihre Definitionen der Realität auch über jegliche harte Fakten stellten, bis ihre Köpfe an der Wand dieser Fakten zerschellten.
    – Das Problem: Sie versuchen es immer wieder.
    Einmal gescheitert, glauben sie in ihrem tiefen Glauben nicht an ihr Scheitern, sondern machen Unzulänglichkeiten der Ausführung, oder bösartige Fremdeinwirkung, für ihren Misserfolg verantwortlich. Der Tiefgläubige ist unempfänglich gegenüber Fakten.
    – Und so sehen wir, in modisch-grün aufgemotzter Lackierung, eine Wiedergeburt der alten Kommunismusgläubigkeit in neuer Form. Mit scheinbar neuem Fokus (Klima, Migration), aber die “essentials” tauchen früher oder später auf: die Diktatur der Aufgeweckten (früher: des Proletariats), die feste Ideologie, die Verfolgung von Andersdenkenden, der quasireligiöse Charakter der Bewegung (ich verweise noch einmal auf die luziden Analysen von Raymond Aron zu diesem Thema), die strikte Freund-Feind-Unterscheidung, die Vergötterung der Gemeinschaft zulasten des freien Individuums (Zensurbestrebungen!), und letztlich, hier am verräterischsten, der absolute Hass auf den kapitalistischen Westen.
    Wir müssen uns darüber klar werden: das “Tier” der Dummheit wird niemals sterben – es hat tausend Leben und wird so lange wieder auferstehen, so lange es die Menschheit gibt.
    Wenn wir nachlassen im Kampf dagegen wird es in regelmässigen Abständen aus dem Grab auferstehen und uns heimsuchen.
    Wir sind in unserem Wohlstand fett, faul und gefrässig geworden. Duldsam gegenüber jedwedem Irrsinn. Wir haben Popper in der Versenkung verschwinden lassen (“keine Toleranz für die Intoleranten!”) und Max Frisch (“Biedermann und die Brandstifter”).
    Und jetzt wundern wir uns, dass es um uns herum lichterloh brennt. Wir sind die Biedermänner von Max Frisch.

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